Читать книгу 13 Wochen - Harry Voß - Страница 5

2. Kapitel

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Simon wachte auf, noch bevor sein Wecker klingelte. Er lag noch immer in der Ecke neben dem Schreibtisch. »Was ist denn hier los?«, brummte er verschlafen und stand auf. Da war er heute Nacht ja wirklich aus dem Bett gefallen! Mann o Mann! Früher als Kind hatte er oft unruhig geschlafen, das wusste er von seinen Eltern. Da hatte er sich immer mal den Kopf an der Wand gestoßen oder er war aus dem Bett gefallen. Aber so weit bis zum Schreibtisch? Das war rekordverdächtig. Simon rieb sich den Hinterkopf. Auch sein Kinn und seine Nase schmerzten. Wie war er da heute Nacht bloß gefallen?

Plötzlich fiel ihm sein Traum der vergangenen Nacht wieder ein. Wie er selbst als zweite Gestalt ihn hochgezogen und aus dem Bett geboxt hatte. »Es kann nicht jeder Simon Köhler sein«, hatte er heute Nacht zu sich selbst gesagt. »Versuche dich zu akzeptieren und du selbst zu werden. Dann musst du nicht andere kopieren wie ein billiger Doppelgänger.« Verrückt. Simon schüttelte den Kopf und ging nach oben ins Bad. War dieser Traum eine Vision? Sollte ihm das was sagen? Warum sollte er sich selbst akzeptieren? Das tat er doch! Und soweit er das überblickte, versuchte er auch niemanden zu kopieren. Andere versuchten eher ihn zu kopieren. Eigentlich war er mit sich selbst doch ganz zufrieden. Na ja, abgesehen von seinem fehlenden Muskelpaket, aber das konnte ja noch kommen. Bei einem Blick in den Spiegel fiel ihm auf, dass er getrocknetes Blut unter der Nase hatte. Wie konnte das sein? Hatte er sich heute Nacht selbst geschlagen? Im Traum sozusagen mit sich selbst gekämpft?

Während er unter der Dusche stand, trat dieser Traum immer deutlicher in sein Bewusstsein. Was hatte das alles zu bedeuten? Man müsste mal einen Traumdeuter befragen. Oder einen Psychologen. Der hätte sicher seine wahre Freude an einem solchen Traum. »Akzeptiere dich selbst. Du bist nicht Simon Köhler.« Simon musste lachen. Und mit der heißen Dusche glitten die Angst und das unheimliche Erlebnis von heute Nacht wieder von ihm ab.

Das Brot, das seine Mutter ihm wie jeden Morgen geschmiert und wie seit fast fünfzehn Jahren auf sein »Bob-der-Baumeister«-Brettchen gelegt hatte, schlang er in weniger als einer Minute hinunter. Eigentlich hasste er es, dass er mit diesem Essbrettchen immer noch in die Mein-lieber-kleiner-Junge-Schublade gesteckt wurde. Aber irgendwann hatte er beschlossen, dieses Kindergartenbrettchen gar nicht zu beachten, solange da immer noch ein geschmiertes Brot drauf lag. Er befürchtete, wenn er mal über das Essbrettchen meckern würde, würden auch die geschmierten Brote wegfallen. Auf diesen morgendlichen Luxus wollte er nicht verzichten, und so ließ er seine Mutter in dem Glauben, er freute sich noch über dieses beknackte Brettchen.

