Читать книгу 13 Wochen - Harry Voß - Страница 12
9. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Tag durchsuchte Simon zuallererst die Abstellkammer, ob irgendetwas fehlte. Da er sich in dem Gerümpel seiner Eltern nicht auskannte, konnte er das nicht feststellen. Er fragte seine Mutter, ob sie was Wichtiges aus der Abstellkammer oder sonst irgendwo im Haus vermisse. »Ein Glas Gurken, ein eingeschweißter Kuchen und ein Glas Fleischwürstchen«, stellte sie mit Blick auf den Vorratsschrank fest.
»Na toll«, stöhnte Simon. »Ich meinte eigentlich mehr, ob wirkliche Wertgegenstände fehlen. Gold, Schmuck, Handys oder so was.«
Die Mutter schaute sich in mehreren Zimmern um, aber das Einzige, was sie sonst noch vermisste, waren zwei Päckchen Kekse aus der Küche. »Hast du die weggenommen, Simon?«
»Nein!« Und sicher würde hier kein Einbrecher ins Haus kommen, um Kekse und Gurken zu klauen. Das war ja lächerlich!
Am Nachmittag fand Simon im Gartenhäuschen ein abgebrochenes Bein aus Metall von einem Gartenstuhl. Damit bewaffnet ging er geradewegs zur Stadt hinaus in den geheimnisvollen Wald. Per Handy versuchte er noch, Jan oder einen der anderen Kumpels zum Mitkommen zu überreden. Aber keiner hatte Lust. Und den Freunden was von seinem rätselhaften Doppelgänger erzählen wollte er auch nicht. Das Ganze wurde doch immer unglaubwürdiger. Außerdem hatte er Angst, die anderen könnten ihn für verrückt halten. Sobald er den ganzen Fall aufgeklärt hatte, dann könnte er nachträglich all die verdrehten Ereignisse erzählen. Oder ein Buch darüber schreiben. Aber jetzt musste er erst mal heil aus der Nummer rauskommen.
Der Weg durch den Wald zog sich ziemlich lang. Wieder schaute er zu den riesigen Bäumen nach oben. Durch den Wind beugten sie sich leicht vor und zurück, als wollten sie ihm irgendwas mitteilen. Ihn warnen. Je weiter er allerdings in den Wald hinein gelangte, umso weniger Geräusche kamen von den Bäumen. Als hielte der Wald den Atem an. Gleich passiert hier etwas, dachte Simon und verlangsamte automatisch sein Tempo. Immer wieder schaute er sich nach allen Seiten um, während er weiterging. Dann endlich erreichte er die Weggabelung, an der er mit seinen Eltern links abgebogen war. Jetzt lief er vorsichtig geradeaus weiter, an den letzten Bäumen vorbei bis zu der Waldlichtung. Nach ein paar Schritten über die Wiese blieb er an einem alten, halb verfallenen Zaun stehen, der ein großes ungemähtes Wiesengelände von dem vorderen Wiesenstück abgrenzte. Ein morscher Torflügel hing müde in den Angeln eines ebenso alten Torpfostens. Der andere Torflügel lag auf dem Boden und war von Moos und kleinem Gestrüpp schon halb überwuchert. Simon atmete einmal tief ein und wieder aus, dann überwand er sein flaues Gefühl im Bauch und ging los. Langsam und sich immer noch nach allen Seiten umschauend durchschritt er das Tor und betrat das Gelände. Still und unheimlich lag das alte, vergammelte Häuschen am Ende der Wiese. Die Wände bestanden an manchen Stellen aus Fachwerkbalken, in deren Zwischenräumen Ziegelsteine gemauert waren. Teilweise waren die Wände aber auch nur aus Holz gezimmert. Zumindest sah das für Simon so aus. Das Dach war von der Witterung völlig aus der Form geraten. Schief und krumm wand sich der Dachgiebel von einem Ende des Gebäudes bis zum anderen. Erstaunlich große Teile der Dachdeckung waren noch in Ordnung. An etlichen Stellen fehlten aber bereits Dachziegel, sodass sowohl Regen und Wind als auch Vögel, Ratten und andere Tiere eindringen, ihre Nester bauen und damit den Verfall der Mühle noch vorantreiben konnten. Hinter dem Haus plätscherte ein kleiner Bach. Dort faulte ein morsches Mühlrad im Wasser vor sich hin. Insgesamt lag die Mühle da wie ein alter Drache, der es sich am Bach gemütlich gemacht und damit beschlossen hatte, dort seinen Lebensabend zu verbringen. Und trotzdem strahlte das Ganze eine merkwürdige Atmosphäre, ja fast einen Zauber aus. Oder bildete Simon sich das nur ein? Die kleine Tür an der schmalen Vorderseite und die beiden Fenster rechts und links darüber bildeten zusammen so etwas wie ein Gesicht: zwei Augen, eine Nase. Fehlte nur noch der Mund. Das Maul. Simon schüttelte den Kopf. Jetzt bloß nicht kindisch werden! Einen Augenblick musste er tief durchatmen, bevor er die alte Holztür aufdrückte. Sie quietschte, als würde man einer alten Hexe auf den Fuß treten.
