Читать книгу Ständig ist der Teufel los (Buch 2) - Hardy Juhnke - Страница 8
Wahnsinn und Methode
ОглавлениеLangsam nahm das Fernbleiben des eisernen Erich für Rektor Riester bedrohliche Ausmaße an. Scheinbar war die alte deutsche Eiche auf längere Zeit nicht vom Lazarett abkömmlich. Zu oft gab Stuka bei uns Vorführungen seiner Vorstellung einer Vertretungsstunde. Die saftigen Mehrstunden bei Frl. Radke glichen das nicht vollkommen aus. Er glitt in letzter Zeit, stärker als in der üblichen Dosis, in Erinnerungen an kriegerische Großtaten ab. Ausgelöst durch ein Treffen ehemaliger Flugzeugführer, leuchteten die Tage in den Wolken wieder stärker aus ihm hervor.
Also erlebten wir die gefährlichen Kämpfe nochmals anschaulich mit. Zusehends schien er auch die Berichte anderer Helden der Lüfte in seinen Schilderungen zu verarbeiten. Sie unterschieden sich nicht sonderlich und brachten keine Verbesserung unserer Interessenslagen. Ich will nicht behaupten das es unspektakulär wäre, wenn jemand davon erzählt wie dicht ihm der Tod auf den Fersen war. Aber er wird jedes Mal überleben, soviel war sicher und uns durchaus bekannt.
Das Bodenpersonal musste etwas unternehmen. So schön es auch war auf Unterricht zu verzichten, wir wollten raus aus dem Sturzkampfbomber. Gento meinte, es wäre wie die Wiederholung der Sportschau. Irgendwann kennst du alle Spielzüge und weißt alle Ergebnisse. Ideen und Strategien waren gefragt. Das unser Direktor sich gerne reden hörte, werden wir nicht ändern können. Es war nur denkbar die Themen seiner mündlichen Referate zu steuern. Die aktuelle Weltpolitik erklärt zu bekommen hatten wir keine Lust. Außerdem war ich genügend instruiert von meinem väterlichen Führungsoffizier. Da hatten Vater und Riester sowieso keine zwei Meinungen. Von den gescheiterten Versuchen Zivilisation und Arbeitsmoral in den Rest der Welt zu bringen waren wir auch erzählerisch überversorgt.
Brando meinte: >Wenn es zu hart wird, lassen wir unseren Schulmeister über die kulturellen Errungenschaften afrikanischer Negerstämme referieren. Bei dem Thema explodiert er doch förmlich. < >Beschreibungen außergewöhnlicher Sex Praktiken geiler Naturvölker können wir von Stuka nicht erwarten<, grenzte Gento diese Überlegungen ein. >Ich werde aber auch keine mathematische Frage stellen<, gab Brando bekannt. >Ich habe vielleicht eine Idee<, meldete ich mich in der Runde zu Wort. >Die werfen doch mit Sprüchen aus diesem Faust Buchschinken nur so um sich. Der Oberst, Eisen Erich und auch mein Vater. Führen sich dabei auf, als würden sie aus der Bibel vortragen<. >Ja, stimmt auffallend<, meinte Brando. >Soll er uns doch mal erklären was es damit auf sich hat. Ich weiß nur, dass dieser Schiller lange tot ist<. >Genau<, stimmte Gento mir zu,> und dieser Goethe auch. >Hey<, rief Brando. >In dem Buch gibt es was mit Hexen! In einer sogenannten Walpurgisnacht. Da muss es richtig zur Sache gehen, denn wenn mein Vater sagt: >>Es ging letzte Nacht in der Drachenburg zu wie in der Walpurgisnacht<<, weiß ich schon was er damit meint.