Wie jeden Morgen saß seine Mutter am Esstisch mit einer Kaffeetasse in der Hand vor ihren eigenen geschmierten Broten und wartete mit dem Essen, bis Simon in die Küche kam. Dann hatte sie immer den »Willst du denn gar nicht mehr mit mir zusammen frühstücken?«-Blick drauf, sagte aber nie etwas dazu. Und weil sie nichts sagte, brauchte Simon auch nicht zu antworten. Er verzichtete aber darauf, ihr durch einen allzu freundlichen Blick Hoffnung darauf zu machen, dass er jemals wieder wie zu Kindergartenzeiten gemeinsam mit ihr frühstücken würde. Zeitgleich mit Simons erstem Biss in sein Brot biss auch die Mutter in ihr Brot. Das schien ihr das Gefühl zu geben, die beiden würden doch noch zusammen frühstücken. Das müsste echt mal einer erforschen, was da in so einem verdrehten Mutterkopf alles vor sich ging. Für normale Menschen kaum nachvollziehbar. Als die Mutter das zweite Mal in ihr Brot biss, hatte Simon bereits das komplette Frühstück in den Mund geschoben, gekaut und runtergeschluckt.

»Geht’s dir wieder besser?«, fragte sie besorgt.

Simon hatte sich die Schultasche um die Schulter geworfen und war schon bei der Tür. Aber dann drehte er sich doch noch mal um und fragte vorsichtig: »Wieso?«

»Na ja, ich meine nur. Weil du gestern so … so komisch warst. So aufgeregt und durcheinander.«

Woher wusste sie das denn? Hatte sie etwa was mitgekriegt? Nur weil er kurz im Wohnzimmer nachgeschaut hatte, ob sie noch lebten? Hallo? »Es ist alles in Ordnung«, sagte er knapp.

»Ja, das hast du gestern auch gesagt«, sagte die Mutter und hatte ihren besorgten »Du-hast-doch-was-mein-Kind«-Blick aufgelegt.

»Echt? Hab ich das?« Wann sollte er das gesagt haben? Manchmal hörten Mütter auch Sachen, die sie gerne hören wollten, die aber nie jemand gesagt hatte.

»Alles in Ordnung«, sagte er noch mal.

»Und mit wem hast du da so laut geredet?«, fragte sie dann noch.

Jetzt stockte Simon erst recht. »Geredet? Mit wem denn?«

»Das weiß ich ja nicht. Es klang so, als hättest du dich mit jemandem gestritten.«

Simon schluckte. Jetzt wurde die Sache langsam unheimlich und er wollte das hier lieber nicht vertiefen. »Ich glaub, ich hab im Schlaf gesprochen. Nix Schlimmes.« Und damit ging er zur Küche hinaus und ließ die Mutter mit ihrem Brot dort sitzen.

Kurz nachdem er an der Bushaltestelle angekommen war, kam auch sein Kumpel Jan dazu.

»Du hast dich aber beeilt«, sagte Jan zur Begrüßung.

»Beeilt? Wieso?«

»Na ja, dass du so schnell deine Schultasche geholt und was Sauberes angezogen hast.«

Was sollte denn der Mist jetzt? Machte er sich über ihn lustig? War er sonst zu langsam und zu dreckig? Gefielen ihm seine Klamotten nicht?

»Guck dich doch selber mal an«, brummte er nur.

»Halt’s Maul«, gab Jan zurück. Damit war ihre Unterhaltung vorerst beendet.

Der Bus kam. Während Simon einstieg, sah er, dass von weit hinten noch jemand angerannt kam. Der würde den Bus sicher nicht mehr kriegen. So ein Idiot. Früher aufstehen, konnte man da nur sagen. Simon und die anderen wurden im Gang des Busses nach hinten gequetscht. Der Bus rollte an. Durch das Fenster konnte Simon sehen, wie der Typ, der den Bus noch kriegen wollte, wie ein Verrückter rannte. Fast war er auf Höhe des Busses, aber zum Mitfahren war es leider zu spät. Einen kurzen Augenblick schaute er von draußen in den Bus hinein und traf dabei zwischen all den Fahrgästen zielsicher Simons Blick. Im nächsten Moment wurden Simons Knie weich und er musste sich an den benachbarten Sitzen festhalten. Da draußen war der Typ aus seinem Traum gelaufen! Er selbst! Sein Gegenüber, sein anderes Ich!

