Читать книгу Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders - Страница 12

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Es gibt einen Teil des Viertels, da scheinen die Veränderungen noch weit weg zu sein. Hier macht niemand Party, hier wird ernsthaft Geld verdient, und das heißt in dieser Gegend: Hier wird gevögelt und gedealt. Ein Block voller Laufhäuser, alles wirkt leicht vergammelt, alles hat schon bessere Zeiten gesehen. Gerade an heißen Sommertagen wie jetzt wirken die Gesichter der Frauen noch leerer, noch angestrengter. Freudlose Freudenhäuser, vollgestopft mit Damen aus aller Herren Länder, die auf ihre genauso freudlosen Freier warten. Nichts atmet mehr den scheinbaren Luxus der alten Etablissements, selbst ein Laden wie die Sauna 2000 war ein glitzernder Tempel der Lust im Vergleich zu den heutigen Legebatterien der Prostitution.

Erwin, die Nase immer noch ein wenig blutverschmiert, läuft achtlos an den Laufhäusern vorbei, die schreiende Reklame für Peepshows und Tabledance bemerkt er nicht. Er passiert jetzt einen städtischen Druckraum, vor dem Trauben von Crack- und Chrystal-Meth-Usern auf Nachschub hoffen. Manchmal kommen hier auch tagsüber Anzüge aus den umliegenden Hochhäusern vorbei und setzen sich in der Mittagspause einen cleanen Schuss Heroin. Jetzt aber, gegen Abend, ist hier nur noch der harte Kern zugange, Langzeit-Junkies, viele von ihnen konsumieren die merkwürdigsten Drogencocktails, fertige Gestalten, die nie wieder den Weg in ein Leben ohne Drogen finden werden.

In dieser Ecke des Viertels hat Erwin das große Los gezogen und eine bezahlbare kleine Dachwohnung gefunden. Die Miete verdient er sich durch Gelegenheitsjobs für den alten Steinhoff. Er keucht beim Treppensteigen, der Weg auf ausgetretenen Holzdielen in den fünften Stock zieht sich.

Erwin öffnet mühsam die Tür, hier sind zwei Schlösser das Minimum, und steht dann in einem düsteren Flur, von dem aus zwei Türen abgehen, eine in die Wohnküche, die andere in sein Schlafzimmer. Als Erstes öffnet Erwin ein kleines Fenster in der Küche, in der Ferne sieht er die Nordseite des Hauptbahnhofs.

Auf dem Boden steht eine ansehnliche Flaschenbatterie, in der Spüle warten Geschirr und Tassen darauf, bald gesäubert zu werden. Ganz im Gegensatz zu diesem Chaos steht die Ordnung auf einem kleinen Schreibtisch in der Ecke des Raums. Links neben dem Schreibtisch hängt ein leicht schiefes Regalbrett, auf dem etwa fünfzehn abgewetzte Kladden stehen. Die Wand, auf die der Benutzer des Schreibtischs blickt, ist über und über mit Zeitungsartikeln beklebt. Es sind meistens Titelseiten der BILD mit Artikeln über Verbrechen von Flüchtlingen. »Wieder eine Vergewaltigung in Freiburg«, schreit eine Schlagzeile, links daneben ein Titelblatt mit dem Foto des teilnahmslosen Gesichts von Ali Bashar, dem Mörder der vierzehnjährigen Susanna in Mainz. »Polizei versagt, Behörden versagen«, heißt hier die Überschrift. In die Nasenwurzel des jungen Irakers hat jemand einen Dartpfeil gebohrt. Daneben ein stimmungsvolles Foto aus der FAZ, ein auf der Straße liegendes Foto des zarten Gesichts von Susanna, umrandet von verwelkten Blumen.

Der Schreibtisch ist leer – bis auf einen schwarzen Kugelschreiber und eine schwarzweiß gemusterte Kladde. In das weiße Fenster auf der Vorderseite der Kladde ist mit einem dicken Filzstift die Nummer 15 vermerkt.

Erwin öffnet den uralten Kühlschrank und holt eine kalte Dose Bier heraus. Er trinkt die Hälfte des Inhalts auf einen Zug, stöhnt wohlig, zieht sein Hemd aus, geht in das winzige Badezimmer und betrachtet seine geschwollene Nase. Er hält die kalte Dose gegen die Schwellung und spürt Erleichterung. Er kippt den Rest der Dose ab, holt sich eine neue aus dem Kühlschrank, flucht, weil nur noch drei Dosen da sind. Er wird noch mal runter müssen.

