Читать книгу Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders - Страница 13
5
Оглавление»You are listening to DC Rock, home of forgotten classics«, donnert die Senderkennung aus der Stereoanlage des perfekt restaurierten Ford Mustang, der gerade die hitzeglühende Hauptstadt Washington verlässt. Als der Wagen die Hälfte der Brücke über den Potomac River erreicht, wummern die Bässe des Led-Zeppelin-Songs »Ramble On« los und zaubern dem Fahrer ein Lächeln auf das hagere Gesicht.
David McCallan gönnt sich noch etwas Entspannung vor dem Job.
Auf dem gegenüberliegenden Ufer biegt er links auf den George Washington Memorial Parkway, fährt jetzt parallel zum Fluss. Er blinkt und biegt in ein parkähnliches Gelände ab.
Er stoppt an der Kontrolle, zeigt seinen Ausweis, wird durchgewinkt, salutiert mit zwei Fingern an der nicht vorhandenen Uniformmütze und rollt auf das Gelände der Central Intelligence Agency in Langley, Virginia.
Er fährt am alten Headquarter Building vorbei, betrachtet wie jeden Morgen voller Bewunderung eine aufgebockte alte, schwarz schimmernde A-12 Oxcart, liebevoll Blackbird genannt, einen sagenumwobenen Höhenaufklärer, den Nachfolger der U2. Die Maschine hat im Kalten Krieg unzählige Male in schwindelnder Höhe die Sowjetunion überflogen und steht jetzt hier auf ihrer letzten Parkposition. Der Mustang steuert eine Parklücke an, David McCallan, ein hochgewachsener Mann mit einer etwas zu energischen Kinnpartie, schließt den Wagen ab und läuft zu dem grünlich schimmernden Neubau, in dem das Directorate of Operations seinen Sitz hat. Von hier aus werden verdeckte Operationen in fast allen Teilen der Welt gesteuert. CIA-Agent David McCallan eilt mit schnellen Schritten in sein Büro, dreht die Klimaanlage auf Maximum. Über seinem Schreibtisch hängt ein Farbfoto. In einer feierlichen Zeremonie verleiht ihm der Direktor der Agency die Distinguished Intelligence Medal als Dank für seine erfolgreiche Arbeit in Afghanistan.
David McCallan hat Jahre seines Lebens am Hindukusch verbracht, in seinem Kopf lebt er noch immer in dem verfluchten Land.
Zu viele unerledigte Jobs, zu viele Tote.
Er tritt in den Nebenraum, hier sitzen fünf seiner Mitarbeiter vor bläulich schimmernden Monitoren, auf denen Zahlenkolonnen und Bilder von Satelliteneinspielungen zu sehen sind.
»Hallo, Jungs. Mike und Roger kommen mit mir, nehmt bitte die nötigen Unterlagen mit, wir präsentieren heute Operation Troja.«
Die drei verlassen das Büro, marschieren über endlose Gänge und betreten dann einen mittelgroßen, bereits halb gefüllten Konferenzraum. Einige Minuten später betreten der Chef des Directorate of Operations und der Vizechef der Agency den Raum. Die wöchentliche Lagebesprechung des stellvertretenden CIA-Chefs beginnt, heute soll es um neue, ungewöhnliche und langfristig angelegte Operationen mit hohem Risikopotential gehen.
Gegen Ende des Meetings wird Agent David McCallan zur Präsentation gebeten. Er erhebt sich, ist nervös, für ihn geht es heute um viel. Jahrelang schon treibt ihn dieser Plan um, der Tag heute soll den Durchbruch bringen. Wenn er Erfolg hat, kann das Programm endlich legalisiert werden, dann endlich kommt er an dringend benötigte Gelder.
»Mr. Deputy Director, Ladies and Gentlemen, ich darf Ihnen die Operation Troja vorstellen. Wir haben den Namen Troja gewählt, weil es im Kern dieser Operation, wie seinerzeit bei dem berühmten Pferd, um ein vergiftetes Geschenk geht. In der großen Runde hier stelle ich nur die allgemeinen grundlegenden Gedanken vor, danach in kleiner Runde werde ich Details und den aktuellen Stand präsentieren. Ich bin der festen Überzeugung, in Afghanistan, in Syrien, im Irak und in anderen nahöstlichen Gegenden werden wir nur dann erfolgreich sein, wenn wir lernen, so zu kämpfen wie unsere Gegner. Wir alle wissen, was asymmetrische Kriegsführung ist, wir alle haben schon darunter gelitten, haben viel amerikanisches Blut bezahlt. Es ist Zeit, über diese Methoden nachzudenken, sie selber anzuwenden, sie gegen den Gegner zu richten. Der Gegner arbeitet variantenreich, schickt Selbstmordattentäter oder sogenannte Inghemasijun: Kämpfer, die bewaffnet in unsere als gesichert geltenden Stellungen eindringen. Sie unterscheiden sich von einem Selbstmordattentäter grundlegend. Der Inghemasijun wird am Ende vielleicht sterben, aber er muss es nicht. Er muss nur den Kampf möglichst lange durchhalten, die Meldungen einer lang anhaltenden Operation erschüttern die westliche Öffentlichkeit am meisten. Militärische Anlagen können Ziele sein, aber vor allem weiche Ziele schmerzen den Gegner. Der Kampf um das Taj Mahal Hotel in Mumbai dauerte Tage und hielt die Welt in Atem. Bisher waren es immer wir, die unter solchen Operationen zu leiden hatten. Wie häufig ist es den Taliban gelungen, uns in unseren eigenen Stellungen anzugreifen. Wie oft haben scheinbar loyale afghanische Soldaten plötzlich auf unserer Bagram Air Base das Feuer auf unsere Jungs eröffnet – mit zum Teil fürchterlichen Opferzahlen.«
McCallan blickt in die Runde, bemerkt mit Freude, dass sowohl der Vizedirektor als auch der Chef des DO fasziniert zuhören.