»Da!«, entfuhr es ihm. »Jan, hast du den gesehen, der da neben dem Bus hergelaufen ist?«

»Nein.«

»Mist!« Simon bekam Schweißausbrüche. Verfolgte ihn etwa sein eigener Schatten?

Jan schien sich über nichts zu wundern oder er war noch sauer wegen der Bemerkung vorhin. Er schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Simon hielt sein Handy in die Höhe, um ein Foto von dem Typ da draußen zu machen. Aber dafür war der Bus schon zu weit weg.

In der Schule lief eigentlich alles ganz normal. Hin und wieder blickte sich Simon in alle Richtungen um, ob seine Geistererscheinung noch mal zu sehen war. Aber sie blieb verschwunden. Simon hoffte, dass der Spuk damit ein für alle Mal ein Ende hatte.

Im Bio-Unterricht saß er so, dass er die ganze Stunde über Nadja anschauen konnte. Die war echt der Hammer. Schulterlange, blonde Haare, die ihr, wenn sie den Kopf nach vorne beugte, immer seitlich über das Auge fielen. Wenn sie dann ihren Kopf wieder nach oben richtete und mit einem Finger die Haare aus dem Gesicht strich, hatte sie dabei einen Augenaufschlag unter ihren dunklen, schmalen Augenbrauen, dass Simon jedes Mal fast verrückt wurde. Wenn sie dabei auch noch zufällig in seine Richtung sah und er in ihre dunkelblauen Augen schauen konnte, hatte Simon das Gefühl, beinahe ohnmächtig zu werden.

Die halbe Schulzeit über war sie damit beschäftigt, Zeichnungen in ihrem Collegeblock anzufertigen. Meistens mit Bleistift, manchmal mit Buntstiften. Der Blick, den sie beim Zeichnen draufhatte, hatte auch so was Umwerfendes, dass er ihr stundenlang dabei zuschauen könnte. Leider zeigte sie niemals ihre Zeichnungen. Zumindest ihm nicht. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass er sich darüber lustig machte. Dabei würde er das niemals wagen. Wenn er auch die ganze Klasse durch den Kakao ziehen würde – Nadja niemals. Einmal hatte Nadja wegen irgendwas den Klassenraum verlassen müssen und ihr Block hatte offen dagelegen. Da war Simon einfach mitten im Unterricht aufgestanden, um sich die Zeichnungen anzuschauen, die gerade auf der aufgeschlagenen Seite zu sehen waren. Und durch das, was er da gesehen hatte, wurde ihm so ein warmer Stich in die Magengrube versetzt, dass er sich gleich noch mal doppelt so viel in sie verknallt hatte. Da waren ein Pferdekopf und ein Sonnenuntergang − okay, das war kitschig − aber aus Nadjas Stift einfach traumhaft. Aber das Krasseste war die Zeichnung eines Mädchenportraits. Niemand bestimmtes, einfach ein Gesicht, dessen Augen den Betrachter direkt anschauten. Alles an diesem Gesicht war perfekt, die weichen Züge, die Lippen, die Haare – aber die Augen waren mit der größten Sorgfalt gezeichnet. Diese Augen strahlten so viel Liebe aus, dass Simon beim Anschauen das Gefühl hatte, er könnte diesem Mädchen direkt in die Seele schauen. Und als loderte in dieser Seele ein Feuer, das nach draußen dringen wollte. Wahnsinn.

Seitdem versuchte er alles, um Nadja für sich zu gewinnen. Aber sie schien sich nicht die Bohne für ihn zu interessieren und das ärgerte ihn. Denn in der Klasse gab es mindestens fünf Mädchen, die gern mit Simon zusammen wären, aber die fand er überaus langweilig. Nadja hatte etwas Geheimnisvolles. Im Gegensatz zu allen anderen hielt sie seinem Blick stand, selbst wenn er nicht nach drei Sekunden Augenkontakt wegschaute.

