Читать книгу Lass Gott aus dem Spiel - Harald Lüders - Страница 11
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ОглавлениеDr. Carl Steinhoff hat einige Telefonate geführt, einige Mails bearbeitet und ein sehr langes Gespräch mit Benno Stiller geführt. Stiller hat ihm deutlich wie selten gesagt, dass er endlich mit dem Ausweichen und Taktieren aufhören müsse.
Carl Steinhoff war wütend danach, Benno war sehr fordernd aufgetreten, völlig respektlos. Aber er hat keine Wahl, er kann Benno nicht zum Teufel jagen, noch nicht. Er braucht ihn und seine Verbindungen.
Carl Steinhoff erhebt sich ächzend aus seinem bequemen Schreibtischstuhl. Leicht hinkend, aber nach wenigen Schritten sicherer, strebt er Richtung Tür.
»Marianne, ich bin weg, habe ein Treffen mit den CCB-Leuten, dann werde ich zu Mittag essen. Ich möchte die nächsten Stunden nicht gestört werden, keine Gespräche durchstellen, bitte. In ganz dringenden Fällen schicken Sie eine SMS.«
Marianne nickt, Steinhoff weiß nur zu gut, dass sie es hasst, jetzt völlig allein im Büro zu bleiben. Als die Außentür des Büros ins Schloss fällt, wartet Steinhoff draußen einen Moment, dann hört er, dass von innen die Tür verriegelt wird. Es gibt zwei Schlösser, und beide werden zweimal abgeschlossen.
Steinhoff lächelt, dann macht er sich auf den Weg. Trotz der Schmerzen im Bein geht er den kurzen Weg zum Hotel Roomers in der Gutleutstraße zu Fuß.
Schon nach wenigen Metern bereut er das. Es ist ein warmer Tag heute, er wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er hat zugenommen, das macht sich jetzt bemerkbar. Er bleibt einen Moment stehen, beobachtet sein Spiegelbild in der Heckscheibe eines illegal geparkten SUVs. Eigentlich ist er zufrieden mit seinem Aussehen, die weißen Haare verleihen ihm eine gewisse Seriosität. Seine Augen sind müde, vom Grübeln wie vom Trinken. Dann flucht er plötzlich vor sich hin: »Da steh ich, ein Mann Ende vierzig, schon mit weißen Haaren, und habe immer noch ein verdammtes Vaterproblem. Was hat sich eigentlich geändert in meinem Leben? Immer noch springt mir der verrückte Alte auf der Nase rum.«
Carl Steinhoff hat einen Großteil seiner Jugend alleine mit seinem Vater verbracht. Als der Junge sieben war, warf der Alte seine Mutter raus. Die Frau sackte lieber einen fetten Scheck ein, als um ihren Sohn zu kämpfen. Carl hatte eine freudlose Jugend. Mit fünfzehn wurde er von seinem Alten in einen Puff geschleppt, in dem sein Vater selbst Stammgast war. Carl hasste es, wenn ihm die Frauen erzählten, was für ein toller Typ der Alte sei. Seine Jugend war eine Achterbahnfahrt zwischen Nazisprüchen und einem Schuss Bahnhofsviertel-Gangsterromantik.
Ja, er hatte sich oft alleine, hilflos, ungeliebt gefühlt. Er war nicht nur ohne Mutter, sondern auch fast ohne Freunde aufgewachsen. Sobald er konnte, verließ er die kalte, verhasste Wohnung im Kölner Hof, er mochte die Zinnsoldaten nicht mehr sehen und auch nicht die Spielzeugausgabe von Hitlers Mercedes-Cabrio mit der am Kotflügel montierten Hakenkreuzflagge. Carl studierte Betriebswirtschaft in Heidelberg, fuhr selten nach Hause, bekam einen monatlichen Scheck und versuchte den Alten zu vergessen. Erst wollte er ihn ärgern und spielte mit dem Gedanken, einer linksradikalen Studentengruppe beizutreten. Deren Versammlungen aber langweilten ihn zu Tode. Also beschloss er, die Finger von der Politik zu lassen, und stürzte sich ins Studium. Ihn interessierte nichts wirklich, er wollte nur schnelle Bestätigung und Geld. Geld hatte er bald, aber Bestätigung fehlte, also begann er sie zu kaufen. Wenn er mit Freunden ausging, zahlte er. In dieser Zeit begann er sich für Glücksspiele zu begeistern. Trotz allem gelang ihm ein passables Diplom, mit Mühe schaffte er sogar den Doktor. Dann allerdings fuhr er kurz hintereinander drei Firmen, die er mit wechselnden Partnern gegründet hatte, an die Wand. Unter Hinweis auf sein zu erwartendes Erbe besorgte er sich verschiedene Kredite von der Bank.
Ein einziges Mal hatte er geschäftlichen Erfolg – mit der Beteiligung an einem Fonds, der auf der Kanareninsel Fuerteventura eine Retortenstadt namens Caleta de Fuste hochzog. Er verkaufte rechtzeitig seine Anteile und hatte erstmals Geld. Davon leistete er sich eine Villa in Kronberg, die jetzt sein Ein und Alles ist.