Wir brauchen einfach mehr Themen der Ablenkung. Wenn wir die Mädchen ärgern wollen, locken wir ihn mit Fragen über die Bestimmung der Frau in Ehe und Gesellschaft. Damit die mal wieder Bescheid wissen und wieder netter zu uns sind<. >Genau<, meinte Gento. >Jede Frau braucht einen Führungsoffizier, soviel ist mal klar. Mein Alter ist auch ein Führungsoffizier. Meine Mutter fragt schon lange nicht mehr woher er gerade kommt, wenn sein Mercedes erst spät nachts die Einfahrt findet. Früher sagte er noch: >>Frag erst gar nicht, es ist so anstrengend! Aufträge besiegeln, das Wohl der Gemeinde im Auge haben und nach üppigem Essen und zwangsläufigem Trinken den Weg nachhause finden, - ein ungenannter Opfergang! Nur gut, dass du nicht dabei sein musstest. Vielleicht erhalte ich dafür ein paar extra Tage Ablass im Fegefeuer. << War eine seiner unzähligen, aber wirksamen Reden. Meine Mutter fragt ihn schon lange nichts mehr von Belang, auch weil die Gemeinde nicht mehrheitlich katholisch ist und der Bürgermeister sich in keiner Kirche sehen lässt. Sie hat ihn irgendwie sittlich, moralisch und religiös aufgegeben, glaube ich. >>Der Zweck heiligt die Mittel<<, meint der Alte zu seinem Lebenswandel und meine Mutter sagt: >>Dem sei nichts mehr heilig! <<
Seit ich Quittungen in seinem Büro liegen sah, verstehe ich das noch besser. Die waren alle auf Aushilfe- Bürotätigkeiten ausgestellt. Alle auf die Namen von Frl. Marisa und Frl. Helga, die kennt ihr ja auch. Wie viele Stunden wollen die denn im Büro gearbeitet haben, fragte ich mich, bei den gezahlten Summen. Außerdem würde mir bei Marisa und Helga spontan was anders einfallen. Obwohl, natürlich kann man es auch im Büro miteinander treiben. Dann wäre es ja zumindest wirklich eine Tätigkeit im Büro und dem Finanzamt ist genüge getan. Habt ihr mal ihre langen, roten Fingernägel gesehen? Damit kann sie bestens auf Männerrücken rumkratzen, aber doch wohl kaum eine Schreibmaschine bedienen. Oder seht euch ihren feuerroten Mund an! Mit dem können sie harte Stangen durchfärben und nebenbei glücklich machen. Da hast du keine Fragen mehr und unterschreibst solche Quittungen. Das würde ich auch gerne tun, bei passender Gelegenheit! <
Die Stunde der Wahrheit kam schon am nächsten Tag. Kaum hatte unsere Langzeitvertretung die Bühne betreten (Die Radke musste gerade Sportstunden retten, die waren dem Direktor sehr wichtig) meldete ich mich zu Wort: >Herr Direktor, uns brennt da was unter den Nägeln<, gab ich bekannt. Gönnerhaft interessiert schritt der Meister der Kriegserzählung durch die Klasse und musterte besonders die Mädchen mit seinem überlegenen Flugzeugführerblick ab. Besonders die Rosi versprach sich mit extra Augen klimpern und laszivem Lächeln noch die Rettung in letzter Minute. Eine mehr als wohlwollende 4 in Mathematik wäre bei Eisen Erich wenigstens an einem Hauch von Leistung gekoppelt gewesen. Aber beim Schuldirektor dieser dekorierten Leistungsturnerin wäre diese Mehrarbeit doch wohl nicht nötig, ahnte Rosi bereits.
>Nur zu, berichte er<, kam die Aufforderung an mich. >Es ist nämlich so<, begann ich, so militärisch wie möglich wirkend. >Wir sind nun älter und bekommen, hier und da, einiges mehr mit. In letzter Zeit fällt uns auf, dass in unserer Umgebung vom Faust, oder vom Dr. Faust, die Rede ist. Aus diesem Buch zitieren unsere Väter und andere auch. Das hört sich klug an, aber so richtig verstehen kann ich es nicht. <
>Hat noch jemand ähnliche Erlebnisse<, fragte jetzt der Direktor in die Klasse hinein. Sofort war Gento zur Stelle und hob die Hand. >Nun, Sohn unseres überaus aktiven Bürgermeisters, was hast du Konkretes zu berichten? < > Ja, also mein Vater kennt den Dr. Faust. Er sagt zum Beispiel so Sachen wie: „Mehrheit ist stets Unsinn, Verstand ist immer nur bei uns gewesen“. Oder: „Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!“ Das klingt voll nach Faust, meine ich. Er sagt aber auch Sätze die ich schon verstehe, wie zum Beispiel: „Gehst du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht!“<
Dann wurde es seltsam ruhig im Klassenzimmer. Der Direktor starrte aus dem Fenster zu einem unbekannten Ziel in weiter Ferne und zeigte keine Anzeichen damit aufzuhören. Bis rote Locke, der Sohn einer dörflichen Kommunisten Dynastie, aus irgendeiner Amnesie erwacht, mit erhobener Hand aufstand und zur Rede ansetzte. >Das mit der Mehrheit mag für die verdummten Massen im Westen gelten, sodass man im Osten einen Schutzwall errichten musste. Im demokratischen Arbeiter- und Bauernstaat regiert jedenfalls wirklich das Volk. Im Gleichschritt mit den Bruderstaaten marschiert der Kommunismus paradiesischen Zeiten entgegen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche! <
>So, so<, sagte Riester, >Wenn das so sicher ist, dann könnt ihr sicher ein paar mehr Paradiessucher unter den Arbeitern und Bauern gebrauchen! Öffnet das Land wo Milch und Honig fließen nur für 24 Stunden. Kein Schutzwall, kein Todesstreifen und kein Schießbefehl! Wollen mal sehen, was passiert! < > Lenin sagte dazu: Man kann nicht zugleich in der Gesellschaft leben und frei von ihr sein<, gab rote Locke sein Fachwissen weiter preis. >Interessante, gefährliche Interpretation<, sagte der Direktor.