Eines der Geheimnisse, warum Simon ein Sieger war, lag in seiner Disziplin, die er sich selbst beigebracht hatte und in der ihn niemand schlagen konnte: im »Augenfechten«. Wenn jemand ihm frech kam oder eine dumme Bemerkung machte, dann brauchte Simon ihn nur lange, kühl und überlegen anzuschauen und zu grinsen. Nach spätestens drei bis fünf Sekunden schaute der andere woanders hin und Simon hatte die Runde gewonnen. Und der andere muckte danach meistens auch nicht mehr auf. Damit fühlte sich Simon allen in der Klasse überlegen. Auch den Lehrern. Bloß Nadja nicht. Und das machte ihn rasend. Nadja war nicht nur charakterstark und konnte wahnsinnig gut zeichnen, sie war obendrein auch noch wunderschön und schlank, aber sie zeigte ihre weibliche Figur fast nie. Meistens trug sie weite Kapuzenpullover. Die ganze Biostunde stellte er sich vor, wie sie wohl ohne den Pulli aussehen würde.

»Simon!«, ermahnte ihn plötzlich Herr Brandt, der Biolehrer.

Simon schreckte hoch: »Ja?«

»Träum nicht, pass lieber auf.«

»Ich hab aufgepasst.«

»Aha?« Herr Brandt verschränkte siegessicher die Arme vor der Brust und schaute Simon in die Augen: »Was waren noch gleich die Unterschiede von Prokaryoten und Eukaryoten?«

Dieser Schwachmat von einem Lehrer. Dachte wohl, jetzt hätte er ihn drangekriegt. Aber nicht mit Simon. Simon konnte träumen und zuhören gleichzeitig. Zumindest konnte er das, was er in den letzten zwei Minuten gehört hatte, ungefiltert wieder abspulen: »Die Eukaryoten haben einen Zellkern und Zellorganellen, die Prokaryoten nicht. Außerdem sind die Eukaryoten zehnmal größer als die Prokaryoten.«

»Na gut.« Mehr Lob bekam Herr Brandt nicht über die Lippen, sonst hätte er zugeben müssen, dass er mal wieder verloren hatte. 1:0 für Simon. Wie immer. Aber Simon war noch nicht fertig: »Im Gegensatz zu den Prokaryoten gibt es noch die Vollidioten. Und das sind Einzeller wie Leon.«

Die ganze Klasse lag vor Lachen unter den Tischen und kriegte sich kaum mehr ein. Leon, der Volltrottel der ganzen Klasse, lachte natürlich nicht. Er saß in der hintersten Reihe, wurde rot und schaute angestrengt vor sich auf den Tisch. Jetzt war es Simon, der die Arme vor der Brust verschränkte und siegessicher die Augenbrauen nach oben zog. 2:0 für Simon. Und jetzt die letzte Runde: Augenfechten mit dem selbstbewussten Lehrer. Ohne zu blinzeln. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig – Herr Brandt grinste nicht mehr. Simon sah, wie er versuchte, noch mehr Autorität in seinen Blick zu legen. So was wie: »Wart’s nur ab, Junge. Ich sitz hier am längeren Hebel.« Aber je mehr er versuchte, streng zu schauen, umso breiter und lässiger wurde Simons Grinsen. Und das hatte eine ganz eindeutige Botschaft: »Du kannst mich mal!«

Herr Brandt hatte kapiert, dass Simon es auf ein Machtspielchen anlegte. Er hielt dem Blick nach wie vor stand und war dabei langsam bis genau vor Simons Tisch gekommen. Die anderen lachten immer noch. Brandt hob sein Kinn, bemühte sich um etwas Überlegenheit in seinem Blick und zischte leise: »Pass bloß auf, Freund.« Dann drehte er sich um und ging zur Tafel zurück. Damit hielt er sich wohl für den Gewinner. War er aber nicht. Dieses Weichei von einem Lehrer hatte verloren. 3:0 für Simon. Leider immer noch kein Sieg bei Nadja. Die kriegte man mit solchen Sprüchen und kleinen Lehrergefechten leider nicht rum. Als er zu ihr rüberschaute, war sie über ihren Collegeblock gebeugt und zeichnete irgendwas. Die Augen konnte er nicht sehen, weil ihre Haare wie ein Vorhang darüber hingen. Das schwächte den Sieg über Brandt direkt wieder ab.