»Jetzt naht die Zeit, in der wir diese Art zu kämpfen gegen unsere Feinde einsetzen können. Wir haben ein Programm gestartet, dass uns am Ende des Tages eine Einladung zu einem Meeting der Führungsebene der Taliban bescheren wird. Und wir werden dieses Meeting angreifen. Entweder am Boden oder wir werden dem Drohnenkommando die Koordinaten übermitteln und dann von oben angreifen.«
McCallan erntet ungläubige Blicke und leises Lachen. »Wie zum Teufel wollen Sie an die Koordinaten eines geheimen Treffens der Taliban-Führung kommen? Das ist noch nie gelungen – sonst hätten wir doch längst ein paar Drohnen rübergeschickt.«
McCallan lächelt kühl. »Wir stellen gerade ein Paket zusammen, das für die Taliban so interessant sein wird, dass wir eine Einladung auf Büttenpapier mit Goldrand bekommen werden.«
Wieder raunt die Runde ungläubig.
»Ich werde Ihnen die Details gerne in kleinerer Runde vorstellen. Die Vorbereitungen sind recht weit gediehen.« McCallan lächelt den Vizechef höflich an, wirft dann einen eisigen Blick in die Runde.
Gut die Hälfte der Anwesenden erhebt sich, man wartet, bis sich der Raum gelehrt hat, dann fordert der Deputy Director McCallan auf fortzufahren.
Mitch ist schon früh auf den Beinen, er streift durch das Viertel. Als er an einem der Laufhäuser vorbeikommt, staunt er über einen durchgestylten Mann im Nadelstreifenanzug, der schon morgens um halb zehn das Bordell betritt. »Mann, Mann«, wundert er sich, »morgens um halb zehn, der Typ muss einen gewaltigen Druck haben.«
Einen Moment überlegt er, dem Mann einfach mal zu folgen, aber da sieht er Erwin auf sich zukommen, der einen derangierten Eindruck macht. »Hallo, wir haben uns gestern gesehen, als die beiden Türken Sie niedergeschlagen haben. Wie geht es Ihnen denn? Mein Name ist Mitch Berger, ich bin Journalist, arbeite über das Viertel hier, hätten Sie Lust, einen Kaffee mit mir zu trinken und ein paar Minuten zu reden?«
Erwin betrachtet Mitch wie einen Geist. »Warum nicht, wenn es zu dem Kaffee einen Schnaps gibt?«
Mitch nickt, und so lassen sie sich gleich hier neben dem Laufhaus in einem schäbigen Laden nieder. Erwin schafft es, zwei Kaffee und einen Underberg zu bestellen. Mitch mustert sein Gegenüber, sieht die immer noch geschwollene Lippe, die glanzlosen Augen, die hängenden Tränensäcke, die schütteren Haare. Erwin nimmt die kleine Flasche Underberg, kippt sie auf ex, ignoriert seinen Kaffee, hält die kleine Flasche hoch und bestellt noch eine.
Mitch nickt ihm zu. »Warum hast du die Alte mit dem Kopftuch eigentlich so angemacht? Du musstest doch damit rechnen, dass der Leute zu Hilfe kommen würden.«
»Das mit dem Rechnen ist nicht meine Stärke. Außerdem hasse ich diese Weiber mit ihren Tüchern und Schleiern, so läuft man in Deutschland nicht rum, das ist doch immer noch unser Land.«
Erwin setzt die kleine Flasche hart auf dem Tisch ab, schaut Mitch herausfordernd an. In diesem Moment verlässt der Typ im Nadelstreifen das Bordell, zieht im Rausgehen seine Krawatte gerade, dreht nach links, Richtung Mainzer Landstraße, der Bankenallee. Mitch schaut ihm fassungslos nach.