»Hallo?« Simon musste sich leicht ducken, um durch die Tür nach innen zu gelangen. »Hallo, ist da jemand?«
Der Raum hinter der Tür war groß, aber mit niedriger Decke. Simon konnte gerade eben aufrecht stehen. Es stank nach altem, verfaultem Holz, vermoderten Tierleichen und Katzenpisse. Ein bisschen auch nach Kerzenqualm. Der größte Teil des Raumes wurde von einem riesigen Zahnrad aus Holz eingenommen, das durch ein dickes Rundholz durch die hintere Außenwand hindurch mit dem alten Mühlrad draußen im Bach verbunden war. Riesige Stützpfeiler und Querbalken versuchten mit letzter Kraft, die morsche Zimmerdecke oben zu halten. An den Wänden lehnten alte Regale, von denen zum Teil nur noch ein oder zwei Regalböden übrig geblieben waren. An einem Tisch standen zwei Stühle. Einige Kerzen auf dem Tisch. Mehrere Kisten und Truhen in dem Raum. Werkzeuge, Hammer, Sägen und Geräte, die Simon noch nie gesehen hatte. Obwohl alles alt und morsch war, wirkte es doch irgendwie aufgeräumt. Als würde hier doch jemand wohnen.
»Hallo?« Die Stille in diesem Raum war beängstigend. Simon versuchte weiterhin, alle Ecken des Raumes gleichzeitig im Blick zu behalten. Dann entdeckte er eine Matratze auf dem Boden. Sie war mit einem modernen Spannbettlaken bezogen. Darauf lag ein Schlafsack, daneben ein Kissen. Der geheimnisvolle Eindringling, der gestern in seinem Haus gewesen war, hatte hier wohl sein Lager aufgeschlagen. Der Rucksack, den er in der Nacht noch getragen hatte, lag aber nicht dabei. Trotzdem. Nun war Simon dem Geheimnis schon sehr, sehr nahe gekommen. Wenn sein fremdes Gegenüber jetzt auch hier in der Mühle war, dann saß es in der Falle. »Komm raus!«, rief Simon und drehte sich dabei in verschiedene Richtungen. »Ich weiß, dass du da bist! Verstecken ist zwecklos!«
Im hinteren Bereich der Mühle befand sich eine Treppe nach oben. Jede einzelne der Stufen sah aus, als würde sie bei der nächsten Berührung mit einem Menschen endgültig zusammenbrechen. »Bist du da oben?«
Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die unterste Stufe. Es knarrte bedrohlich. »Ich komm jetzt hoch! Und ich hab eine Waffe in der Hand! Du hast jetzt noch eine letzte Chance, dich zu ergeben!«
Die nächste Stufe. Knarz! Simon ging weiter. Bei jedem Schritt ächzte die Treppe, als wollte sie ihn warnen, bloß nicht weiterzugehen, oder er würde von den Geistern dieses Holzgebälks verschlungen. Je höher er kam, umso mehr hatte er das Bedürfnis, sich an dem schmalen Treppengeländer festzuhalten. Aber das sah so morsch aus, dass er sich noch nicht einmal traute es anzufassen. Um nicht seitlich von der schmalen Treppe zu fallen, stützte er sich mit den Händen auf den Stufen vor ihm ab und tastete sich so nach oben. Wenn ihn die anderen in seiner Klasse so gesehen hätten, hätten sie sich totgelacht. Aber hier sah ihn niemand. Und jetzt musste er dem Geheimnis auf den Grund gehen.