In der großen Pause musste Simon irgendwas tun, um seinen Sieg über Herrn Brandt noch ein bisschen hervorzuheben. Hauptsächlich, um seinen Ärger über Nadjas Nicht-Lachen zu verdrängen. Die ganze Klasse war gerade dabei, die Räume zu wechseln. Laut grölend schlurfte er zusammen mit seinen Kumpels Benno, Konstantin und Julian von einem Gang zum anderen. Dabei erzählten sie sich Witze oder lästerten über die Lehrer und Schüler ab. Direkt vor Simon ging Leon. Er sah nicht nur aus wie ein Tollpatsch, er lief auch wie einer. Jeder Schritt so, als wären ihm die Schuhe zwei Nummern zu groß. Simon stieß Konstantin beim Gehen an und zeigte auf Leons Gangart. Konsti und die anderen kicherten und äfften Leons Gang nach. Und dann folgte Simons besonderes Kunststück: Er war super geschickt darin, anderen von hinten beim Gehen leicht, aber gezielt seitlich so gegen den Fuß zu treten, dass sie stolpern mussten und manchmal mehrere Schritte brauchten, um sich überhaupt wieder zu fangen und normal weiterlaufen zu können. »Gehfehler«, nannten sie das. Das wollte er beim Volltrottel Leon allen mal vorführen. Zack, ein leichter Tritt – und Leon stolperte so stark, dass er zuerst alles, was er vor sich in der Hand trug, in hohem Bogen von sich warf, dann mit rudernden Armen drei bis vier Stolperschritte torkelte und schließlich mit einem furchtbaren Bauchplatscher voll auf die Nase fiel. Leider hatte Simon von hinten nicht gesehen, dass Leon für Frau Dinkel, eine andere Bio-Lehrerin, ein Goldfischglas samt Fisch in der Hand trug, um es in irgendein Lehrerzimmer oder sonst wohin zu bringen. Jetzt flog das Glas quer durch den Gang, goss das Wasser samt Fisch über Frau Heidemann, die Schulsekretärin aus, die ihnen gerade mit einem Stapel Aktenordner entgegenkam, knallte auf den glatten Kachelboden und schlitterte da noch ungefähr fünfzig Meter, bis es zwischen zwei Sechstklässlern zum Stillstand kam. Zum Glück blieb es ganz. Frau Heidemann ließ vor Schrecken sämtliche Ordner fallen und begann mit hektischen Bewegungen, den Goldfisch aus ihrem überdimensionalen Ausschnitt zu befreien. Leon lag auf der Schnauze und mindestens fünf weitere Schülerinnen waren von dem vorbeizischenden Fischglas so erschrocken, dass sie hinflogen, zur Seite sprangen oder ihre Sachen fallen ließen. Je mehr die Sekretärin von oben in ihrem Ausschnitt herumfingerte, umso tiefer rutschte der Fisch. Die Frau schrie hysterisch, als würde sie gerade unter der Bluse aufgefressen. Ungefähr hundert Schüler kamen von allen Seiten angelaufen, umringten und filmten das Schauspiel, bis endlich der Fisch nach langem Schütteln unten aus der Bluse herausfiel. Einer der Lehrer, der das mitbekam, hatte schon das Fischglas aufgehoben und in irgendeinem Klassenraum mit Wasser gefüllt. Jetzt hob er den Fisch vom Boden auf und warf ihn ins Wasser. Sofort schwamm der Fisch in einem Affentempo in seinem Glas im Kreis herum, als glaubte er, je schneller er im Kreis schwamm, umso mehr würde er vor Frau Heidemann abhauen können. Dämliche Fische.