Erwin stutzt. »Kennst du den Kerl nicht? Den musst du kennen, wenn du über das Viertel schreiben willst: Das ist Brian, ein Banker, der kommt jeden Tag mindestens viermal hierher. Kannst die Uhr nach stellen. Und wenn er zu seiner Bummszeit einen Termin in seiner Bank hat, dann holt er die Nummer nach. Er steht auf Dicke, hat drei Weiber da drin, die er immer wieder besucht, alle drei haben ganz schön was auf den Rippen und mittlerweile ordentlich was im Portemonnaie. Der spinnt, aber das ist halt sein Ding, geht mich nichts an. Und warum interessierst du dich für das Bahnhofsviertel? Willst du schreiben, wie schön bunt hier alles ist, wie toll sich alle verstehen?«
Mitch schlürft seinen labbrigen Kaffee, bestellt einen neuen, obwohl ihn Erwin mit seiner aggressiven Kaputtheit nervt. »Na klar, läuft doch auch alles ganz gut, wenn du nicht gerade Nutte oder Junkie bist.«
Erwin schüttelt sich. »Oder Deutscher. Wir haben hier nichts mehr zu melden, wir sind eine winzige Minderheit, dabei ist das hier verdammt noch mal unser Land. Warum müssen die ganzen frommen Weiber ausgerechnet hier im Bahnhofsviertel rumkriechen? Irgendwann übernehmen die das alles hier, dann werden die Bordelle zugemacht, die Bars geschlossen, und wir können alle beten gehen. Und die blöden Deutschen schauen zu und staunen plötzlich, wie schnell das gegangen ist.«
Mitch kratzt sich am Kopf, überlegt, ob er kontern oder Erwin einfach weiter fluchen lassen soll. Mitch will kapieren, wie Erwin tickt, also hält er den Mund und bestellt noch einen Kaffee und für Erwin den dritten Underberg, was dessen Mitteilungsbedürfnis noch weiter antreibt. »Ich habe neulich von dieser Rasta-Rakete gelesen, von dieser Kapitänin, die jetzt alle so lieben. Die meint, wir müssten auch alle Neger, denen es zu Hause zu heiß wird wegen dem Klima, die müssten wir auch alle aufnehmen. Und jeder, der im Wasser liegt, den muss sie rausholen und hierher bringen. Die Frau spinnt doch. Willst du in diesem Land noch ein paar Millionen Schwarze mehr haben? So viele Dealer braucht kein Mensch. Was soll das, warum alle zu uns? Warum hilft mir kein Amt? Kein niemand, aber den Schwarzen und den Moslems stecken sie es hinten rein.«
Mitch wird langsam, aber sicher sauer. »Du brauchst doch kein Amt. Du hast doch den alten Steinhoff, der hilft dir doch, oder?«
»Lass den Steinhoff aus dem Spiel, er ist ein guter Kerl, der keinem mehr was tut. War früher ein harter Junge, aber das ist lang her.«
»Und was ist mit Benno Stiller? Auch ein Freund von dir?«
Erwin erschrickt, schaut sich um. »Über Benno solltest du nicht auf der Straße reden, vor allem nicht hier, der Verwalter von dem Haus da«, Erwin zeigt auf den Puff gegenüber, »ist ein Kumpel von Benno. Du hast ja wirklich keine Ahnung.«
Beide schweigen einen Moment. Dann funkelt Erwin Mitch an. »Sag mal, du Journalist, wo wohnst du eigentlich?«
»Was spielt das für eine Rolle? Im Nordend.«
Erwin stößt ein höhnisches Gelächter aus. »Wusste ich doch. Da leben doch alle, die uns hier sagen, wie wir denken sollen. Da wohnt kein Araber, da wohnt kein Schwarzer, ist leicht, da ein guter Mensch zu sein. Ich kenne viele von denen, auch wenn du mir nicht glaubst, ich war ja mal auf der Uni. Aber wenn ich heute einen meiner Freunde von damals treffe, dann kennt der mich nicht, dann geht der auf die andere Straßenseite. So ist das mit den Reichen, keine Ahnung haben, aber arrogant. Du hast noch nie von einem schwarzen Dealer aufs Maul gekriegt, dir hat noch nie ein Araber erzählt, dass er dich absticht, wenn du noch mal seine Frau anschaust.«
Mitch staunt über Erwins Ausbruch, aber er ärgert sich auch über dessen Tiraden. »Weißt du, wie du klingst, Erwin? Wie der beschissene Rentner, der neulich in Wächtersbach, nachdem er zwei Bier getrunken hat, einfach mal so beschlossen hat, in der Mittagspause einen Afrikaner umzulegen. Und das hat er auch fast geschafft. Mann, aus dir tönt doch nur Wut. Du könntest bei Pegida auftreten. Die würden dir zujubeln. Aber deine Wut hat ja gar nichts mit irgendwelchen Arabern oder Schwarzen zu tun, das weißt du doch auch. Ich bin mir sicher, du warst schon wütend, bevor Angela Merkel die Tür aufgemacht hat.«
Erwin blickt Mitch an, plötzlich wie abwesend. Dann schüttelt er den Kopf. »Du hast echt keine Ahnung. Darf in deiner Story ein Deutscher vorkommen?«
»Aber hallo, ja doch. Ich hoffe, mehr als einer.«
»Dann komm mit, ich will dir was geben. Schreib über mich. Vielleicht bist du ja wirklich ein ehrlicher Kerl.«
»Wohin soll ich mitkommen?«
»Zu mir, ist gerade hier um die Ecke.«
Mitch überlegt kurz, dann zahlt er, steht auf und folgt Erwin, der zielstrebig die nächste Querstraße ansteuert.
Sie keuchen fünf Stockwerke nach oben, Erwin öffnet die zwei Türschlösser, und Mitch betritt Erwins völlig unaufgeräumte Küche.