Danach gelang ihm nicht mehr viel, und er begann gezwungenermaßen für den Alten zu arbeiten. Sein Vater liebte es, ihn mit Herr Doktor anzureden und ihn dann zu einem Haufen schwachsinniger Jobs zu verdonnern. Für Carls Selbstbewusstsein war die Konstellation fatal.
Er kompensierte die Beleidigungen des Alten durch Erhöhung seiner Ausgaben. Bald wurde Carl Stammgast der Casinos in Bad Homburg, Wiesbaden und Baden-Baden. Am Roulettetisch fühlt er sich bis heute lebendig. In den letzten Jahren hat sich Carl ausschließlich um die Immobilien des Alten gekümmert. Er begriff, dass das leer stehende Haupthaus samt dem Hotelflügel im heutigen Bahnhofsviertel einen riesigen Wert hatte. Es war einen Pool voller 500-Euro-Scheine wert, und nur der Alte stand zwischen ihm und dem Geld.
Wieder stärker hinkend, überquert er jetzt die Gutleutstraße und betritt die perfekt gestylte Lobby des Designhotels Roomers. Er verschwindet kurz auf der Herrentoilette, um sich frisch zu machen. Sein Spiegelbild gefällt ihm nicht. Der Schweißfilm auf der Stirn stört ihn und die Tränensäcke, die noch größer zu werden drohen. Die kleine Warze links von der Nase wird er sich weglasern lassen. Er trinkt einen Schluck Wasser aus dem Hahn, schreitet dann so energisch wie möglich durch die Lobby zum Aufzug. Er kennt die CCB-Suite 116 nur zu gut.
Zur selben Zeit verlassen in Frankfurt-Höchst zwei bärtige junge Männer, locker westlich gekleidet mit Jeans und Turnschuhen, das alte Postamt, in dem die Arbeiterwohlfahrt Integrationskurse für Flüchtlinge anbietet. Sie überqueren die Hauptstraße, laufen am vorderen Eingang des Asia-Markts vorbei und klopfen an der Tür der kleinen Lagerhalle.
Notdürftig hat man hier versucht, dem Raum das Aussehen einer Moschee zu verleihen. Er ist mit Teppichen ausgelegt, aber an den Wänden fehlt jeglicher Schmuck. Eine einzige Kachel zeigt in arabischen Schriftzeichen den Namen Gottes, sie schmückt die Stirnseite des Raums.
Ibrahim steht etwas abseits, sein hageres Gesicht wirkt nachdenklich, und seine tiefliegenden Augen sind nach innen gerichtet. Immer wieder treffen ihn neugierige Blicke der anderen Anwesenden, auch die der beiden später gekommenen jungen Männer. Niemand im Raum ist älter als dreißig. Hier trifft sich keine normale Gemeinde, hierhin kommt man nur auf Einladung.
Ibrahim ist erst seit wenigen Monaten in Frankfurt, sein Deutsch ist passabel. Ihn umwehen Geheimnisse, Gerüchte, Andeutungen. Er war einige Zeit im Krieg in Syrien, wo er eine gewisse Position im IS gehabt haben soll. Keiner der Leute, die gekommen sind, um ihn zu hören, weiß Genaueres, niemand hat je versucht, das, was man über Ibrahim sagt, zu überprüfen.
Jetzt richtet sich Ibrahim auf, durch seinen weißen Kaftan unterscheidet er sich deutlich von den anderen. Das Gewand verleiht ihm Würde und Autorität.
Er spricht das Gebet.
Die anderen sprechen ihm nach.
Jetzt schweigt Ibrahim, lässt die Stille wirken, hält den erwartungsvollen Blicken stand. Dann spricht er mit klarer, ruhiger, lauter Stimme. Er beginnt mit dem Gotteslob. »Die Herrschaft liegt bei Dir, die Größe liegt bei Dir, es gibt keinen Gott außer Dir.«
Wieder schweigt er. Als er fortfährt, hat sich der Klang seiner Stimme geändert, jetzt spricht er schneller, fordernder, voller Leidenschaft.
»Meine Brüder, wir leben in schweren Zeiten. Unsere Feinde, die Feinde unseres Glaubens, triumphieren. Das Kalifat scheint besiegt, die Armeen der Ungläubigen sind auf dem Vormarsch. Ich aber sage euch, das ist das Bild von heute, nicht die Wahrheit von morgen. Lasst euch davon nicht irre machen, denn das Bild ist falsch. Wir kämpfen mit Gott, und wer mit Gott kämpft, der kann und wird nicht untergehen. Eine neue Phase des Kampfes hat begonnen. Wir wissen jetzt, dass die Soldaten des Islam noch nicht in der Lage sind, gleichzeitig gegen die Flugzeuge und Soldaten Russlands und Amerikas zu kämpfen. Aber das heißt nicht, dass der Kampf verloren ist. Nein, meine Brüder, das heißt, dass der Kampf ein anderer wird.«
Ibrahim schweigt einen Moment, er spürt, dass er seine Zuhörer im Griff hat.