Wenig später stand Simon vor dem Schuldirektor und musste sich einen endlos langen und lauten Vortrag anhören. Aber Simon behielt die Hände in den Hosentaschen und grinste den Direktor frech und überlegen an. Du kannst mir gar nichts, du Ochse, dachte er nur. Direktoren redeten nur, weil sie sich für wichtig hielten. Aber im Grunde hatten sie keine Ahnung. Am wenigsten von Schülern.

Als Simon zurück zur Klasse kam, stand Leon vor der Tür und schaute ihn ängstlich an. Simon beugte sich beim Betreten des Klassenzimmers langsam bis zu Leons Ohr vor, flüsterte ihm leise, aber deutlich »Opfer« zu, und setzte sich in die letzte Reihe. Heute war er Gewinner auf der ganzen Linie.

Beim Mittagessen schaute seine Mutter ihn an, als käme er vom Mars. Simon wollte frech grinsen, wie ihm das bei allen Lehrern und Schülern gelang. Bei seiner Mutter gelang ihm das jedoch nicht. Wenn sie diesen Mutterblick draufhatte, könnte er einfach nur ausrasten. Da gab es nichts zu grinsen. Eine Weile versuchte er, ihren Blick zu ignorieren. Aber dann platzte es aus ihm heraus: »Was ist?«

»Ich mache mir Sorgen«, sagte sie vorsichtig.

»Es ist alles in Ordnung«, blaffte Simon, starrte auf das Handy neben seinem Essen und überprüfte die letzten Nachrichten. »Ich will einfach meine Ruhe haben. Ist das so schwer?«

»Aber du warst heute Morgen so seltsam. Und dann heute Nacht. Dass du so spät noch so lange draußen warst.«

»Reg dich ab!« Simon war lauter geworden, als er es sich vorgenommen hatte. »Ich war nur ganz kurz draußen, ich hab was nachgeschaut. Hab ich doch gesagt.«

»Ja, aber dann hast du gesagt, wir wollen ein andermal darüber reden.«

Jetzt musste sich Simon etwas mehr konzentrieren. Das hatte er letzte Nacht gesagt? Er hatte doch kaum ein Wort mit seinen Eltern gewechselt. Er fixierte seine Mutter mit einem scharfen Blick. »Wann hab ich das gesagt?«

»Heute Nacht. Als du mich in den Arm genommen hast.«

Jetzt hätte sich Simon fast an seinem Essen verschluckt. »Als ich WAS gemacht hab?!«

»Als du mich in den Arm genommen hast. Gestern Nacht. Als du völlig durchnässt wieder reingekommen bist.«

Die Sache wurde schon wieder unheimlich. »Das hast du geträumt.«

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Bist du dir sicher, dass du noch ganz gesund bist?«

»Ja. Ganz sicher. Und heute Morgen hast du mich auch in den Arm genommen. Als du noch mal zurückgekommen bist und mich gefragt hast, welcher Tag heute ist.«

Das war zu viel. Simon sprang auf und schob mit lautem Krachen den Teller weg. »Du bist ja völlig krank im Hirn!«, schimpfte er. »Ich hab dich nicht in den Arm genommen! Ich weiß, welcher Tag heute ist! Heute ist der 2. April! Den ganzen Tag! Gestern – da war der 1. April! Da hättest du mich verarschen können! Aber nicht heute! Ich bin doch nicht bescheuert!«

Wütend rannte Simon die Treppe nach unten, nahm seine Jacke und verließ das Haus. »Ich bin bei Jan!«, brüllte er noch, bevor er die Haustür zudonnerte.