»Hallo, das sieht ja fast wie bei mir aus.«
Mitchs Blick fällt auf Erwins Schreibtisch und die Pinnwand darüber und bleibt auf einer rausgerissenen Seite der BILD mit einem Foto des Wiesbadener Mörders Ali Bashar hängen. »Mann, häng dir doch nicht so einen beschissenen Killer in deine Wohnung, das macht Alpträume und schlechtes Karma.«
Dann blickt er in Erwins Schlafzimmer, zeigt auf das Taxi-Driver-Plakat. »Wow, du hast das Originalplakat! Geiler Film, aber komm bloß nicht auf die Idee, die Nummer nachzumachen. De Niro war deutlich fitter als du. Da würdest du nicht weit kommen.«
»Reg dich ab! Ich habe noch nie in meinem Leben eine Knarre angefasst, ich würde auch nie in der Mittagspause nach Wächtersbach fahren.«
Mitch zeigt auf de Niro. »Aber du träumst davon?«
»Träumst du nicht?«
Dann winkt Erwin Mitch in die Küche. Er zeigt auf das Regal mit den Kladden. »Hier, die leihe ich dir, mein Leben, meine Tagebücher. Erzähl meine Geschichte, aber sei fair. Hier sind die Bücher, Nummer 1 bis 14. Mach was draus, wenn du ein richtiger Journalist bist.«
Mitch blickt Erwin überrascht an, ist überwältigt von dem völlig unerwarteten Angebot. Er kramt in seiner Tasche, fischt eine Visitenkarte aus seinem Geldbeutel, reicht sie Erwin. »Mann, jetzt bin ich sprachlos, ich danke dir. Wenn du es dir anders überlegst, ruf an, ich bin mobil fast immer erreichbar.«
Ibrahim hat sich sorgfältig angezogen, sein Kaftan ist makellos weiß, statt der üblichen farbigen Sneakers trägt er dunkle Lederschuhe. Er hat heute einen großen Auftritt. Er ist von einer größeren Moschee eingeladen worden, vor jüngeren Gläubigen zu sprechen. Die Einladung ist eine Anerkennung. In der muslimischen Community beginnt man, ihn als Prediger zu akzeptieren. Auch Enis, der von dieser Einladung erfahren hat, ist unter den Zuhörern. Zum ersten Mal sieht er jetzt den angeblich neuen Star der Salafistenszene.
Ibrahim wird umringt von der kleinen Schar seiner Anhänger, seine Gedanken aber sind plötzlich zurück in der Heimat. Er erinnert sich an seine Angst, als ihn der Onkel in die Schule der Ungläubigen brachte. Er war damals noch fast stumm, tief geschockt vom Tod seiner Eltern. »Du musst viel lernen«, hatte ihm der Onkel gesagt. »Du wirst deine Eltern rächen eines Tages, aber dafür musst du viel lernen. Denn die Mörder deiner Eltern sind mächtige Männer. Um sie zu besiegen, musst du lernen, und lernen kannst du am besten hier bei den Ungläubigen. Allah wird dich beschützen. Du sollst ihre Sprache lernen und ihre Technik, aber nicht ihre falsche Religion. Allah wird dich schützen, mein Kleiner.« Dann ging der Onkel, und Ibrahim blieb zurück in einer ihm völlig fremden Welt. Aber er tat genau das, was man ihm gesagt hatte, er war fleißig, er war stumm, und nachts plagten ihn Albträume.
Ibrahim schüttelt die Gedanken ab, reckt sich und reagiert mit Ehrerbietung, als ein älterer Herr vortritt, ihn ausgesucht höflich begrüßt und ihn bittet, das Wort an die Jugend zu richten.
Gut sechzig Personen sind versammelt, die überwiegende Mehrheit junge Männer. Ibrahim weiß, dass er hier ganz anders auftreten muss als in der kleinen Garagenmoschee. Kein Wort über den Jihad, kein Wort über die Vernichtung des Westens.
»Verehrte Muslime! In Seiner Barmherzigkeit zeigt uns Allah, wer unser Freund und wer unser Feind ist. Im Koran heißt es: Satan ist wirklich euer Feind. So betrachtet ihn auch als Feind. In der heutigen Zeit und vor allem hier in den westlichen Ländern ist es leider manchmal nicht so leicht, den Satan zu erkennen. Er kann sich verkleiden, er kann verführerisch daherkommen. Er kann lange blonde Haare haben und eine schöne Frau sein. Ein Freund von mir kam eines Tages zu mir und beklagte sich bitterlich über seinen Vater. Er hatte seinem Vater gestanden, dass er sich in eine deutsche Frau verliebt hatte und sie heiraten wollte. Der Vater war außer sich, fragte den Sohn, ob er seine Kinder mit Schweinefleisch und Weihnachtsbäumen aufziehen wolle. Der Vater verfluchte seinen Sohn, und der suchte jetzt meinen Rat.«
Ibrahim macht eine längere Pause, um so die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu steigern. »Bruder, was ist los mit dir, habe ich ihn gefragt. Du solltest dir keine Gedanken machen, was dein Vater zu einer deutschen Freundin sagt, du solltest dich lieber fragen, was Allah davon hält. Wir haben so oft zusammen gebetet, und jetzt willst du eine Frau heiraten, ohne dich zu fragen, ob sie dich näher zum Paradies bringt? Mein Freund begann zu zetern, betonte wieder und wieder, wie sehr er diese Frau lieben würde. Ich erinnerte ihn daran, dass Liebe und Sexualität Waffen des Teufels sein können. Liebe ist vergänglich, erst im Paradies wirst du wirkliche Liebe finden. Für immer. Du wirst zweiundsiebzig Jungfrauen genießen, wirst glücklich sein. Hier auf Erden aber musst du eine Frau finden, die dich näher zu Gott bringt, eine, die nicht fremdgeht, eine, die nicht ihre Reize zur Schau stellt. Eine Frau, die es verdient, die Mutter deiner Söhne zu sein. Ich habe meinem Freund nicht geraten, die Deutsche aufzugeben, aber ich habe ihm geraten, sie mit in die Moschee zu bringen, wo die Schwestern schon wissen, wie sie mit ihr reden müssen. Auch eine Deutsche kann eine gute Ehefrau werden, aber nur wenn sie erkennt, dass der Islam der Weg ist. Es ist egal, aus welchem Land du kommst, es geht um Glauben, es geht um Gott. Bring sie mit, die Schwestern werden mit ihr reden.«
Langsam führt Ibrahim seine Rede zu Ende. Er spürt intensiv, dass er den Respekt der Älteren durch eine sanfte mahnende Rede gewonnen hat und dass er die Jungen gepackt hat, weil er ein Thema gewählt hat, das ihnen unter den Nägeln brennt.