Aus einem sehr klapprig wirkenden Schrank im Schlafzimmer holt er sich ein frisches T-Shirt. Das gebrauchte Hemd wirft er achtlos auf das nicht gemachte Bett, dessen Wäsche dringend gewechselt werden müsste. Das Zimmer riecht muffig, Erwin öffnet das schmale Fenster. Über dem Bett hängt ein altes Filmplakat, eine Rarität, das Original Taxi-Driver-Plakat aus den USA. Robert de Niro, die Hände tief in den Taschen seiner Windjacke, läuft mit hochgezogenen Schultern über einen Zebrastreifen in New York, im Hintergrund wirbt ein Billboard für Adult Movies XXX. De Niro als Taxi Driver, der den Dreck der Großstadt nicht mehr aushält, der seinen Körper stählt und sich mit Waffen eindeckt, um das Böse zu erledigen, dominiert Erwins Schlafzimmer. Erwin öffnet ein weiteres Bier, setzt sich dann an den Schreibtisch in der Küche und öffnet die Kladde Nummer 15.

Er nimmt den Kugelschreiber und beginnt sorgfältig zu schreiben.

Heute ist es wieder passiert, zwei arabische Schläger haben mich grundlos auf einer Straße meiner Heimatstadt niedergeschlagen, und es gab niemand, der auch nur versucht hätte, mir zu helfen. Alles, weil ich einer Alten das Kopftuch weggehauen habe. So weit sind wir schon gekommen. Vor wenigen Jahren noch hätte sich ein deutscher Türsteher eingemischt und den Arabern eine aufs Maul gehauen. Wo leben wir eigentlich, was für ein Land erlaubt Zugezogenen, die eigene Bevölkerung zu belästigen? Billige Arbeiter aus den Hungerleider-Ländern strömen zu uns, wir Einheimische werden Jobs, Wohnungen und Frauen verlieren. Wir müssen uns wehren, aber wie?

Abrupt steht er auf, holt das vorletzte Bier aus dem Kühlschrank. Wieder geht er ins Bad, wieder drückt er die kalte Dose gegen seine lädierte Nase.

Dann betrachtet er sich in dem matten Spiegel. Was er sieht, gefällt ihm nicht, er wirkt magenkrank, ausgezehrt, mit einer ungesunden Blässe im Gesicht. Seine schütteren Haare sind schwarz gefärbt, ölig zurückgekämmt, vorne zeigt er eine deutliche Stirnglatze. Seine messingfarbene Brille ist ein billiges Kassengestell. Hinter der Brille tieftraurige Augen, die nach innen blicken und dort nur Leere sehen.

Ein Gesicht, geformt aus jahrelanger Einsamkeit.

Erwin leert die Dose, wirft sie achtlos Richtung Papierkorb, sie scheppert über den Küchenboden. Er setzt sich wieder an den Schreibtisch, schließt die Kladde Nr. 15 und angelt dann aus dem Regal die Kladde mit der Nummer 1. Er öffnet sie vorsichtig, beginnt dann leise murmelnd zu lesen.

Vater und Mutter.

Er hat einfach nicht mit mir geredet.

Er hat kein einziges Wort herausgebracht, aber sein Gesicht ist ein einziger Vorwurf. Wieder habe ich es geschafft, den Vater zu enttäuschen, und wieder weiß ich nicht einmal, womit.

Er hat getrunken, der Vater. Ich weiß, was dann passieren kann, erst wird er weinerlich und dann holt er den braunen Ledergürtel hervor, wickelt ihn sich um die rechte Hand, tritt krachend gegen die Tür zum ehelichen Schlafzimmer.

Mutter wird zusammenzucken, die Angst wird ihr die Kehle zudrücken, aber sie wird schweigen und sie wird sich für das Schweigen hassen.

Kein Laut wird aus dem Schlafzimmer kommen.

Dann wird er gegen die Tür zu meinem Kinderzimmer treten und mit dem schweren braunen Gürtel immer wieder zuschlagen. Es zischt in der Luft, kurz bevor der Gürtel trifft.