»Hört genau zu, Brüder, wir müssen die Ungläubigen da angreifen, wo sie nicht mit unserem Angriff rechnen. Nicht da, wo ihre Panzer stehen, sondern da, wo sie leben, wo ihre Frauen sind, wo ihre Kinder spielen, wo sie feiern, nämlich hier in ihren Ländern. Deswegen hat Gott uns in ihre Länder geführt. Die Märtyrer in Paris haben uns den Weg gezeigt, die Helden, die den Hurentempel Bataclan gereinigt haben. Die Brüder in Sri Lanka, tapfere Soldaten des Kalifats, haben uns den richtigen Weg gewiesen. Es gibt ein Video, das zeigt, wie ein Bruder mit dem Rucksack, in dem die Bombe steckt, die verfluchte Kirche der Ungläubigen betritt. Achtet auf seine Haltung, er geht schnell, er ist stolz, er ist mit sich und seinem Gott im Reinen. Er ist bereit, sich zu opfern. Dies ist ein heiliger Krieg, und wir haben unsere Lektion gelernt. Wir suchen weiche Ziele. Zivile Opfer verbreiten größeren Schrecken, schaffen noch mehr Ängste. Und wir werden diesen Kampf mit Gottes Hilfe siegreich beenden.«
Vor der Tür zu Suite 116 wischt sich Dr. Steinhoff noch einmal über die Stirn. Dann streckt er sich, klopft fest gegen die Tür. Eine knappe Minute später öffnet der junge Mitarbeiter der CCB, der immer einen leicht ironischen Gesichtsausdruck zur Schau trägt, die Tür.
»Dr. Steinhoff, wie schön, dass Sie es einrichten konnten.«
Wieder wundert sich Carl Steinhoff über den amerikanischen Akzent des jungen Mitarbeiters, der schließlich auf den guten deutschen Namen Rainer Nester hört. Werde ihn bei Gelegenheit fragen, denkt Steinhoff und erschrickt, als plötzlich ein hochgewachsener Mann auf ihn zukommt, Mitte vierzig, der einen teuren, gewiss maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug trägt.
»Dr. Steinhoff, ich darf mich vorstellen, Dr. Thomas Dietze, ich komme aus der Europa-Zentrale der CCB in London, ich will Sie unbedingt kennenlernen.«
Zwei kalte graue Augen mustern Steinhoff, der sich sofort unbehaglich fühlt. Weit hinten im Raum fällt ihm ein Beistelltisch auf, auf dem eine Flasche Scotch, Wasser und etwas Eis steht. Er muss sich beherrschen, dem Verlangen nach einem Drink widerstehen.
Dr. Dietze bittet Steinhoff, Platz zu nehmen. Dann gibt er seinem Mitarbeiter ein Zeichen, der ins Nebenzimmer eilt und mit einigen Papierrollen zurückkommt.
»Ich möchte Ihnen, lieber Herr Dr. Steinhoff, zeigen, dass wir in den letzten Wochen alles andere als untätig waren. Unserer Gesellschaft liegt sehr daran, unser gemeinsames Projekt voranzubringen, vor allem endlich mehr Geschwindigkeit zu entwickeln. Wir sehen dieses Projekt als Leuchtturm für unser Engagement in Frankfurt. Damit wollen wir uns auf dem Frankfurter Markt festsetzen.«
Auf dem Tisch werden Baupläne entrollt. Alle tragen oben rechts den Stempel CCB Invest.
Steinhoff blickt auf eine der Zeichnungen, erkennt unschwer die Außenfassade und die aufgeschnittenen Geschosse des Gebäudes seines Vaters. Dr. Dietze lenkt mit leuchtenden Augen die Aufmerksamkeit auf eine Zeichnung des Dachgeschosses. »Hier, das wird das Flaggschiff, ein Duplex mit Dachterrasse und Rooftop-Pool, knapp 300 Quadratmeter. An der Messe und im Westend werden für etwas Vergleichbares vier Millionen aufgerufen, hier in dieser Lage sind bis zu fünf Millionen drin. Der Markt ist günstig, es wimmelt von chinesischen und russischen Investoren, die ihr Geld im sicheren Westen parken wollen. Besser als jetzt kann es nicht mehr werden. Wir müssen nur bald loslegen, ein Projekt dieser Größenordnung braucht Zeit. Es wird ein politisches Gezeter geben, wir werden erleben, dass Gutmenschen und Puffbesitzer gemeinsam für die gewachsenen Strukturen des Viertels demonstrieren werden. Wir brauchen Zeit und Geld für die politische Landschaftspflege. Und damit bin ich beim Thema. Wir können die genaue Finanzierung erst festmachen, wenn wir eine glasklare Absichtserklärung des Eigentümers der Immobilie haben. Wie weit sind Sie damit?«
Die beiden schlanken Herren in den eleganten Businessanzügen blicken jetzt beide ihr Gegenüber an.