»Wo bist du? Komm raus!«
Im oberen Stockwerk war es noch enger. Im Grunde konnte er nur hier, am Ende der Treppe, direkt unter dem Dachgiebel, aufrecht stehen. Rechts und links davon fiel die Dachschräge steil ab. Mehrere riesige Zahnräder griffen hier ineinander. Dicke Lederbänder verbanden quer durch den Raum weitere Holzräder, die ihrerseits wiederum Balken und Zahnräder bewegen sollten. Große Holztische und Holzwannen, die dazwischen herumstanden, machten es ihm fast unmöglich, sich überhaupt auf dem Dachboden fortzubewegen. Aber schon der erste Schritt nach der Treppe in Richtung Zahnrad war zu viel. Der Lehmboden unter seinem Fuß krachte, Holz und Putz splitterten und Simon fiel schreiend nach vorne auf den Bauch.
Glück gehabt! Er war nicht ganz durch die Decke gebrochen. Nur sein Fuß war an einer morschen Stelle eingekracht und steckte nun in einem Loch im Boden. Simon setzte sich aufrecht hin und zog den Fuß vorsichtig aus dem Loch heraus. Puh, das war ja gerade noch mal gut gegangen. Vorsichtig rutschte er auf seinem Hintern auf dem Dachboden zurück bis zum oberen Ende der Treppe.
»Ich seh dich!«, rief er laut, obwohl das überhaupt nicht stimmte. Aber er hoffte, seinen Gegner dadurch zu verunsichern. Es blieb still. Kein Geräusch, außer seinem eigenen Schnaufen. Und dem Krächzen der Holzbalken, während er jetzt, immer noch auf dem Hintern Stufe für Stufe nach unten rutschte wie ein Kleinkind, das noch keine Treppen steigen konnte. Peinlich!
Unten angekommen, ging er noch einmal um das große Zahnrad in der Mitte herum. Seine Schritte klangen in seinen eigenen Ohren wie die eines Offiziers, der prüfend einen Raum inspizierte, ob er auch richtig sauber geputzt war. Er stellte sich vor, wie sein Gegner jetzt irgendwo hier in einem Versteck saß und sich tierisch vor diesen unheimlichen Schritten fürchtete. Ja, sollte er ruhig Angst bekommen, sofern Dämonen oder Frankensteinmonster überhaupt so etwas wie Angst empfinden konnten. Als er wieder bei der Tür angekommen war, blieb er noch eine Weile stehen und lauschte, ob noch ein Geräusch zu vernehmen war. Aber er hörte nichts. Vielleicht war dieses Wesen ja heute außer Haus. Auf Menschenjagd. Oder auf Simonjagd. Oder es wurde nur nachts sichtbar. Oder es war auf sonst irgendeiner verbrecherischen Beutetour. Wie auch immer – hier war jedenfalls niemand. Ein letztes Mal brüllte er bedrohlich: »Ich komme wieder! Verlass dich drauf!« Dann ging er nach draußen ins Freie.
Er nahm sich vor, an einem anderen Tag noch einmal wiederzukommen. Jetzt wusste er ja genau, wo der Widersacher sein Lager aufgeschlagen hatte. Jetzt konnte er jederzeit zurückkommen und nachschauen. Sein Selbstbewusstsein steigerte sich wieder, als er die Wiese durch das Tor verließ und wieder den Waldweg betrat.
Nach ein paar Metern zu Fuß durch den Wald sah er, wie ihm jemand auf dem Fahrrad entgegengefahren kam. Simon war auf dem Weg in die Stadt und der Radfahrer kam aus der Stadt und fuhr Richtung Waldmitte. Als das Fahrrad näherkam, erkannte er, dass es Nadja war. Sofort spürte Simon, wie heiße und kalte Wellen gleichzeitig in seinem Bauch Achterbahn fuhren. Wenn er überhaupt noch mal eine Chance bei ihr haben wollte, dann müsste er jetzt und hier aktiv werden. Nicht zu frech, aber auch nicht zu eingeschüchtert. Als sie nah genug herangekommen war, ging er an den Rand des Waldwegs, ließ eine Hand in der Hosentasche und hob die andere zum Gruß.