Der nächste Tag wird schlimmer sein, dann wird er weinerlich, kommt und entschuldigt sich. Und macht mir damit meinen Zorn kaputt, denn natürlich muss ich ihm verzeihen. Täglich erzählt er mir, welch sagenhafte Zukunft vor mir liegt. Er wird sie mir ermöglichen, er wird sich krumm arbeiten. Ich soll gefälligst dankbarer sein. Ich könnte mich verdammt noch mal doch etwas mehr freuen. Schwer, sich zu freuen, in meiner Welt freut sich eigentlich niemand. Wie soll ich wissen, wie Freude geht? Ich weiß, wie Ordnung geht. Ich weiß, wie Fleiß geht.

Aber Freude?

Meine Mutter freut sich nie. Manchmal ein wenig, wenn wir alleine sind, wenn der Vater mal zwei Tage wegmuss. Dann sitzen wir mittags an dem kleinen Küchentisch mit der rot-weiß karierten Tischdecke und essen Spiegeleier und Bratkartoffeln. Dann fühle ich mich glücklich. Kommt leider selten vor, dass der Vater wegmuss, er ist kleiner Angestellter bei der Stadt, eine Art Hausmeister. Er macht ein Geheimnis drum. Einmal habe ich ihn überrascht und bin auf seiner Arbeit erschienen. Ich sah, dass er einen grauen Kittel trug, und bekam am Abend fürchterliche Dresche.

Mutter erzählte er manchmal, dass er fast täglich den Bürgermeister sieht und dass Politik vielleicht etwas für mich sein könnte. Wenn ich mich nur anstrengen würde, dann könnte ich vielleicht Bürgermeister werden. Man darf ja mal träumen, sagt er dann, und auf jeden Fall kann der Junge Amtmann oder sogar Oberamtmann werden.

Wenn er doch nur etwas lebhafter und etwas dankbarer wäre.

Mutter ist in letzter Zeit häufig abwesend, nein, sie ist da, aber sie scheint zu träumen. Sie meint dann, lass mich, ich bin müde, lass mich doch ein bisschen träumen. Aber ich muss sie wecken, spätestens eine Stunde, bevor der Vater kommt, sonst schafft sie es nicht, das Essen auf den Tisch zu kriegen. Der Vater will warm essen, wenn er nach Hause kommt. Sein Bier muss kalt sein und das Essen warm.

Erwin schließt die Kladde, kippt die letzte Dose in sich rein, steht auf, wankt in sein Schlafzimmer und legt sich mit allen Klamotten am Leib auf die zerwühlte Bettdecke. »So war es und so ist es«, murmelt er, »Bürgermeister, du Arschloch. Mutter hast du in die Klapse geschickt und mich hier in diese Bruchbude. Danke, Papa.«

Mitch hat sich gegen 21 Uhr von Enis verabschiedet, er will nach Hause. Dann ist er aber doch noch am Yok-Yok-Kiosk hängen geblieben, einem schlichten Laden, der in den letzten Jahren Kultstatus bekommen hat. Bei halbwegs passablem Wetter versammeln sich hier locker bis zu hundert junge Leute und bohren im Stehen Bier aus der Flasche ab. Das Yok Yok hat den Charme eines Getränkesupermarktes, egal, alle sind wild darauf, ihr Bier genau hier zu kaufen. Mitch trinkt eine schnelle Flasche, betrachtet ein wenig amüsiert, wie ein frisch gegelter Nachwuchsbanker eine eher alternativ aussehende junge Frau intensiv beflirtet. Mitch lächelt wehmütig. »Gibt nichts Schöneres, ein heißer Sommerabend, zwei junge Leute, die sich gefallen. Wo werdet ihr heute Nacht noch landen? Viel Spaß jedenfalls.«

Er trinkt aus und macht sich auf den Weg. Am Theaterplatz bleibt er hängen, beobachtet die Kunststücke eines Jongleurs. Er wirft ihm 50 Cent in den Hut, setzt sich noch einen Moment auf eine Parkbank, beobachtet das Gewusel auf dem Platz und stöbert dann in seinem Handy.

