Читать книгу 13 Wochen - Harry Voß - Страница 6
3. Kapitel
ОглавлениеAm nächsten Morgen hatte Simon das Gefühl, als fehlte die Hälfte der Sweatshirts in seinem Schrank. Waren die immer noch in der Wäsche? Simon ärgerte sich. Er war sich sicher, dass sie gestern noch da gelegen hatten. Er wusste es: Seine Mutter wühlte in seinen Sachen! Eines Tages würde er sich bitter dafür rächen!
Im Bad fehlten sein Deo, sein Duschzeug, sein Haarspray, seine Zahnbürste und die Zahnpasta. Was war denn jetzt schon wieder los? Als er wütend seine Mutter darauf ansprach, konnte die sich das auch nicht erklären. Aber in einem der Schränke im Bad hatte sie all diese Sachen noch mal vorrätig. Merkwürdig war das trotzdem.
An diesem Morgen war sein Gesichtsdouble nicht an der Bushaltestelle. Wieder redete sich Simon ein, alles wäre in Ordnung. Hin und wieder versuchte er, im Unterricht die Aufmerksamkeit von Nadja auf sich zu ziehen, aber sie beachtete ihn zwei Stunden lang kein einziges Mal.
Als er zur ersten großen Pause aus seiner Klasse heraustrat, stand Herr Hofmann, ein Sportlehrer, mit einem Sechst- oder Siebtklässler im Flur. Die beiden schauten ihn an, als hätten sie auf ihn gewartet. Mit ausgestrecktem Arm zeigte der Junge auf Simon: »Der war’s!«
»Was hab ich denn jetzt schon wieder gemacht?«, fragte Simon verärgert. Manchmal hatten sich die Lehrer auch ganz ohne Grund gegen ihn verschworen.
Ohne ein weiteres Wort ging Herr Hofmann auf Simon zu, packte ihn unsanft am Arm und zog ihn zur Seite. Dafür zeig ich dich an, du Penner, dachte Simon als Erstes. Aber dann überlegte er fieberhaft, um welche seiner letzten Aktionen es wohl gehen könnte. Ausnahmsweise war er sich keiner Schuld bewusst. »Jetzt bist du dran!«, knurrte Herr Hofmann.
»Was hab ich gemacht?«, rief Simon und befreite sich aus dem festen Griff des Lehrers.
»Du bist gesehen worden, wie du in den Umkleideräumen der Klasse 7b warst und die Schultaschen durchwühlt hast!«
»Was?!« Das war ja wohl der größte Witz, den Simon je gehört hatte. »Was soll ich gemacht haben?! Schultaschen durchwühlt? Von wem denn? Von dem da?« Er zeigte mit seinem Kinn verächtlich auf den blöden Pimpf, der wie ein Soldat neben seinem Lehrer stand.
»Von allen aus meiner Klasse!«, meldete der laut.
»Du spinnst ja wohl! Wann bitte soll ich das gemacht haben?«
»Eben gerade!«, quakte der kleine Idiot. »Während wir Sportunterricht hatten!«
»Was? Jetzt? Heute?«
»Ja!«
Na, das wäre ja wohl leicht zu widerlegen. »Benno, Julian! Kommt mal eben!«, rief er seine Kumpels herbei, die noch in der Nähe der Klassenzimmertür standen. Und als sie da waren: »Sagt, wo war ich die letzten zwei Schulstunden?«
Benno und Julian schauten sich verwundert an. »Hier bei uns natürlich. In der Klasse.«
»Wer kann das bezeugen?«, fragte Herr Hofmann.
»Die ganze Klasse«, sagte Simon. Endlich gewann er seine Sicherheit zurück und er konnte beginnen, sein siegessicheres Grinsen aufzulegen.
Herr Hofmann und der Schüler schauten sich kurz an. »Er war’s aber«, sagte der Schüler, »ich schwör’s!«
»Ich war die ganze Zeit in der Klasse und bin kein einziges Mal rausgegangen«, sagte Simon und verschränkte seine Arme, »das muss ich nicht schwören, denn alle aus meiner Klasse und meine Lehrerin können das bezeugen! Kauf dir mal ’ne neue Brille, Kleiner!« Damit ging er mit Benno und Julian auf den Schulhof und ließ seine Ankläger mit großen Augen zurück. Aber so sehr sich Simon auch bemühte, mit den anderen darüber zu lachen – irgendwie bereitete es ihm ein komisches Gefühl im Bauch. Gab sich da jemand als Simon aus und verbreitete in seinem Namen Unruhe? Klaute der auch Zahnbürsten und Duschgel? Verrückt, verrückt.