Steinhoff fährt sich mit einer fahrigen Handbewegung über sein fast weißes Haar. Sein fülliges Gesicht schimmert wieder feucht, er fühlt sich unwohl und beginnt noch stärker zu schwitzen. Er weiß, dass er dadurch einen unsicheren Eindruck macht, und so richtet er sich auf, zeigt seine stattlichen 185 Zentimeter. Er zerrt seinen Janker gerade und versucht sich an einem entschlossenen Gesichtsausdruck. »Verdammt, es ist nicht einfach mit dem alten Herrn. Sie kennen ihn nicht. Ich versuche es zweigleisig. Auf die gutmütige Tour, ich bin der liebe Sohn, der sich um ihn Sorgen macht, und gleichzeitig bereite ich die harte Variante vor und treibe seine Entmündigung voran. Ich habe bereits Kontakt zu seinem Hausarzt.«
Jetzt ergreift der jüngere Mann, der mit dem amerikanischen Akzent und dem deutschen Namen, das Wort. »Bitte, Dr. Steinhoff, überraschen Sie uns doch mal. Wie rasch kommen Sie voran?«
»Geben Sie mir Zeit, ich kann nicht sagen, wie lange ich brauche, aber wir reden von Monaten, nicht von Jahren.«
Jetzt federt der Londoner Chef von seinem Stuhl hoch. »Wo leben Sie eigentlich, Dr. Steinhoff? Jahre, Monate, noch was? Ich rede von Wochen, von wenigen Wochen. Ihnen ist schon klar, dass wir nicht unerhebliche finanzielle Vorleistungen auf uns genommen haben, nicht zuletzt in Form von knapp einer Million Euro, die auf Ihr Konto geflossen sind. Wir sind geduldige Menschen, aber wir sind auch nicht das Rote Kreuz.«
Die Spannung im Raum ist jetzt zu greifen.
»Bitte, halten Sie den Ball flach, angesichts der Größe des Objekts ist die Million ja nun wirklich Kleingeld und ein zu vertretender Vorschuss.« Dr. Steinhoff steht auf und gießt sich einen ordentlichen Scotch ein. Er schaut fragend in die Runde, die beiden Nadelstreifen schütteln abwehrend den Kopf.
»Kleingeld ist relativ, wir müssen unsere Ausgaben rechtfertigen, und zwar vor recht unangenehmen Kollegen. Die möchten Sie nicht kennenlernen. Sie, Dr. Steinhoff, haben uns gegenüber eine rechtsverbindliche Vorvereinbarung unterzeichnet, in der Sie so tun, als könnten Sie über das Grundstück frei verfügen. Erst scheibchenweise kam dann die ganze lächerliche Story mit Ihrem senilen Vater hoch. Es ist ganz einfach: Entweder unterzeichnet Ihr Vater innerhalb von einem Monat den Kaufvertrag oder die CCB wird Sie, Herr Dr. Steinhoff, für alle bisher angefallenen Kosten und alle Vorauszahlungen in Regress nehmen. Haben wir uns verstanden?«
Steinhoff hält das Glas gegen das Licht, erfreut sich an dem bernsteinfarbenen Leuchten des Whiskys. »Ist klar, ich regle das. Und verklagen Sie mich ruhig, dann werden Sie weder die Immobilie noch Ihr Geld sehen.«
Dr. Dietzes Augen sind jetzt eiskalt. »Irren Sie sich da nicht, Herr Steinhoff? Nach meinen Informationen ist die von Ihnen bewohnte Villa in Kronberg auf Ihren Namen eingetragen. Da war Papi wohl mal großzügig. Die können Sie gerne an uns abtreten. Verdammt, zeigen Sie endlich dem Alten, dass Sie ein Mann sind. Und noch etwas: In dem Gebäude befindet sich eine Moschee, von der noch nie die Rede war. Hallo, die muss weg, und zwar subito, sodass niemand einen Zusammenhang zwischen unserem Erwerb des Gebäudes und der Schließung der Moschee konstruieren kann. Da brauchen wir einen klaren zeitlichen Puffer. Ich habe keine Lust, mir eine Religionsdebatte einzufangen, und ich will auch keine Kopftücher und Gutmenschen vor unseren Büros demonstrieren sehen. Ist das klar? Sehen Sie zu, dass der Mietvertrag zeitnah gekündigt wird, Gründe dafür sollten zu finden sein. Ich will keinen Krieg, aber wenn es sein muss, können Sie ihn haben.«
Der Mann im Janker betrachtet noch einmal sein Glas, nimmt einen Schluck, nickt, verlässt abrupt den Raum, ohne sich zu verabschieden.
Als die Tür ins Schloss fällt, nickt der jüngere der beiden Nadelstreifen: »Wenigstens hat er diesmal nur zwei Drinks genommen, das letzte Mal waren es mindestens vier.«
Dr. Dietze wiegt zweifelnd den Kopf. »Gut, wir haben ihm jetzt etwas Dampf gemacht, aber ich bin mir nicht sicher, ob es reicht. Er hat die Hosen gestrichen voll, ich weiß aber nicht, ob er mehr Angst vor uns oder vor dem Alten hat. Muss ein echt harter Brocken sein, der Steinhoff senior. Vielleicht müssen wir selber einen Plan B vorbereiten. Der Mann ist schließlich schon ziemlich alt.«
Ibrahims rechte Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger schießt nach oben, er zeigt den Gruß des IS.
»Der Bruder Abu Bakr Naji hat uns folgenden Satz gelehrt: Militärische Macht nach außen hat keinen Wert ohne den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft. Was meint er damit? Wir leben inmitten der Gesellschaft des Feindes. Wir müssen den inneren Zusammenhalt der westlichen Gesellschaften zerbrechen, wir müssen den Feind zu Reaktionen provozieren, die vom liberalen Teil der westlichen Gesellschaften abgelehnt werden. Bruder Abu Bakr Naji, er war ein hochgeachtetes Mitglied der Führung von Al Qaida, sagt weiter: Werden Muslime angegriffen, werden sie bei anderen Muslimen Schutz suchen. Für die Gesellschaften hier, in denen wir zurzeit zu leben gezwungen sind, heißt das, wir müssen mit allen Mitteln die Gesellschaft spalten, wir müssen polarisieren. Es gibt keine Gemeinsamkeit, keine Freundschaft mit den Kreuzfahrern. Es heißt immer SIE gegen UNS, WIR gegen SIE. Wenn wir die Kreuzfahrer dazu bringen, uns Muslime anzugreifen, dann werden sich die Gläubigen unter der Fahne des Kalifats versammeln.«
Ibrahim holt Luft, nimmt einen Schluck Wasser. Er genießt die faszinierten Blicke, das Glitzern in vielen Augen. Er ist zufrieden, kommt jetzt schnell zum Ende.