Bei CNN stößt er auf einen Artikel über Identitätspolitik, in dem von einem Mann namens Alexandre Bissonnette aus Quebec die Rede ist. Nachdem sein Premierminister Trudeau eine Willkommensbotschaft an Flüchtlinge gerichtet hatte, konterte er auf Twitter mit einem Hassausbruch, schrieb von der drohenden Marginalisierung der Weißen im eigenen Land. Einen Tag später tötete er sechs Muslime in der Moschee von Quebec City.

Trudeau wollte sich von Trump absetzen, Monsieur Bissonnette hingegen nahm Trump wörtlich. Politiker wie Trump, Le Pen, Salvini teilen die Welt in »die« und »wir« ein. Islamisten spielen auf derselben Klaviatur. Mit Appellen an Identität, an Heimat, an Traditionen wird von grundlegenden sozialen Problemen abgelenkt. Und der immer wieder an die Wand gemalte unausweichliche Krieg der Rassen und Religionen bringt Einzelne dazu, Ängste in Wut und Worte in Taten zu verwandeln.

In der U-Bahn denkt Mitch an Mehmet, den türkischen Fischhändler, und seine Klagen über die marokkanischen Dealer am Bahnhof. Mitch grinst, als er sich an Mehmets Erregung erinnert. In einer öffentlich-rechtlichen Talkshow hätte Mehmet damit wilde Empörung bei allen Gutmenschen ausgelöst. »Wir tun uns manchmal verdammt schwer, einfache Wahrheiten auszusprechen, und machen uns genau damit das Leben erst richtig schwer. Eigentlich ist doch alles ganz einfach. Für alle gelten die gleichen Gesetze. Punkt und Ende. Wer darauf besteht, die religiösen Gebote der Scharia höher zu hängen als die deutsche Verfassung, soll bitte in Saudi Arabien um Asyl bitten. Und wer einen völkischen Staat aufbauen will, der ist ein Fall für Polizei und Staatsanwalt.«

Nun ja, denkt Mitch, so einfach laufen die Dinge in Deutschland nicht – sie sind viel komplizierter.

Er steigt aus und läuft durch sein vertrautes Nordend, dessen Straßen ihm plötzlich merkwürdig ruhig und sauber vorkommen. Alles ist aufgeräumter als am Bahnhof, konfliktloser, friedlicher, ein Areal der Wohlhabenden. »Der richtige Stadtteil für einen alten weißen Mann«, denkt Mitch und grinst. Er läuft an der Villa Lauda vorbei, wo er sich manchmal mit bestem italienischen Essen verwöhnen lässt. Mario und Francesco stehen auf der Straße begrüßen ihn: »Hey Mitch, wo kommst du her?«

»Aus dem Bahnhofsviertel«, antwortet er und erntet anzügliches Gelächter. »Bleib sauber, Junge.«

Und schon gefällt ihm sein Viertel wieder. Ein paar Schritte weiter versammeln sich einige Bekannte an der Bar des Casa Pintor, und Mitch beschließt, sich noch einen Rioja zu gönnen. Nach nur einem Glas aber steht er, ganz gegen seine üblichen Gewohnheiten, abrupt auf und läuft die paar Meter in den nahen Holzhausenpark. Er setzt sich auf eine Bank, holt sein Handy heraus, öffnet den Kontakt Canan Aydin, denkt eine Sekunde nach und tippt dann eine WhatsApp.

Mitch Berger an Canan Aydin 22:14

Liebe Frau Aydin, der Kollege Reinhardt, den Sie genannt hatten, ist ja nur für Presseanfragen zuständig, dies aber ist eine private Anfrage. Ich würde Sie liebend gerne in den nächsten Tagen mal auf einen Kaffee treffen. Gibt es da eine Chance? Lg, Mitch Berger.

Mitch schaut in den nächtlichen Park, dann auf sein Handy. Als er nicht mehr mit einer Antwort rechnet, vibriert sein Handy.

Canan Aydin an Mitch Berger 22:37

Lieber Herr Berger, Enis hat mich schon gewarnt, dass Sie sein Handy geklaut hätten. Wahrscheinlich eine ziemlich dumme Lüge, er wird die Nummer rausgerückt haben. Immerhin ist es gut, dass Sie Ihre Anfrage nicht über den Kollegen Reinhardt geschickt haben, wäre peinlich. Ein Kaffee ist ein Kaffee ist ein Kaffee. Wenn das klar ist, dann gerne.