»Hallo«, grüßte er so normal, fröhlich und lässig wie möglich.
Das Lachen verschwand aus Nadjas Gesicht. »Mistkerl«, grüßte sie zurück und trat in die Pedale, um möglichst schnell an ihm vorbeizukommen. Simon zwang sich ruhig zu bleiben. Er bewegte sich dabei leicht auf das Fahrrad zu. »Nadja! Lass uns reden!«
Nadja wich mit dem Fahrrad aus. »Worüber denn?«
»Über … über den Teentreff!« Das war das Einzige, das ihm einfiel.
Nadja bremste scharf und blieb mit einem Bein auf dem Boden stehen. Der andere Fuß stand abfahrbereit auf dem Pedal. »Wie bitte? Über den Teentreff? Du hast die Frechheit, nach dem, was du mir angetan hast, über den Teentreff zu reden?«
»Ja, weil …« Simon kam sich wie ein kleiner Schuljunge vor, aber gab sich alle Mühe, nicht so auszusehen, »weil es so schön war, als wir zwei … also, ich meine … als wir alle zusammen im Teentreff waren. Das war so … zwanglos … und du hast so … süß gelächelt …« Dabei lächelte er selbst so süß wie möglich. Andere Mädchen wären bei diesem Lächeln schon längst schwach geworden.
Nicht aber Nadja. »Ach ja. Das tut mir leid. So ein Lächeln werde ich bestimmt nicht mehr aufsetzen, wenn du meinst, du kannst nach zwei Abenden im Teentreff über mich herfallen wie über ein Flittchen!«
»Was? Was meinst du damit? Das war ich gar nicht! Ich schwöre!«
»Hör auf zu schwören! Davon werden deine Angriffe auch nicht besser!«
»Ich hab nichts gemacht! Ehrenwort!«
»Auf dein Ehrenwort könnt ich kotzen!« Nadja trat wieder in die Pedale und wollte losfahren.
Etwas wie Hilflosigkeit gewann in Simon die Oberhand. Er hielt ihr Fahrrad am Gepäckträger fest. »Bitte, Nadja! Was auch immer ich gemacht haben soll – ich war das nicht! Wirklich!«
Nadjas Ton wurde immer schärfer: »Lass sofort mein Fahrrad los, du Arsch, oder du kannst was erleben!«
Simon erschrak über ihre Wut und ließ das Fahrrad los. »Ich war das wirklich nicht. Das war irgendein Doppelgänger von mir. Ich weiß selbst nicht, wer das ist.«
»Hör mal«, zischte Nadja leise, aber ebenso hart wie eben, »wenn du wenigstens so viel Mumm hättest zu dem zu stehen, was du da gemacht hast, dann könnte man ja noch darüber reden. Aber wenn du das nur abstreitest und mir dann auch noch was von einem Doppelgänger erzählen willst, seh ich nur, wie feige du bist. Und das ist einfach nur beschämend, weißt du das?« Sie setzte noch mal neu an, um das demütigendste Wort noch mal mit Nachdruck zu wiederholen: »Beschämend.« Damit drehte sie sich um, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr in den Wald hinein. Ironischerweise lag in dieser Richtung auch die Mühle. Wenn da sein Doppelgänger jetzt drin gesessen hätte, dann könnte Simon sie direkt dorthin führen und eine Gegenüberstellung machen. Dann hätte er diesem Feigling ins Angesicht sagen können: »Gib zu, was du Nadja angetan hast, und bestätige, dass du es warst und nicht ich!« Aber die Hütte war ja leer. Zu dumm aber auch. Trotzdem brüllte er Nadja noch hinterher: »Schau in der alten Mühle nach! Da findest du die Auflösung der ganzen Scheiße!«
Dann ging er frustriert nach Hause. Weder diesen Mistkerl hatte er gefunden, noch hatte er Nadja besänftigen können. Es wurde Zeit, dass die Schule wieder begann. Er musste dringend wieder ein paar Lehrer und Leon, den Schwachmaten, in die Knie zwingen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er noch der alte Simon war.