Einer seiner Zuhörer, ein junger Türke namens Ahmed, will ein Selfie mit Ibrahim, der aber schüttelt ablehnend den Kopf. »Bitte, Bruder, keine Fotos hier, das ist zu gefährlich.«
Ahmed nickt entschuldigend, steckt sein Handy ein, verabschiedet sich von Ibrahim. Dann verlässt er die Halle, draußen vor der Tür checkt er sofort sein Handy, nickt zufrieden, er hat Ibrahims Rede komplett mitgeschnitten. Auch das ist streng verboten, aber Ahmed will sich die Predigt unbedingt noch mal in Ruhe anhören.
Drinnen leert sich langsam die Halle. Alle verabschieden sich respektvoll, versichern Ibrahim ihrer Treue und Gefolgschaft. Am Ende bleiben zwei junge Männer mit ihm zurück.
Der Jüngere, dem man seine Erregung deutlich ansieht, fasst sich ein Herz. »Du hast klar und weise gesprochen, Ibrahim, aber wenn ich dich richtig verstanden habe, kommt es nicht nur auf das Reden und das Beten an. Wann wirst du uns lehren zu handeln?«
Ibrahim lächelt. »Das will ich dir sagen, mein Bruder, an dem Tag, an dem nicht einer, nicht zwei, sondern zehn nach der Predigt bleiben und deine Frage stellen. An dem Tag hören wir auf zu reden.«
Der Junge nickt begeistert. »Zähl auf mich, mein Leben gehört dir.«
Nicht eine Minute später ist Ibrahim allein in der Halle. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, setzt sich in eine Ecke des Raums, lehnt den Oberkörper gegen die Wand. Er schließt die Augen, hört in sich hinein.
Er kehrt zurück in seine afghanische Heimat, er sieht die staubigen Straßen von Kundus, hört lautes Schreien, spürt die Panik, die damals wie Feuer in den schmalen Körper eines sechsjährigen Kindes gefahren war. Er sieht den Vater zusammenbrechen, sieht wilde bärtige Männer mit ihren Maschinenpistolen fuchteln, sieht plötzlich Blut auf dem Gewand der Mutter, sieht sie ins Dunkle fallen, ahnt ihren letzten Blick voller Liebe und Verzweiflung.
Dann ist Stille um ihn, die Bilder sind zerhackt, ihr bescheidenes Haus brennt, er sieht den Esel im brennenden Stall, das Maul weit aufgerissen, die Zähne gebleckt, er weiß genau, der Esel schreit um sein Leben, aber er hört keinen Ton. Immer wieder erschrickt ihn das Bild des lautlos schreienden Esels. In dieser Nacht damals endete seine Kindheit, und alles, was von ihr blieb, ist ein stumm schreiender Esel.
Ibrahim wuchs bei einem Onkel auf, der den Jungen vor eine unlösbare Aufgabe stellte. Er erzog Ibrahim im Sinne eines strengen Islam, aber er schärfte ihm auch ein, nie zu vergessen, dass es ein Taliban-Kommando war, das seine Familie ausgelöscht hatte.
Als der Onkel spürte, dass seine Zeit gekommen war, schickte er Ibrahim nach Kabul, wo er ihm einen Platz in der amerikanischen Schule besorgt hatte. Seinen Lehrern fielen schnell seine außergewöhnliche Auffassungsgabe und sein Talent zur Anpassung auf.
Ibrahim schüttelt sich jetzt, versucht sich von den Erinnerungen zu befreien. Er braucht eine gute Minute, bis er wieder klar denken kann.
Manchmal verliert er sich in seinen Gedanken, immer häufiger hat er das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, wer er eigentlich ist. Wenn er mit sich allein ist, verspürt er Trauer und eine tiefe Verlorenheit. Und dagegen hat bisher kein Gebet geholfen.
Er wühlt in den Tiefen seines Kaftans nach seinem Handy und tippt eine längere Nummer ein. Er schreibt: »Ich bin es, Ibrahim. Verdammt, sie sind blutleer wie eine Horde Schafe, wir müssen ihnen Feuer machen. Christchurch ist schon zu lange her, zu weit weg. Wir müssen nachdenken, sonst hänge ich ewig in dieser Stadt fest.«
Mitch und Enis ziehen weiter durch die Straßen des Viertels. Enis hat die Gabe, Menschen zu öffnen, er verwickelt sie spielend leicht in Gespräche. Mitch beginnt zu verstehen, wie mühsam das Leben der kleinen Händler ist. Viele haben Angst um ihre Geschäfte, alle bekommen die Veränderungen im Viertel mit, alle fürchten, die ersten Opfer der befürchteten Verdrängung zu werden. Vor einem Fischladen klatscht Enis einen Bekannten ab. Der Fischhändler redet sich in Rage, fixiert Mitch und legt los.