Ich melde mich bei Ihnen. Lg, Canan Aydin.

Mitch ballt die Faust und eilt beschwingt nach Hause.

Der Mann betritt die langen, verwinkelten, dunkelrot beleuchteten Gänge des großen Laufhauses in der Elbestraße, als wäre es sein Wohnzimmer. Er tätschelt einer Schwarzen im Vorbeigehen den Hintern, gibt Carmen aus Kolumbien flüchtige Küsse auf beide Wangen. Die meisten Männer betreten das Haus leicht unsicher, möchten dabei nicht gesehen werden. Das Problem hat dieser Besucher nicht, er baut seinen massigen Körper jetzt vor den dunklen Scheiben des Verwalterzimmers auf, klopft donnernd an. Die Tür wird einen Spalt geöffnet, ein noch größerer Kerl, der vor einer Wand voller kleiner Monitore sitzt, hebt die Hand. »Hi Benno, Zeit, dass du dich mal wieder blicken lässt.«

Benno Stiller klatscht den Verwalter ab, er kennt Kalle seit Jahren aus alten Tagen, als dieser mit seiner Hells-Angels-Weste aufgeregte Freier ganz schnell wieder auf Betriebstemperatur runterkühlte. Kalle trug damals die berühmt-berüchtigte Kutte des Hells Angels Charter Westend, dekoriert mit den Abzeichen »1%er« und »Red Light Squad«, die ihn als einen im Rotlichtmilieu arbeitenden Outlaw kennzeichneten. Bei Ärger mit Freiern oder konkurrierenden Zuhältern sorgte die Kutte sofort für Respekt. Er trägt sie nicht mehr, seit der Charter vom hessischen Innenminister verboten wurde. Zu der Zeit war Benno noch Polizist und entschieden gegen das Verbot. Er und viele andere Polizisten sahen in den Angels Verbündete gegen chaotische Jugogangs und Invasoren aus Albanien. Also hatte Benno den Angels oft nützliche Tipps gegeben. Razzien gegen von den Angels geführte Betriebe endeten meistens als Schlag ins Wasser. Die Rocker schuldeten ihm dafür den einen oder anderen Gefallen, freie Frauenauswahl im Laufhaus gehörte dazu. »Hast du was Neues zu empfehlen?«, fragt Benno.

Kalle nickt, beugt sich vor zu seiner Monitorwand. Alle Zimmer sind zum Schutz der Frauen überwacht. Sollte ein Freier durchdrehen oder auf nicht vereinbarten Sadospielchen bestehen, ist Kalle oder ein ähnliches Kaliber in weniger als einer Minute vor Ort – und dann hat der Freier ein Problem. Kalle zeigt auf einen Monitor in der obersten Reihe. Eine noch sehr junge Frau räkelt sich auf dem Bett, betrachtet irgendeine amerikanische Serie auf ihrem Laptop. Sie trägt einen knappen Bikini, der ihre makellose Figur betont. »Das ist Joyce, kommt angeblich aus der Karibik, hat einen französischen Pass und sieht ziemlich scharf aus. Zwei Treppen hoch, sag ihr, die Nummer geht aufs Haus.« Benno nickt, bedankt sich. »Alles klar, Kalle, heiter weiter.«

Benno kommt an einer Harley Davidson vorbei, die blank geputzt hinter Glas am Eingang zum Treppenhaus steht. Benno wird wehmütig, als er das Bike betrachtet, er kennt den Besitzer des guten Stücks. »Ist doch ein super Ende für die Mühle«, hatte der damals verkündet, »lebenslänglich im Puff, es gibt Schlimmeres.«

Benno ist unruhig, er muss immer noch an die türkische Kommissarin denken, die voll arrogant vor ihm gestanden war und ständig von einem toten Dealer in einer seiner Wohnungen geredet hatte. »Kann ich was dafür, wenn sich meine Mieter umbringen?«, hatte er gefaucht. Die Polizistin hatte mit zwei Fingern auf ihre Augen und dann auf Benno gedeutet. Sie würde ein Auge auf ihn haben. Und genau das kann er jetzt überhaupt nicht brauchen. Er hat nichts mit dem plötzlichen Ableben dieses toten Dealers zu tun. Klar wusste er, dass er die Wohnung an Dealer vermietet, aber die bezahlen halt eine saftige Miete, ohne zu murren. Aber ein Toter? Davon war nie die Rede. Benno braucht jetzt keine Kommissarin im Nacken, er will jetzt endlich Geld machen, Carl Steinhoff richtig Geld abnehmen. Und jetzt will er seinen Spaß.