Enis versucht, nach dessen Rede in Ibrahims Nähe zu kommen, der aber wird von seinen Anhängern abgeschirmt. Im Kreis der jugendlichen Fans sieht er jedoch einen jungen Türken, dessen verstorbenen Vater Enis gut gekannt hat. Er meint sich an den Namen des Jungen zu erinnern: Ahmed. Ibrahim verlässt mit seinem Gefolge die Halle.
Enis ist zufrieden, er weiß jetzt, wie er an Ibrahim herankommen kann.
Benno Stiller hat heute unverschämt gute Laune.
Den Besuch der Kommissarin hat er abgehakt, er hat ausführlich geduscht, sich eine Extraportion Gel in sein schwarz gefärbtes Haar gerieben und ordentlich Parfum aufgelegt. Jetzt sitzt er bestens gelaunt hinter seinem etwas überdimensionierten Chefschreibtisch. Er trägt ein tailliertes dunkles Hemd, das seine Halbschwergewichtsfigur zur Geltung bringen soll. Und zur Feier des Tages hat er sich schon am frühen Nachmittag einen Jack Daniels auf Eis gegönnt.
Das Gespräch mit Carl Steinhoff hätte nicht besser laufen können. Fünf Millionen, was für eine sensationelle Aussicht. Die Tatsache, dass zwischen ihm und diesen fünf Millionen immer noch eine Moschee und der alte Steinhoff stehen, lässt ihn kalt. Endlich eröffnet sich ihm die Chance, auf die er seit Langem gehofft hat.
Während seiner Zeit bei der Polizei konnte er mit Informationen ordentlich Kohle machen. Er hatte nie ein schlechtes Gewissen dabei, Leute wie die Hells Angels standen ihm immer näher als liberale Politiker ohne Eier in der Hose. Aber die Polizeizeit liegt schon weit zurück. Da er merkt, wie sein Einfluss nachlässt und der Respekt, der ihm entgegengebracht wird, abnimmt, ist es jetzt für ihn höchste Zeit, seine Altersvorsorge zu sichern. Die paar Wohnungen, die Benno im Viertel besitzt, reichen nicht aus, um seine goldenen Träume zu finanzieren. Dass sich Carl Steinhoff jetzt komplett in seine Hände begibt, ist seine Chance. Er wird sie nutzen.
Er braucht einen Profi, einen Mann für die ganz harten Jobs. Und am besten wäre es, wenn dieser Jemand möglichst wenig Ahnung von den Frankfurter Verhältnissen hätte. Wenn es sich rumspricht, um welche Summe hier im Viertel gespielt wird, kommen die Leute auf die komischsten Ideen.
Benno Stiller hat einige Absagen bekommen, noch beunruhigt ihn das nicht. Er hatte als Erstes eine rechte Motorradgang aus Mannheim angerufen, aber bei dem Thema Moschee bekamen die Kuttenträger lange Zähne. Allenfalls ein Brandanschlag sei drin. Als Benno Stiller den Mannheimern erklärte, dass daran nicht zu denken sei, sagten sie ab. Jeder denkt bei Brandstiftung sofort an ein Immobiliengeschäft, ist doch leicht zu verstehen. Besonders wenn kurz danach das Gebäude verkauft wird. Nein, Bennos Gedanken gehen in eine ganz andere Richtung. Es muss etwas sein, das um ein Vielfaches schlimmer ist als ein Feuer. Benno weiß nur zu gut, wie die Polizei tickt. Wenn von Anfang an ein bestimmter Verdacht im Raum steht und ein bestimmtes Dezernat mit den Ermittlungen betraut ist, dann segelt die ganze Ermittlung in eine Richtung und alle anderen Möglichkeiten bleiben außen vor.
Benno kennt die Frankfurter Polizei gut, er fürchtet das Morddezernat und das Wirtschaftsdezernat. Die beiden muss er außen vor halten.
Da klingelt sein Handy.