»Immer wenn der Erdogan eine Wahl gewinnt, fragt mich jeder zweite Deutsche, warum wir so einen Mist wählen. Wenn aber ein CHP-Mann in Istanbul zum Bürgermeister gewählt wird und die ganze Welt das als Ohrfeige für Erdogan feiert, dann gratuliert mir höchstens ein deutscher Kunde. Warum, sag mir, warum? Den Deutschen ist es immer lieber, wenn sie schimpfen und kritisieren können. War schon immer so. Damals bei der WM in Deutschland, werde ich nie vergessen, habe ich Fische zum Italiener um die Ecke geliefert. Der Mann lebt seit Jahrzehnten in Deutschland, seine Kinder gehen hier zu Schule. Luigi war völlig fertig. Am Abend vorher hat Italien gegen irgendwelche Afrikaner gespielt, und alle seine deutschen Kunden haben für die Schwarzen gejubelt. Aber danach wollten sie von ihm einen Grappa aufs Haus. Hat er gesagt: Holt euch euren verfickten Grappa in Afrika. Ist doch verrückt. Die trinken jeden Abend bei ihm und halten dann mit seinem Gegner.«
Der Fischhändler klopft Mitch aufmunternd auf die Schulter. »Kannst ja nichts dafür, aber ihr seid echt komisch. Bei mir kommt das Amt und kontrolliert Küche und Kühlhaus. Wenn irgendwas nicht stimmt, gibt es Riesenärger. Aber draußen auf der Straße sitzen die Junkies, und die Polizei läuft vorbei und schaut weg. Wenn ich mich beschwere, den Bullen sage, dass ich keinen Bock habe, morgens die Spritzen aufzukehren, dann laufen sie einfach weiter.«
Mitch nimmt dankend ein Bier an. Mehmet, der Fischhändler, hat sich in Rage geredet und ledert jetzt gegen die deutsche Asylpolitik. »Ich kenne die Araber viel besser als ihr. Ihr lasst euch von denen verarschen. Gut, dass die Syrer kommen, denen muss man helfen in dem fürchterlichen Krieg. Sind ja auch viele in der Türkei. Aber warum gebt ihr Dealern aus Marokko und Algerien Asyl, die da vorne die Leute am Bahnhof abzocken? Die lachen über eure Polizisten. Die werden am Montag von den Bullen festgenommen und holen sich am Dienstag Stütze ab. Ihr seid zu blöd. Die Jungs lachen euch aus. Und dann werden eure Leute sauer und wählen die Nazis. Und was machen die Nazis? Die killen uns. Haben die beiden vom NSU irgendeinen Dealer erschossen, frag ich dich? Nein, an die trauen sie sich nicht ran, die Feiglinge. Die haben Geschäftsleute erschossen, Blumenhändler, Gemüsehändler, Leute mit einem kleinen Internetladen, die alle ihre Steuer zahlen.«
Mitch schaut hilfesuchend Enis an, der zuckt mit den Schultern. »Das hörst du viel. Keiner kapiert, warum für alle Regeln gelten, aber für einige nicht. Lass stecken, Mitch, ich weiß, was du sagen willst, du kommst jetzt wieder mit dem deutschen Großvater um die Ecke und dass man wegen dem besonders liberal sein muss. Der deutsche Großvater aber interessiert meinen Freund hier nicht die Bohne. Aber keine Sorge, der Mehmet wählt trotzdem keine AfD.«
Enis lacht schallend, bedankt sich bei dem Fischhändler. Der grinst und lädt Mitch ein, morgen wieder zu kommen. »Kriegst du guten Fisch und wir reden weiter.«
Mitch und Enis verlassen den Laden.
»Du musst ihn verstehen«, meint Enis. »Bei dir im Viertel wohnen keine Flüchtlinge, aber hier hast du ganz schnell ein paar sehr schräge Typen aus Marokko oder Nigeria in der Wohnung gegenüber. Okay, das wird sich alles ändern. Wenn hier alles auf schick gestellt wird, dann wohnt Mehmet nicht mehr hier und die, über die er sich so aufregt, sind schon vor ihm weg. Hier, das ist die Zukunft.« Er zeigt auf ein aufwendig renoviertes altes Gebäude, in dem eines der besten Restaurants der Stadt eröffnet hat. »Wenn du 400 Euro über hast, kannst du mich zum Abendessen einladen.«
Mitch lugt interessiert durch die Scheiben und dann auf die Speisekarte. Er staunt über bretonische Makrele an Holunderblüte, fragt sich, was wohl eine Knusperolive ist, und bleibt dann an der Weinkarte hängen, die immerhin einen Chateau Margaux Jahrgang 1988 für schlappe 780 Euro zu bieten hat. Mitch seufzt sehnsuchtsvoll und drängt Enis zum Weitergehen.
Sie überqueren die Kaiserstraße, laufen einen Block weiter, hinein in die Ecke, in der das Bahnhofsviertel noch so roh und hart ist wie eh und je. Plötzlich stehen sie vor einer Blaulichtwand. Mehrere Einsatzwagen der Polizei und zwei schwere Limousinen des SEK blockieren die Straße. Mitch und Enis mischen sich unter die Schaulustigen. Das Haus sei eine bekannte Drogenadresse, munkeln einige der Zuschauer. Dann muss irgendetwas Unvorhersehbares geschehen sein.