Benno grinst die Damen an, die ihre Brüste zeigen, als sie ihn erkennen. Er steht jetzt vor dem Zimmer von Joyce. Er tritt ein, knallt die Tür hinter sich zu, beginnt seine Hose aufzuknöpfen und fordert Joyce auf, ihm einen zu blasen.

Die Frau starrt ihn an, macht mit der linken Hand die Geste für Geld. Benno schüttelt den Kopf. »Geht aufs Haus, Kalle zahlt die Nummer.« Joyce blickt ihn verständnislos an, wiederholt die Geldzählgeste und murmelt: »Blasen dreißig Euro, erst zahlen.«

Benno blickt sie wütend an. »Leck mich am Arsch, du Schlampe.« Er holt ansatzlos aus, trifft Joyce mit der Rückseite der flachen Hand auf den Mund. Sein Siegelring reißt ihr die Oberlippe auf, die junge Frau geht weinend zu Boden, hält sich den blutenden Mund. »Leg Eis drauf, Schlampe«, faucht Benno Stiller und stürmt die Treppen nach unten.

Vor dem Ausgang hat sich Kalle aufgebaut. »Verdammter Idiot, du sollst sie ficken und nicht schlagen. Die Kleine fällt drei Tage aus, wer zahlt mir das?« Benno greift in die Hosentasche, holt zusammengerollte Scheine hervor, nimmt zwei 500er und drückt sie Kalle in die Hand. »Sollte reichen, nichts für ungut. Ich hab ein wenig Stress, bin jähzornig. Du kennst mich, sorry.«

Draußen auf der Straße holt er Luft, steckt sich eine Kippe an und flucht laut.

Er schaut auf die Uhr, noch ein bisschen Luft bis zu seinem Date.

Erwin ist nach dem ersten Tiefschlaf wieder hellwach. Er blickt auf die Uhr an seinem Handgelenk, gerade mal eine Stunde geschlafen, die ganze Nacht noch vor sich. Wenn Erwin etwas hasst, dann sind es schlaflose Nächte. Er tastet suchend nach der Wasserflasche an seinem Bett, nimmt einen tiefen Schluck und erhebt sich mühsam. Er läuft unsicher zu dem Klappfenster, blickt in den hitzeflirrenden Abend, der die Nordseite des Hauptbahnhofs tiefblau umhüllt. Er hört Polizeisirenen, den üblichen Soundtrack der Nacht.

Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, läuft zum Schreibtisch und greift nach der Kladde Nummer 2, beginnt zu lesen.

Eigentlich langweilt mich das Schreiben, weil man nur langweilig über ein langweiliges Leben schreiben kann. Wo soll ich anfangen? Vielleicht bei der Einsamkeit? Ich kann keinen Freund finden, mich keiner Clique anschließen. Spricht mich ein Mädchen an, dann steigt eine Woge aus Nervosität und hoffnungsvoller Erregung in mir auf, die mich verstummen oder stottern lässt. Zu Hause fiel es niemand auf, dass kein einziger Freund mal nachmittags vorbeikam. In dieser Zeit war Mutter zweimal in der Psycho-Klinik. Vater erzählt, wie gut er sich um sie gekümmert hat. Wie gerne würde ich ihm die Fresse polieren, immer wieder in sein feistes Gesicht schlagen.

Meine Wut frisst mich von innen auf.

Ich habe mich durch die Oberstufe gequält, der Alte schlug mir jede schlechte Note um die Ohren. Selten ging ich mit Klassenkameraden weg. Ein Klassenbesäufnis wurde zu einer Katastrophe, es hagelte Witze über mich. Torkelnd machte ich mich danach auf den Nachhauseweg, in der Linken eine Bierflasche. Kurz vor unserer Straße krachte ich gegen einen völlig schräg geparkten Porsche 911. Ich fluchte laut und schmetterte, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, die Bierflasche in die Frontscheibe des Wagens. Die Scheibe zersplitterte in tausend Stücke, ich lachte laut und fühlte mich erleichtert.