>Da, Herr Jung-Kommunist, wird ihr Revoluzzer Vorbild, besonders was die Ostzone angeht, die Wahrheit getroffen haben. Denn eingemauert lebt es sich nicht so frei, könnte ich mir denken. Scheinbar gibt man nicht mehr viel auf seine Worte, zumindest in dem sowjetischen Vielvölkergefängnis. Oder sind die Worte eines toten Kommunisten weniger wert? Und womöglich hat er auch Recht damit, wenn er sagt: Wer die Jugend hat, der hat auch die Zukunft! Das kommt mir geschichtlich sehr bekannt vor. Wahrscheinlich brauchten seine Elitelümmel Nachfolger von der Volkserziehung diesen Schutzwall dringend, weil man sich ausrechnen konnte wann die Zone menschenleer wäre. Hat man 1961 nicht so Sachen gesagt wie: Der Letzte macht das Licht aus? <
Jetzt hielt rote Locke voll dagegen: >Der Kommunismus wird Lebensfreude, Lebenskraft und ein erfülltes Liebesleben bringen, erklärt kein Geringerer als Lenin selbst. Seine Worte wurden Brot, Traktoren, Maschinen, Schulen, Fabriken und Waffen! Der einzelne Bürger hat nur 2 Augen, aber die kommunistische Partei hat 1000 Augen und das macht den Unterschied in der Qualität.
Der Direktor schaute zur Decke und antwortete: > Ja, vielleicht sind die von der SED erfundenen Blockparteien im Arbeiter- und Bauernparadies auch die Grundlage für ein besseres Leben, wenn es denn mal käme. Dass es im Winter Badehosen zu kaufen gibt ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss, aber was weiß ich denn schon. Wenn ich so lese, was ein Fernseher kostet oder ein Auto. Wenn ich höre, wie lange man auf ein Auto warten muss. Es soll in die Jahre gehen und wer nicht lupenrein linientreu ist fährt sowieso weiter Fahrrad oder höchstens Moped. Ihr Kommunisten wollt zwar die Menschheit retten, aber der einzelne Mensch ist euch dabei wohl nicht so wichtig. <
>Ja, ja<, antwortete nun wieder der zukünftige Vollstrecker der vernunftbegabten Zukunft. >Die Mühlen der West Propaganda mahlen die Wahrheit zu feinstem Staub und erfundene Tatsachen streuen sie über viele Kanäle auf das am verblöden befindliche Volk! <
>Junger Mann, meist du etwa uns damit<, und mit kapitulierendem Unterton fragte Riester sich eher selbst: >Hört das denn niemals auf? Fängt das immer wieder von vorn an?
>Meine Herren FDJ-ler Idealisten, was Sozialismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus oder Demokratie alles sein kann, sieht man ja immer wieder an Beispielen der bösen Wirklichkeit. Ansonsten sind das alles nur Begriffe für Systeme aus der Wundertüte, die sich in der Praxis in Ungeheuerlichkeiten verwandeln können, wie z.B. der Stacheldraht Kommunismus in der Erziehungsanstalt Ostzone, vom totalitären großen Bruder argwöhnisch bewacht. Kinder, oft machen nur die Menschen an der Macht den entscheidenden Unterschied aus. Solange Andersdenkende ins Gefängnis gesperrt werden, um sie später teuer an den Westen zu verkaufen, kann ich diesen Menschenhändler und Inquisitionsgenossen nichts Positives abgewinnen. Ich hoffe die vergehen eines Tages im Mahlstrom der Geschichte! <
Sichtlich enttäuscht über den fehlenden politischen Sachverstand seines Direktors, dass mit dem Kommunismus alles anders werden würde, ja zwangsläufig anders werden müsste, schmollte rote Locke vor sich hin. In der Pause erklärte er jedem der es hören musste, wie kaputt im Kopf die alten Nazis doch sind. Der Riester müsste es doch besser wissen, immerhin hat er damals für die falsche Seite gekämpft, für den faschistischen Klassenfeind! Aber, den Siegeszug der arbeitenden Klasse wird er nicht mehr, wird niemand mehr, verhindern können. Dazu sei die Menschheit jetzt zu weit entwickelt, zu gebildet!