Entweder seine Mutter litt wirklich unter Wahnvorstellungen oder er selbst war nicht mehr ganz dicht. Der Traum vergangene Nacht. Dieser Typ im Garten. Derselbe Typ an der Bushaltestelle. Wie sollte das zusammenpassen? War er selbst, Simon Köhler, eine gespaltene Persönlichkeit? Konnte er an zwei Stellen gleichzeitig sein? Im Bus und draußen auf der Straße? Im Haus und im Garten? Konnten das Luftspiegelungen sein? Ein böser Engel, der ihn beobachten sollte? Ein Geist? Oder wollte ihn da jemand gründlich verarschen?

»Ich bin normal, ich bin normal, ich bin normal!«, sagte er laut vor sich hin, während er die Straße zu Jan entlangging.

In Jans Zimmer lag eine Matratze neben dem Bett, darauf eine Wolldecke und ein Sofakissen. So, als hätte er Übernachtungsbesuch gehabt.

»Hattest du Besuch?«, fragte Simon.

Jan musterte Simon, als hätte er sich verhört. »Ja, weißt du doch.«

»Nee. Wen denn?«

Jan runzelte irritiert die Stirn. Dann sagte er: »Einen durchgeknallten Landstreicher, bei dem ein Fremder im Bett lag.«

Simon lachte. So was Bescheuertes. »Ach so«, sagte er und fragte nicht weiter. Offensichtlich wollte Jan nicht darüber reden, wer hier zu Besuch gekommen war. Vielleicht hatte er ja eine Freundin. Egal. Ging ihn ja auch nichts an. Jan lachte auch und damit war das Thema beendet.

Sie zockten eine Weile auf Jans PC, aber dann nahmen sie sich vor, jeweils auf ihren eigenen Laptops gegeneinander zu spielen.

»Ich hol meinen schnell«, sagte Simon und machte sich auf den Weg nach Hause.

»Simon! Was machst du denn hier?«, fragte die Mutter, als sie ihm öffnete. Sie hatte schon wieder einen Blick drauf, als hätte sie einen Geist gesehen.

»Ich hab was vergessen«, sagte er knapp und ging direkt in sein Zimmer.

»Schon wieder?«, rief die Mutter ihm hinterher. »Ich dachte, du bist im Bad!«

Die Frau war echt krank, dachte Simon. Konnte man die überhaupt noch ernst nehmen? »Warum sollte ich denn im Bad sein?«, knurrte er nur kurz. »Ich hab doch gesagt, dass ich zu Jan wollte.«

Mit einem Griff hatte er seinen Laptop unter den Arm genommen und war schon bei der Zimmertür. Da stutzte er kurz und drehte sich in seinem Zimmer noch einmal um. War hier alles noch wie vorhin? Hatte hier jemand rumgewühlt? Fehlte hier was? Auf Anhieb fiel ihm nichts auf, das fehlen könnte. Trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, dass jemand hier gewesen war. Langsam ging er den Flur entlang bis zur Haustür. Was hatte seine Mutter gesagt? »Ich dachte, du bist im Bad.« Simon warf einen Blick nach oben Richtung Badezimmer und begann plötzlich zu schwitzen. Mist. Saß da etwa sein geheimnisvolles Gegenüber? Sein anderes Ich? Stand die finstere Seite von Simon Köhler vielleicht gerade unter der Dusche, während seine gute Seite ahnungslos durch den unteren Teil des Hauses lief? Langsam schlich er die Treppe nach oben und heftete seinen Blick auf den Türgriff. Einen Schraubenzieher hatte er nicht in der Hand. Aber einen Laptop. Damit konnte man jemandem super den Schädel einschlagen. Er hielt den Laptop wie einen Hammer über sich, während er mit der anderen Hand nach der Türklinke griff. Mit einem heftigen Schrei platzte er ins Badezimmer und war auf alles vorbereitet. Gespenster, Doppelgänger, Blut, Mörder, Psychopathen, Dämonen. Aber das Badezimmer sah aus wie immer. Und es war niemand drin.

Die Alte hat eine Schraube locker, dachte Simon, während er mit dem Laptop im Arm zu Jan zurücklief.

13 Wochen

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