»Benno hier«, er steckt sich eine Zigarette an. »Mensch, super, dass du zurückrufst. Drago, ich brauche einen absolut zuverlässigen Freiberufler für einen Job in Frankfurt, vielleicht werden es auch zwei Jobs. Wird auf Bundesliganiveau bezahlt.«
Er lacht, hört dann schweigend seinem Bekannten aus Belgrad zu. »Echt, da war der dabei? Okay, Drago, der wäre perfekt. War der in letzter Zeit im Knast oder hatte sonstigen Ärger mit Polizei oder Diensten? Check ihn bitte und melde dich. Danke, hast einen gut.«
Benno mag Jugos wie Drago. Sind harte, verlässliche Typen, die auch mal ein verschärftes Verhör wegstecken. Die sind von Hause aus eine so heftige Gangart gewöhnt, die finden die deutsche Polizei eher niedlich.
Da fällt ihm Bill Costello ein. Ein undurchsichtiger Ami, ein Geschäftsmann, dem man nachsagt, er habe Verbindungen sowohl zur Mafia als auch zu amerikanischen Diensten. Für Benno Stiller eine klare Empfehlung. Ein Mann mit vielfältigen Kontakten ist genau das, was er jetzt braucht. Er erreicht nur die Sekretärin, macht ein Treffen für den nächsten Tag um 21 Uhr in Fleming’s Bar aus.
Benno gießt sich ein neues Glas Jack Daniels ein, legt Eiswürfel nach. Er lächelt friedlich, träumt von einem neuen fetten Motorboot, mit dem er die Damenwelt an der Marina von Palma de Mallorca beeindrucken wird.
Äußerlich wirkt David McCallan völlig entspannt, als er das Büro des Directors of Operations verlässt. Der Boss hatte ihn nach der internen Präsentation im Beisein des Vizechefs der CIA noch in sein Büro gebeten, in dem er dem Agenten McCallan unmissverständlich klargemacht hat, dass er aufhören soll, seine unmittelbaren Vorgesetzten für dumm zu verkaufen. Der Direktor hat McCallan vorgerechnet, dass er bisher gut 1,8 Millionen Dollar ohne Genehmigung in ein offiziell nicht existentes Projekt gesteckt hat. Schließlich machte er McCallan klar, dass Einsatzbefehle für sogenannte PMOOs, Paramilitary Operation Officers, also für die hochausgebildeten Einzelkämpfer des CIA, nur vom Direktor, aber auf keinen Fall von McCallan angeordnet werden dürften.
Nach diesem Anpfiff aber hatte der Direktor ihm seinen Respekt für die Zähigkeit, den Mut und die Ausdauer ausgedrückt, herausragende Eigenschaften, mit denen McCallan seinen Plan vorantrieb.
Als McCallan dann nach dem gut halbstündigen Gespräch alleine auf dem Gang steht und erst einmal Luft holt, wird ihm klar, wie knapp er gerade gewonnen hat.
Verdammt, schon seit gut zehn Jahren verfolgt er einen Plan. Er will sich an Afghanistan rächen, er hasst das Land und die verfluchten Taliban aus tiefster Seele. Zu viel Grausames hat er hier erlebt. Zwei Mitglieder eines von ihm geleiteten CIA-Kommandos, beides seine Freunde, wurden gefangengenommen und erst Wochen später gefunden, geblendet und mit üblen Folterspuren am ganzen Körper. Er hat verwüstete Dörfer gesehen, hat Türen von Häusern eingetreten, nur um in ihnen Leichen von Frauen und ihren Kindern zu finden. Und er fühlt sich bis heute schuldig für einen von ihm angeforderten Bombenangriff, bei dem der Pilot mit den Zielkoordinaten durcheinanderkam und ein befreundetes Dorf angriff – mit fürchterlichen Folgen. Eine offizielle Untersuchung wurde eingestellt, 32 Tote wurden unter »Kollateralschaden« abgelegt. Aber er hat das verdammte Dorf immer noch im Kopf. Seitdem lässt ihn ein Gedanke nicht mehr los: Wir dürfen nicht mit technischer Überlegenheit von oben angreifen und viel zu oft die Falschen treffen, wir müssen, wie die Taliban, von innen kommen.
Und dann, vor über zehn Jahren, begegnete er einem kleinen hochbegabten Waisenkind in der amerikanischen Schule in Kabul.
Als er mit dem tief traumatisierten Jungen sprach, wusste er plötzlich, wie es gehen könnte – mit auf lange Strecken angelegten Operationen, der hohen Schule der geheimen Arbeit. David McCallan nahm den Jungen unter seine persönlichen Fittiche, um mit ihm an seinem Meisterwerk zu feilen.
Immer noch tief in Gedanken versunken, betritt er jetzt die Operationszentrale seiner Einheit, stellt sich hinter Agent Roger Taylor, der grüblerisch zwei Monitore beobachtet. Auf dem einen Bildschirm flirren körnige und unscharfe Bilder einer afghanischen Berglandschaft, auf dem anderen sieht er ein gestochen scharfes Satellitenbild der Stadt Frankfurt am Main, Germany. Taylor dreht sich auf seinen Stuhl herum. »David, wie ist es gelaufen, können wir durchstarten?«
»Verdammt, Roger, eine echt gute Frage. Aber du solltest mittlerweile wissen, dass die CIA klare Antworten hast. Wir haben ein vorläufiges Go, mit Einschränkungen zwar, aber wir haben ein Go! Wir können Gelder ausgeben, wir haben einen eigenen Etat, allerdings ist die Zeit der vollständigen Eigenständigkeit vorbei. Sie haben uns eingefangen, aber den langfristigen Plan bestätigt. Wir haben sogar bedingten Zugriff auf 20 Mann Special Forces, wenn es zurück in die alte Heimat Afghanistan geht.«
Roger Taylor, ein begeisterungsfähiger junger Mitarbeiter, sieht einen grandiosen Sieg für McCallan und sein streng geheimes Projekt. Er strahlt seinen Chef an, macht breit grinsend ein Victoryzeichen.