Erwin legt die Kladde zur Seite, erhebt sich leicht schwankend, öffnet die Tür zum Kühlschrank, flucht laut, im Getränkefach herrscht gähnende Leere. »Scheiße, ich muss noch mal runter.«

Benno Stiller schlendert durch die Elbestraße, spuckt verächtlich einem bettelnden Junkie vor die Füße, betrachtet erstaunt eine soeben frisch eröffnete Weinbar gleich neben dem ausgebaggerten Loch, wo bis vor Kurzem die Pik-Dame war. Jetzt steht er vor dem Steinhoff-Block, klingelt an dem riesigen, über und über mit Graffiti besprühten Flügeltor. Ein Summer ertönt, er tritt ein und läuft durch die verfallenden Gänge des großen Blocks, seine Schritte hallen in dem leeren Gebäude. Er klopft laut an die Tür mit dem goldenen Schild STEINHOFF PROPERTIES.

Es dauert einen Moment, bis geöffnet wird und Dr. Carl Steinhoff mit vom Alkohol geröteten Gesicht seinen Gast hereinbittet. »Mensch Benno, bin froh, dass du Zeit hast, wir müssen reden.«

Mit raumgreifenden Schritten durchmisst Benno Stiller das Büro. Er blickt auf das große Schwarzweißbild des Gebäudes über dem Schreibtisch, mustert mit leicht abfälligem Grinsen die Bungalows auf Fuerteventura und lässt sich dann in einen der italienischen Ledersessel in der Gesprächsecke fallen. Auf dem Couchtisch steht eine Flasche besten spanischen Brandys, zwei Gläser, eines davon gut gefüllt.

Steinhoff gießt Benno Stiller großzügig ein, der auf alle Genießer-Etikette pfeift und einen tiefen Schluck nimmt.

»Alles klar, Carl, ich hoffe, du redest endlich wie ein Mann, der sich entschieden hat. Wir sind beide viel zu alt, um unsere Zeit an Kinderkram zu verschwenden.« Benno Stiller streicht sich über sein kurz geschnittenes Haar, nimmt noch einen Schluck Brandy, setzt das Glas laut klirrend ab.

Steinhoff erschrickt und ärgert sich, Bennos Gockelnummer passt ihm nicht, schließlich ist er hier der Chef im Ring. Aber schwer, sich gegen Benno durchzusetzen. Auch Carl trinkt, dann legt er los. »Es muss etwas geschehen. Ich kann nicht mehr warten und hoffen, dass der Alte an Lungenkrebs krepiert. Die verdammten Immobilienleute aus London legen mir die Daumenschrauben an. Ich habe Gelder angenommen, eine Art Vorschuss, und jetzt drohen sie – entweder Kaufvertrag oder Klage auf Rückzahlung.«

Benno stopft sich ungeduldig sein Hemd in die Hose. Seit er zugenommen hat, haben seine Hemden die lästige Tendenz entwickelt, sich über den Gürtel zu wellen. »Carl, all das kenn ich, habe ich hundertmal von dir gehört. Hast du endlich deine Entscheidung getroffen?«

»Welche Entscheidung meinst du?«

»Ist das so schwer zu verstehen? Entweder du verhilfst dem Alten zur wohlverdienten Ruhe auf dem Hauptfriedhof, oder du pflegst ihn weiter aufopferungsvoll. Im zweiten Fall allerdings werden die Immobilienheinis dir deine schicke Bude in Kronberg pfänden. Ich wüsste genau, was ich machen würde.«

»Benno, wir reden von meinem Vater.«

»Ach ja, Carl, komm runter vom Baum. Ich kenne deinen Vater wahrscheinlich besser als du. War ein Riesentyp. Konnte austeilen, konnte sich durchsetzen. Hat sein Erbe immer zusammengehalten. Aber das ist lange vorbei. Heute reden wir von einem Mann, der eine Stunde zum Pissen braucht, der völlig gaga in der Birne ist und abends das Horst-Wessel-Lied singt. Gleichzeitig aber vermietet er die schöne alte Halle an Muslime. Eure Hütte hier ist gut fünfzig Millionen wert und ihr lasst sie verfallen. Das ist doch Geisterbahn. Wenn du Eier in der Hose hast, dann holst du dir endlich dein Geld und vögelst in der Karibik bis zum Ende aller Tage.«