Kopfschüttelnd ging Riester wieder durch die Reihen. Es war eine Zäsur, eine Zeitenwende.
Der Lack der verdrängten Vergangenheit bekam Risse. Mittendrin, als eine ihrer Symbolfiguren, der alternde Kampfflieger mit bröckelnder Fassade. Man sah ihm mehr als sonst sein Alter und die Erfahrung von Kriegern an. Dann verdrehte Stuka die Augen zum Himmel, taumelte zum Lehrertisch, ließ sich auf den Stuhl fallen und übernahm wieder das Wort: >Welch erhabene Sinnlosigkeit! Und trotzdem, ganz ehrlich, Kinder: In Zeiten der Internationalisierung hätte ich euer Interesse an diesem Schatz abendländischer Dichtung nicht zwangsläufig erwartet. Ach Kinder, der Goethe ist, wie so vieles jetzt, aus der Zeit gefallen<. Er erhebt sich, stellt sich vor die Klasse und rezitiert:
Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.
Ist es Gottes Werk, so wird' s bestehen.
Ist es Menschenwerk, wird' s untergehen.
Das stammt allerdings aus Shakespeares Hamlet, meine Damen und Herren. Aber, hört euch auch das mal an:
Was ist die Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn.
Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen.
Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat?
Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?
Er muss dem Mächtigen, der ihn bezahlt,
um Brot und Stiefel seine Stimme verkaufen.
Man soll die Stimmen wägen und nicht zählen.
Der Staat muss untergehen, früh oder spät,
wo Mehrheit siegt und Unverstand entscheidet.
>Ja natürlich! Das ist von einem großen Deutschen erdichtet worden, unseren Friedrich Schiller.
Welch tiefe, gefährliche Wahrheit steckt in diesen Zeilen. Das könnt ihr, mit euren paar Lenzen, noch gar nicht begreifen. Das sagt euch, hier und heute, ein alter Mensch mit Lebenserfahrung<.
Spontan schickte der Sohn vom Apotheker hinterher: >Mein Vater hat auch gesagt, dass der Schiller gemeint hat: “Demokratie ist die Diktatur der Dummen“. < Wieder blickt der Direktor flehend zum Himmel. >Mein Vater sagt jedenfalls, der Faust hätte viel zu billig seine Seele verscherbelt, < gab Gento nun zum Besten.
Da fühlte sich der Direktor erneut angesprochen klärende Worte zu formulieren: > Kinder, Kinder, in der Literatur ist der Pakt mit dem Teufel nichts außergewöhnliches und hat weiterhin großes Potential. Es brennen nicht nur die Hexen, sondern der Himmel, das Meer und die Erde! Eine Walpurgisnacht kann für den einen oder anderen zum Armageddon werden. Schaut nicht nur bei Goethe, schaut auch in die Bibel! <
Dann erzählte er uns von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft: >Gut und Böse gehören zusammen wie der Tag und die Nacht, wie warm und kalt. In jedem Menschen!
Ich meine, dass dem Menschen in dem Maße in dem sein Bewusstsein weiß wie es sich verhält mit Gut und Böse, erkennen muss, dass er es ist, der die Entscheidungen trifft, etwas so oder so zu tun. Dabei hat der Mensch gar keine Möglichkeit nur Gutes zu tun. Denn in jeder guten Tat ist auch etwas Böses enthalten und andersrum. Aber Goethes Faust müssen wir gezielt in Angriff nehmen und ich werde mich darauf vorbereiten. Lehrplan hin oder her, das ist immerhin höchstes deutsches Kulturgut! <
Es klingelte zur Pause, aber der Direktor blieb noch ungewöhnlich lange im Klassenzimmer sitzen. Die Eintragung im Klassenbuch lautete später: "Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode“.