McCallan beschwichtigt: »Kein Grund zu feiern, Roger. Alle Einsätze von PMOOs und alle Einsätze, bei denen in verbündeten Ländern Menschen zu Schaden kommen könnten, bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Director of Operations. Das ist besonders für unseren deutschen Plan schlecht. Da werden wir tricksen müssen, unser Mann braucht einen Erfolg, einen großen Erfolg. Dann kann er bald zurück in die Heimat. Mit Gefolge und großem Tamtam. Wir werden Afghanistan einen neuen Helden schenken, an dem die Taliban nicht vorbeikommen. «
McCallan lässt sich erschöpft in einen Sessel fallen und bittet den Kollegen, ihm einen Kaffee zu bringen. »Und, Roger, dann bestellen Sie bitte eine sichere Leitung und holen mir den Frankfurter Station Chief ans Telefon. Danke.«
Mitch hat Erwins 14 Kladden in zwei Plastiktüten gepackt und ein Taxi gerufen. Er hat keine Lust, mit diesem Gepäck in der U-Bahn zu sitzen. Er ist immer noch völlig überrascht über Erwins Reaktion. Das Gespräch war gekippt, nachdem er zu Erwin gesagt hatte, dessen Wut habe nichts mit Afrikanern oder Arabern zu tun, sondern müsse viel älter sein. Hatte er damit ins Schwarze getroffen? Auf jeden Fall sind diese Tagebücher ein Schatz. Hofft er zumindest. »Verdammt, kann natürlich auch sein, dass da einfach lauter Alkoholprosa drinsteht«, murmelt er, als er ins Taxi steigt.
In seiner Wohnung angekommen, macht er sich einen Espresso, wirft die Kladden auf seinen Schreibtisch und beginnt zu blättern. Mitch greift ohne besonderen Grund zur Kladde Nummer 6 und beginnt zu lesen.
Ich fühle mich verloren an der Uni. Niemand sagt mir, wohin, wann, was und warum. Ich lasse mich in den langen Gängen treiben, immer mit einem leichten Gefühl von Abwesenheit. Ich habe das Gefühl, in dem ganzen Studentengewusel immer kleiner und stummer zu werden. Ich werde nicht mehr in die Mensa gehen, unerträglich die Cliquen, die da glücklich kichernd an einem Tisch sitzen. Ich starre vor mich hin, bin so in mir selbst versunken, dass, wenn sich tatsächlich mal jemand neben mich setzen möchte, ich auf die Frage, ob der Platz frei ist, mit einem sinnlosen Stottern antworte.
Ich denke noch häufig an die Nacht nach der fürchterlichen Feier, aber nicht an die demütigenden Witze. Das Schönste war die unendliche Erleichterung in meinem Kopf, als ich die Frontscheibe des Porsches zum Platzen gebracht habe. Ich habe losgelacht und dann wie ein Irrer gegen das Auto getreten, immer, immer wieder. Erst mit der Zeit kam die Angst, entdeckt zu werden, und ich rannte um mein Leben. Aber auch diese Flucht war voller Glück. Ich ließ mich erschöpft auf eine Bank fallen. Wie leicht es war, diese Scheibe einzuschlagen! Wäre es denn genauso leicht, dem Alten eine Flasche über den Schädel zu ziehen?
Dann wankte ich nach Hause in unsere Siedlung am Rand von Frankfurt. Ich öffnete ganz leise die Wohnungstür, auf keinen Fall wollte ich die Eltern wecken. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel meines Vaters, der mir empfahl, das Studium sofort zu beenden, er habe eine tolle Stellung bei der Stadt für mich im Auge. Eine unvergesslich lange Sekunde spürte ich ganz klar den Entschluss in mir, ihn auf der Stelle zu erschlagen. Dann sah ich ein Licht angehen im elterlichen Schlafzimmer, ich sprang angezogen in mein Bett, löschte das Licht, und als sich knarrend die Tür meines Zimmers einen Spalt öffnete, stellte ich mich schlafend. Ich hörte den Vater atmen, dann schloss er die Tür. Ich weinte in mein Kissen und spürte genau, ich würde es nie schaffen, die Hand gegen ihn zu erheben.