»Ja, die Muslime, gut, dass du sie erwähnst, die müssen weg. Die Londoner bestehen darauf, die Moschee muss weg sein, bevor ein Kaufvertrag unterschrieben wird.«

Carl trinkt und schaut Benno hilflos an, der ihn wie immer mit seiner Energie und Direktheit überrollt hat. Er fühlt sich kraftlos, nimmt noch einen Schluck, dann fasst er sich ein Herz. »Benno, kannst du nicht mal bei deinen Rockerfreunden nachfragen, ob jemand nachts für ein paar Tausender die Moschee abfackeln könnte?«

»Mann, Carl, wie blöd kann man sein? Wenn jetzt die Moschee brennt und ein paar Wochen später wird das Gebäude verkauft, dann weiß doch jeder, dass da eine Immobiliennummer gelaufen ist. Die gesamte Frankfurter Presse wird dich jagen und die Bullen zwingen zu ermitteln. Abgesehen davon: Ich kann dir jederzeit ein paar Rocker besorgen, die eine Bar zerlegen. Aber bitte keine Moschee. Bei den Angels sind ne Menge Türken dabei, die mögen so was gar nicht.«

Carl wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Okay, Benno, du erzählst mir, was nicht geht. Aber was zum Teufel schlägst du vor?«

»Ehrlich gesagt denke ich gar nicht daran, dir irgendwelche Vorschläge zu machen, bevor ich nicht weiß, was hier für mich drin ist.«

»Benno, du weißt, ich bin dankbar und kein bisschen geizig, ich werde dich ordentlich bezahlen, sobald das Haus hier verkauft ist.«

»Nein, Carl, die Zeit der Trinkgelder ist vorbei. Ich kann, jetzt höre mir genau zu, ich kann all deine Probleme lösen, aber das kostet. Und zwar richtig. Ich will kein Trinkgeld mehr, ich muss auch langsam ans Alter denken. Ich will zehn Prozent des Verkaufspreises für dieses Gebäude, nicht mehr und nicht weniger. Dafür brauchst du dir nie wieder einen Kopf über die Moschee und deinen Alten zu machen. Okay, haben wir einen Deal?«

»Wie willst du das schaffen?«

»Frag nicht so viel, aber ich will, dass du einen lupenreinen Vertrag aufsetzen lässt. Zehn Prozent an den lieben Benno Stiller.«

»Du hast selber gesagt, dass das Gebäude fünfzig Millionen bringen kann. Das wären dann fünf Millionen. Verdammt viel, findest du nicht?«

»Und fünfundvierzig Millionen für dich, lieber Dr. Steinhoff, oder alternativ eine Klage und der Verlust des schönen Anwesens in Kronberg. Deine Entscheidung.«

Carl Steinhoff hält es nicht mehr in seinem Sessel. Er stürmt durch das Büro, reißt eine Schreibtischschublade auf, hält plötzlich in der einen Hand eine Walther P 38 und in der anderen ein gerahmtes Bild des Vaters. Er wirft das Bild auf den Boden, krachend zersplittert das Glas. Er richtet die Waffe auf Benno Stiller. »Benno, der Vater soll sanft sterben, mach das mit einem Arzt.«

Benno mustert Steinhoff verächtlich. »Ich gebe ihm fünf Viagra und bestelle drei Russinnen, von so einem Ausgang des Krieges hat er doch seit 45 geträumt. Und jetzt nimm die verdammte Knarre weg, sonst werde ich echt böse.«

Carl atmet schwer, lässt die Waffe sinken. »Was hast du vor?«

Benno lächelt überheblich, er kann die Schwäche seines Gegenübers riechen. »Du kennst doch diese russischen Holzpuppen, diese Dinger, wo in einer Puppe die nächste steckt, wie heißen die doch gleich, ach ja, Matrjoschka. Nun, ich werde eine kleine Puppe in einer großen verstecken. In einer sehr großen – da drin werden wir gar nicht auffallen.«

Lass Gott aus dem Spiel

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