Als Simon in der nächsten Unterrichtsstunde – Musik – durch die Klasse spazierte, um etwas in den Mülleimer zu werfen, erblickte er im Vorbeigehen ein Kuscheltier in Leons Schulranzen. Einen Frosch aus Stoff, der ein rotes Band um den Hals gebunden hatte. War Leon noch ein kleines Baby? Der Frosch steckte so im Ranzen, dass ihn eigentlich niemand sehen sollte. Aber Simon hatte ihn gesehen. Langsam bewegte er sich auf Leon zu, zog mit einem Griff den Frosch an seinem Halsband heraus und hielt ihn für alle sichtbar in die Luft: »Oh, was haben wir denn da? Einen Frosch, quak, quak!«
Alle drehten sich um und lachten. »Gib ihn her«, bat Leon und hatte schon wieder etwas Weinerliches in der Stimme.
»Sag lieb ›bitte, bitte‹ zu Onkel Simon«, grinste Simon.
Da passierte etwas Merkwürdiges. Leon verlor plötzlich seinen weinerlichen Blick. Er stand von seinem Platz auf, stellte sich direkt vor Simon auf und sagte: »Simon, denk dran. Du willst das Böse nicht tun. Du kannst dich noch bremsen.«
Mit allem hätte Simon gerechnet, aber mit so einem Anflug von Selbstbewusstsein von dem Trottel Leon nicht. Fast hätte er den Frosch fallen lassen, aber er ließ sich nichts anmerken: »Was ist los? Bist du unter die Psychiater gegangen?«
»Simon. Ich weiß, du erinnerst dich nicht. Aber ich erinnere mich. Und ich weiß, dass du das Böse eigentlich nicht tun willst.«
»Was laberst du für einen Müll?« Simon grinste. »Ich bin das Böse! Und natürlich will ich das Böse tun!«
Leon redete leiser, aber eindringlich: »Nein, Simon. Du bist das Opfer.«
Das war zu viel. »Was?«, plärrte Simon durch den ganzen Klassenraum, sodass selbst Frau Lenz, die Musiklehrerin, aufhörte, mit den Schülern der ersten Reihe Unterricht zu machen. »Ich bin das Opfer?! Das wollen wir ja mal sehen!« Er packte den Frosch an einem Bein, ließ ihn wie ein Lasso über seinem Kopf kreisen und schleuderte ihn dann quer durch den Klassenraum, sodass er neben der Tafel im Waschbecken landete. »Hol ihn dir, du Opfer!«
»Simon«, sagte Frau Lenz so streng, wie es einer überforderten Musiklehrerin möglich war, »lass deine Stofftiere zu Hause.«
»Es ist nicht meins«, rief Simon durch die Klasse. »Es ist der Quakfrosch vom Froschgesicht Leon!«
Unter dem Gelächter der halben Klasse trabte Leon nach vorne und fischte seinen Frosch aus dem Waschbecken.
Am Mittag nach der Schule stand Simon mit einer kleinen Gruppe Jungs vor dem Haupteingang und beobachtete die Mädchen, die rauskamen. Einigen, die gut aussahen, pfiffen sie hinterher. Anderen, die nicht gut aussahen, riefen sie Beleidigungen zu. Da kam Nadja mit ihrer Freundin Steffi raus. Konstantin pfiff ihr hinterher, aber Simon brachte keinen Ton raus. Er bemühte sich, nicht rot zu werden, und nahm sich vor, endlich mal einen Vorstoß in Richtung Nadja zu wagen. Er gab sich einen Ruck und ging auf sie zu. »Na, was machst du heute Nachmittag?«, fragte er so lässig wie möglich.
»Lernen«, antwortete Nadja, ohne stehen zu bleiben.
Simon hielt mit ihr Schritt. »Und morgen?«
»Weiß ich noch nicht.«
»Lust, was zu unternehmen?«
Nadja blieb nicht stehen, aber sie drehte ihren Kopf so Simon zu, dass ihre Haare kurz ihren Blick freigaben. Simon musste sich zwingen ruhig zu bleiben, um keine weichen Knie zu bekommen. »Was denn?«, fragte sie.