Verflucht, Mitch merkt, dass er sich in dem Text verliert. Er fühlt plötzlich Mitleid mit Erwin. Was für ein todtrauriges Leben. Mitch denkt laut vor sich hin: »Kein Wunder, dass der Mann voller Hass und Wut steckt, was für eine Scheißjugend. Was aber auch heißt, dass Erwin jederzeit explodieren kann. Wie diese Typen, die sich plötzlich bis aufs Blut prügeln, weil ihnen jemand den Parkplatz weggenommen hat. Wenn ein Kerl immer das Gefühl hat, benachteiligt zu sein, nicht ernst genommen zu werden, dann können bei dem plötzlich ohne großen Anlass alle Sicherungen durchbrennen. Niemand kann so eine Aggression auf ewig wegdrücken!«
Mitch ist aufgesprungen, läuft in seiner Küche auf und ab und murmelt: »Also entweder hat Erwin Krebs, weil er all die Scheiße immer geschluckt hat, oder er läuft demnächst Amok im Viertel und ballert Flüchtlinge ab.«
Mitch schüttelt sich, gießt sich ein kleines Glas Rotwein ein, greift wieder nach den Kladden, nimmt die Kladde 10.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren schreibe ich wieder in dieses Buch. Längst bin ich zu Hause ausgezogen, lebe in einer kleinen Butze im Gallus. Die Uni ist Geschichte. Ich verdiene Geld als Taxifahrer, fahre häufig nachts, habe das Bahnhofsviertel schätzen gelernt. Wenn es mich überkommt, ziehe ich durch die Laufhäuser, ansonsten sitze ich mit anderen Fahrern beim Griechen oder ähnlichen Nachtkneipen in der Moselstraße, esse Döner und trinke Bier. Mein Studentenleben ist längst vorbei, der Traum, ein Recht auf Glück zu haben, ist ausgeträumt. Ich muss aufpassen, ich trinke viel, habe beim Fahren immer eine Flasche Wodka im Auto. Vor zwei Wochen hatte ich einen Albaner auf dem Beifahrersitz. Normalerweise sitzen die Gäste bei mir hinten, der Typ aber wollte unbedingt nach vorne. Der Mistkerl hat die Wodkaflasche gesehen, und als es ans Zahlen ging, lachte er nur, meinte, er würde nichts zahlen, aber die Bullen holen, ich würde besoffen fahren. Er stieg aus, zeigte mir den Stinkefinger und ging. Seitdem habe ich eine Abneigung gegen Ausländer. Es gibt eine Menge Typen, die sich in ein Taxi mit einem deutschen Fahrer setzen, nur um zu zeigen, dass sie die Kings mit Geld sind. Ich kenne sie alle: fette türkische Dealer, Jugo-Zuhälter, Goldkettchen aus Afrika, immer auf der Suche nach einer naiven Vorstadtschlampe, Typ Nagelstudio. Im Rückspiegel sehe ich sie mit ihren Hundertern spielen, manche nehmen ungeniert Koks oder Chrystal im Wagen. Einmal auf einer Fahrt nach Offenbach habe ich eine Vollbremsung gemacht, als sich ein Bimbo auf dem Rücksitz einen fetten Joint ansteckte und meine Karre verqualmte. Ich riss die Tür auf, brüllte ihn an, er solle aussteigen, und hatte im selben Moment eine knallharte Gerade im Gesicht. Er schrie, ich solle wieder einsteigen und die Finger vom Funk lassen. In der Nähe des Offenbacher Marktplatzes stieg er aus, und ich alarmierte ein paar Kollegen. Wir kontrollierten die Straßen, bekamen ihn aber nicht zu Gesicht. Dafür machten zwei Kollegen Jagd auf einen schmächtigen Eriträer, dem sie zwei Vorderzähne ausschlugen. Was läuft der auch nachts ziellos durch die Stadt.
Mitch gießt sich noch einen Roten ein. Er fühlt sich schlecht und weiß doch, dass er den Abend lesend verbringen wird. Er wird die nächsten Stunden lernen müssen, Erwin auszuhalten. Nicht gerade leicht.
Mitch macht sich Notizen, tippt immer wieder Anmerkungen in seinen Laptop. Erwin hat Lehrer studiert, hat sich einmal in eine linke Studentin verliebt und in der Folge mit den Linken sympathisiert. Die Beziehung hält nicht lange, auch einen Abschluss hat er nie geschafft. Erwin hat schon während der Uni jahrelang als Taxifahrer gejobbt. Er arbeitet nachts, beginnt heftig zu trinken. Rutscht ab, bekommt mit, dass viele seiner ehemaligen Freunde irgendwann die Kurve kriegen, Examen machen und langsam ein bürgerliches Leben beginnen. Er aber fährt weiter Taxi, trinkt.
Immer wieder sieht und trifft er im kleinen Frankfurt Bekannte aus den Unitagen. Er hasst und verabscheut das klemmige Mitleid, das ihm bei solchen Begegnungen entgegenschlägt. Als es mit ihm weiter nach unten geht, wird aus Mitleid Wegsehen.
Er baut betrunken einen Unfall, verliert den Job und die Taxilizenz. Er rutscht weiter ab, trinkt jetzt schon tagsüber am Wasserhäuschen. Dort passt er sich den Sprüchen seiner Trinkkumpane an, wandelt sich vollends zu einem Rechten.
Mitch könnte kotzen. Was für eine deprimierende Geschichte. Aber er weiß auch, dass da draußen verdammt viele Erwins herumlaufen.
Er steht auf, will auf andere Gedanken kommen, schaltet die Glotze an, sieht in der Tagesschau, wie US-Präsident Trump die überwiegend schwarze Stadt Baltimore als Rattenloch beschimpft. »Halt’s Maul, Donald, ich habe gerade deinen Wähler Erwin kennengelernt, mir reicht es für heute. Halt einfach die Klappe!«