Plötzlich rast ein ziviler 7er BMW mit Blaulicht die Straße hinunter, stoppt mit quietschenden Reifen, die Absperrung wird hochgerissen, der Wagen passiert.
Mitch und Enis beobachten eine sehr sportlich und tough auftretende Lady etwa Mitte 40, kurze schwarze Haare, enge schwarze Lederjacke über einer auffällig weiten roten Hose mit schwarzem Seitenstreifen, die aus dem Wagen stürmt und in dem Haus verschwindet. »Was zum Teufel macht die hier?«, zischt Enis.
Mitch blickt ihn an. »Sag bloß, du kennst die Dame? Ist ja ein echter Hingucker.«
»Pass bloß auf, dass die dich nicht genauer anguckt, dann hast du ein Problem. Das, mein Lieber, ist der neue Star der Frankfurter Mordkommission, sie hört auf den schönen türkischen Namen Canan Aydin, ist eine waschechte Frankfurterin, im Gallus aufgewachsen, gegen den Willen ihres Vaters zur Polizei gegangen und hat dort tatsächlich Karriere gemacht. Ich habe mal ein Portrait über sie gemacht, in einer Geschichte über Frankfurts erfolgreiche Migrantinnen. Sie sieht toll aus und ist kalt wie Hundeschnauze. Die ganzen kleinen türkischen Machos haben sich die Mäuler zerrissen über sie, haben sie als Lesbe beschimpft, weil sie keinen Bock auf Heiraten hat. Allerdings glaube ich nicht, dass es sehr viele türkische Männer gibt, die eine Frau heiraten wollen, die mit ner Knarre rumläuft und Mördern Handschellen anlegt.«
Mitch lächelt Enis an. »Man muss ja nicht gleich heiraten, aber wenn du sie schon kennst, dann stell mich doch mal der Dame vor.«
Enis kichert vor sich hin. »Kann ich versuchen. Aber mach dir mal keine Hoffnungen.«
Da es vermutlich eine Weile dauern wird, bis die Kommissarin das Haus wieder verlässt, beschließen die beiden, ein Bier zu trinken und sich den Livekrimi aus der ersten Reihe anzuschauen. Eine gute halbe Stunde später verlässt die Kommissarin das Gebäude, spricht kurz vor der Absperrung mit dem Einsatzleiter des SEK. Als sie zu ihrem Wagen geht, ruft ihr Enis zu: »Frau Aydin, auf einen Moment.«
Sie wendet sich in Richtung des Rufers, erkennt Enis, kommt auf ihn zu. Sie begrüßt Enis, blickt dann zu dem neben ihm stehenden Mitch. »Ach ja, sorry, das ist Mitch Berger, ein Kollege, wir sitzen gerade an einer Story über unser schönes Viertel hier.«
Mitch reicht der Polizistin mit einem Sonntagslächeln die Hand, wobei er den Blick kaum von ihren intensiven dunklen Augen und ihren zart geschwungenen Lippen nehmen kann. In ihrem kurzen schwarzen Haar entdeckt er einige graue Einsprengsel, die sie aber nur noch interessanter machen. »Mitch Berger, den Namen kenne ich. Sie haben zweimal ziemlichen Wirbel gemacht. Einige Kollegen halten Sie für einen Blender, andere für einen ziemlich guten Journalisten. Und, Herr Berger, was sind Sie?«
»Finden Sie es raus, Frau Kommissarin!«
Einen Moment lang schauen sich die beiden an. Mitch würde am liebsten die Zeit anhalten. Dann wendet sich Canan Aydin an Enis. »War eine ganz normale Drogenrazzia hier, bis in einer Wohnung ein Herr mit einem Einschussloch in der Schläfe gefunden wurde. Wahrscheinlich eine Auseinandersetzung unter Dealern, aber klarer Mord, deswegen bin ich hier.«
Enis nickt. »Die Adresse hat ja im Viertel einen einschlägigen Ruf.«
»Klar, ich weiß, ein bekanntes Drogenhaus. Dass hier auch Leichen mit Einschusslöchern rumliegen, wusste ich nicht. Pikant allerdings, die Wohnung, in der der Tote lag, gehört Benno Stiller. Aber das habt ihr nicht von mir.«
Wieder blickt sie zu Mitch. »Hat mich gefreut, Herr Berger. Wenn Sie über das Viertel hier schreiben, dann sieht man sich bestimmt wieder.«
»Darf ich Sie mal anrufen? Die Meinung einer Polizistin über das Viertel interessiert mich brennend.«
Ein spöttisches Lächeln spielt um ihren schönen Mund. »Wenden Sie sich an den Kollegen Reinhardt, der ist für Presseanfragen zuständig. Tschüss, ihr beiden.«
Mitch schaut Canan nach, bis der BWW links abbiegt.