»Keine Ahnung. Schlag du was vor.«
Nadja ging langsamer. Sie schaute zu Steffi auf der anderen Seite und drückte ihre Schultasche noch etwas fester unter ihren Arm. »Ich glaub nicht, dass das eine gute Idee wäre.«
»Donnerstag?«, versuchte es Simon weiter.
Nadja überlegte kurz, dann lächelte sie auf geheimnisvolle Weise. »Donnerstag kannst du kommen.«
Wieder musste Simon sich zurückhalten, um nicht auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen oder einen Purzelbaum zu schlagen. So normal wie möglich sagte er: »Echt? Zu dir?«
»Donnerstagabend bin ich im Teentreff. Da können alle hinkommen.«
Ach so. Seine Aufregung legte sich direkt wieder. Eine Veranstaltung. Aber immerhin. Sie ging hin, also könnte er auch hingehen. »Teentreff? Was ist das?«
»Ein Treffen für Teens. Wir singen, wir reden über die Bibel, wir machen noch andere Sachen. Manchmal gehen wir kegeln, manchmal schauen wir einen Film oder wir sitzen einfach da und unterhalten uns.«
Die zweite Hälfte von dem, was Nadja gerade gesagt hatte, bekam Simon schon gar nicht mehr mit. Er hatte nur »singen« und »Bibel« gehört, da war ihm schon schwarz vor Augen geworden. Singen??? Welcher normale Mensch unter fünfzig traf sich zum Singen??? Und Bibel?? Simon hatte im Reli-Unterricht schon mal in einer Bibel lesen müssen, und zwar unter Aufsicht eines Pfarrers, der zwischen 100 und 200 Jahren alt war. »Die Bibel ist in heutigem Deutsch«, hatte er stolz angekündigt, bevor er sie ausgeteilt hatte. Aber was er dann gelesen hatte, klang trotzdem nicht viel »heutiger« und »deutscher« als Lessing oder Goethe. Alles alt, überzogen, moralisch und vor allem langweilig. So wie der glatzköpfige Pfarrer, der das alles »sehr interessant« fand. War ja auch logisch, denn Pfarrer mussten das ja interessant finden, immerhin war es ihr Beruf. So wie die Klofrau ihre Klos interessant finden musste und die Erzieherin ihre Kindergartenkinder. Aber Nadja??? Wollte sie Pfarrerin werden? Für einen Augenblick wollte er schon stehen bleiben und Nadja ihrem Schicksal überlassen. Aber dann siegte doch der Eroberungsdrang. Simon war ein Eroberer und so schnell wollte er Nadja nicht aufgeben. Vielleicht könnte er sie ja aus den Klauen der Singe-und-Bibel-Teens befreien.
Nadja bemerkte den irritierten Blick von Simon, denn er hatte nun bereits länger als drei Sekunden nichts mehr gesagt. »Schockt dich das?«, fragte sie.
»Nein, nein, ganz und gar nicht«, tönte Simon laut. »Ich meine … ich muss zugeben, dass ich dich nicht so auf Anhieb mit … ähm … Bibel und so … in Verbindung gebracht hätte, aber … ich find’s cool, echt. Bibel kann doch auch … also … sehr interessant sein … besonders, wenn sie … ähm … im heutigen Deutsch ist …«
»Gib dir keine Mühe«, sagte Nadja, grinste und schaute ihn mit ihrem typischen Augenaufschlag an, der ihn zum Zittern brachte, »ich weiß doch, wie du über die Bibel denkst.«
»Ach so. Na ja. Also, nee, ich meine … man kann ja auch dazulernen.«
»Also, wenn du willst, dann komm doch einfach. Ich würde mich freuen.« Nadja und Steffi waren bei ihren Fahrrädern angekommen, öffneten ihre Schlösser und packten die Taschen in den Fahrradkorb.
Nadja würde sich freuen! Simon hatte das Gefühl, einen Kopf wie Erdbeereis zu bekommen. Aber er tat weiterhin gelassen: »Ja, gut. Ich überleg’s mir.«
Nadja lächelte ihn kurz an, und zwar so, dass sich Simon schon beinahe sicher war, Donnerstagabend kämen sie zusammen. Dann schwang sie sich aufs Fahrrad und fuhr mit Steffi davon.