»Eine beeindruckende Frau. Wow.«
»Mitch, bist du bescheuert, du kannst doch nicht ernsthaft mit einer Frau von der Mordkommission flirten.«
»Enis, du bist ein so fitter Hund, du hast im Gegensatz zu mir fast immer nur lokale Frankfurtthemen gemacht. Ich bin mir sicher, dass du die Handynummer der Dame hast. Bitte gib sie mir, damit schulde ich dir echt was.«
»Mitch, du spinnst, selbst wenn ich die Nummer hätte, ich kann nicht eine Privatnummer rausgeben, die ich mal im Vertrauen bekommen habe. Okay, weil du es bist. Ich tue es für die deutsch-türkische Freundschaft. Hier liegt mein Handy, ich geh eben mal pinkeln. Kann ich was dafür, wenn du mein Handy filzt?«
Mitch strahlt Enis an, wartet ein paar Sekunden, öffnet die Kontakte, kopiert den Eintrag Canan Aydin auf sein Handy. Als Enis zurückkommt, schaut er Mitch an, schüttelt dann den Kopf. »Du bist echt ein Freak, ich habe schon Typen erlebt, die sich hier in eine Nutte verlieben oder in eine Fixerin, die sie retten wollen. Aber du bist der erste, der die Mordkommission bespaßen will. Du spinnst. Okay, ich habe dich gewarnt!«
Dann wird er ernst. »Ist dir aufgefallen, dass schon wieder der Name Benno Stiller gefallen ist? Der Mann drängt mit Macht in unsere Geschichte.«
Mitch nickt. »Ich rufe ihn an.«
Er würde jetzt am liebsten nach Hause gehen, um ungestört ein paar Artikel über die Frankfurter Mordkommission und Frau Canan Aydin zu lesen, aber Enis besteht darauf, die Tour durchs Viertel fortzusetzen.
Er führt Mitch zurück auf die Münchener Straße und steuert das Moseleck an, eine legendäre Eckkneipe, die längst unter Denkmalschutz stehen müsste.
»Ich muss dir mal was original Deutsches zeigen.«
Im Moseleck haben sich Generationen von Gästen mit Bier und Korn über den Verlust ihrer großen Liebe getröstet und mit Bacardi-Cola auf ein neues Leben angestoßen. Und hier wurden und werden die Spiele der Eintracht zelebriert. Die verrauchten Wände sind mit Memorabilien geschmückt, Frankfurter Fußballlegenden wie Grabowski, Hölzenbein und Yeboah hängen dicht an dicht nebeneinander. Der stämmige, ausgiebig tätowierte Mann hinter der Bar knallt kommentarlos zwei Pils auf den Tresen und widmet sich dann wieder einem aufgeregten Stammgast, der gestern Abend augenscheinlich die Frau seines Lebens kennengelernt hat, sich jetzt aber nicht mehr sicher ist, ob es sich bei der Angebeteten tatsächlich um eine Frau handelt. Mitch betrachtet gerührt die Fotos der Eintracht-Ikonen, zeigt auf Tony Yeboah, blickt dann zu Enis. »Weißt du, dass die Eintracht kein Spiel verloren hat, in dem Uwe Bein und Yeboah zusammen auf dem Platz standen?«
Enis nickt nicht sehr überzeugt. »War ein bisschen vor meiner Zeit.«
Dann kramt Enis in seiner Tasche, fischt sein Handy heraus, hält Mitch ein Bild der berühmten Nordwestkurve des Waldstadions unter die Nase. Ein wildes Fahnenmeer, Transparente, gereckte Fäuste, vom Jubeln verzerrte Gesichter.
»Sieht gut aus wie immer«, murmelt Mitch, »aber was willst du mir jetzt damit sagen?«
Enis vergrößert das Bild, zoomt ein Transparent groß raus. »Lies mal«, fordert er Mitch auf.
»Vallah, Beuth ist haram«, liest Mitch. »Ist mir unklar, was uns die Jungs damit erzählen wollen. Von den drei Wörtern sagt mir nur Beuth was, das ist doch unser Innenministerdarsteller aus Wiesbaden, der den Ultras eine super Choreographie kaputtgemacht hat, weil er vor einem echt wichtigen Spiel unbedingt das Stadion nach Pyros durchsuchen lassen musste. Der Rest sagt mir nichts.«
Enis grinst. »Das ist gelungene Integration, Mitch, Vallah ist arabisch und türkisch und bedeutet: bei Gott. Und haram ist das Gegenteil von halal, also unrein, verboten. Es heißt also: Bei Gott, Beuth ist unrein. In der wildesten Ecke der Eintrachtfans hast du demnach Leute, die genauso gut hätten schreiben können, Beuth ist ein Arsch, aber sie zeigen, wo sie herkommen, zeigen ihre Religion. Und was das Beste ist, sie wissen genau, dass auch die deutschen Jungs, mit denen sie in der Kurve stehen, verstehen, was das Transparent sagt, weil sie selber längst solche Worte in ihre Sprache übernommen haben. Das ist die Leitkultur des Waldstadions. Das macht mir Mut. Dagegen ist viel Multikulti-Gesülze reine Oberfläche, kommt von Leuten, die viel zu privilegiert sind, um zu wissen, dass Multikulti auch stressig sein kann. Wenn es mal krachen sollte in der Stadt, wenn ne richtige Krise kommen sollte, würde ich mich auf die Jungs im Stadion verlassen, die gehen sich nicht gegenseitig an die Gurgel.«
Mitch lacht. »Vallah, Enis, die Eintracht ist halal.«