Читать книгу 13 Wochen - Harry Voß - Страница 14
11. Kapitel
ОглавлениеDer Wecker hatte nicht geklingelt. Simon schreckte aus dem Schlaf hoch: So ein Mist! Wo war er? Wieso war es schon hell? Es war Montagmorgen. 29. April. Der erste Schultag nach den Osterferien. Es war schon kurz vor acht. Sein Bus war längst weg! Warum hatte ihn niemand geweckt?
Simon stürzte aus dem Bett, zog sich an und bedeckte mit einer Mütze die unfrisierten Haare.
»Wieso hast du mich nicht geweckt?«, brüllte Simon, als er nach oben in die Küche polterte.
Seine Mutter saß mit der Zeitung da und erschrak. »Du warst doch gestern Abend krank. Du hast doch ganz lange vor der Haustür gestanden und dich übergeben. Da habe ich gedacht, es ist besser, wenn du mal einen Tag zu Hause bleibst.«
»So ein Quatsch!«, schimpfte Simon. »Natürlich geh ich zur Schule!« Er schnappte sich seine Schultasche und rannte zur Bushaltestelle. An jedem anderen Tag wäre er froh gewesen, wenn er einen handfesten Grund gehabt hätte, von der Schule zu Hause zu bleiben. Heute war er fest entschlossen, Nadja gegenüberzutreten. Wenn sie von diesem Dämon besessen war, dann hätte er endlich ein greifbares Gegenüber, gegen das er kämpfen konnte.
Natürlich hatte Simon jeden Bus zur ersten Stunde verpasst. Und auch die Busse, die pünktlich zur zweiten Stunde fuhren, waren schon weg. Er betrat das Schulgebäude, als die zweite Stunde schon seit zehn Minuten begonnen hatte. Das fand Simon verschmerzbar. Die Lehrer sollten froh sein, dass er überhaupt noch kam. Selbstbewusst und ohne die Spur eines schlechten Gewissens betrat er den Klassenraum. Frau Hebener, die Englischlehrerin, schielte kurz über ihren Brillenrand: »Auch schon auferstanden, der Herr Köhler?«
Auferstanden. Sehr witzig. Blöde Kuh. Aber Simon grinste wie immer und breitete die Arme aus, als hätte man ihm gerade einen Preis verliehen: »Auferstanden aus Ruinen! Man kennt mich doch!« Einige lachten. Simon setzte sich auf seinen Platz. Und sofort hielt er Ausschau nach Nadja. Sie saß zwei Reihen vor ihm, aber so weit links, dass er keine Chance bekam, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Sie hatte sich, als er reingekommen war, zu ihm umgedreht und ihn erstaunt angesehen. Seitdem hatte sie sich aber kein zweites Mal mehr umgedreht.
Nach dem Englisch-Unterricht ging er zur Klassenzimmertür und lehnte sich mit verschränkten Armen und lässigem Grinsen an den Türrahmen, sodass alle, die in die Pause gehen wollten, an ihm vorbei mussten. Manchen Mädchen pfiff er hinterher, manchen flüsterte er »Nette Zahnspange« oder »Gab’s die Bluse aufm Trödel?« hinterher. Die Jungs klatschte er ab. Die meisten waren stolz, von so jemandem wie Simon wahrgenommen zu werden. Als Leon kam, dachte er wohl, mit ihm würde er auch abklatschen, und er hob schon erwartungsvoll seine Hand. Simon erhob seine Hand ebenfalls, als Leon aber abklatschen wollte, ließ Simon seine Hand knapp an Leons Hand vorbeizischen und schlug ihm unsanft auf den Monster-Tornister, den Leon brav auf dem Rücken trug. »Oh, ’tschuldigung, Leon«, grinste er theatralisch.
Als Letztes kam Nadja. Auf keinen Fall durfte sie merken, dass er gestern Abend in Panik verfallen war. Wäre doch gelacht, wenn er nicht noch ein paar Infos über ihr Doppelleben kriegen würde. Mit verschränkten Armen lächelte er sie an und zog dabei die Augenbrauen hoch: »Na, Baby? Wie war deine Nacht in der Mühle?«
Nadja blieb augenblicklich vor ihm stehen, gefährlich nah an seinem Gesicht. Würde er jetzt seine Arme auseinander nehmen, könnte er ihr an die Brust fassen. Ihre Miene verfinsterte sich und ihr Ton hatte was Bedrohliches: »Ja, genau. Das ist der Simon, wie ich ihn kenne. Ein mieses, kleines Arschloch.«
Simon gelang es, seine Fassung zu bewahren. Niemand konnte sehen, dass ihm gerade ein Stich in die Magengrube fuhr. »Danke für das Kompliment. Klingt aus deinem Mund richtig sexy.«
Sie sah ihm weiterhin streng in die Augen: »Wenn du wüsstest …«
»Was denn?« Er grinste weiter. »Ach, übrigens. Das Handtuch, das du erwähnt hast – ja, das hat wirklich gestunken. Nach Mädchen, die sich ihren Hintern nicht abputzen. Guter Trick. Wie hast du das da reingezaubert?«
»Hab ich nicht. Das warst du sicher selbst. Denn du musst zugeben, eigentlich hat es nach ekelhaftem Schweiß von kleinen Milchbubis gerochen, die sich vorkommen, als wären sie schon achtzehn.«
»Gut gekontert. Aber wenn du’s nicht reingetan hast – wieso wusstest du dann davon?«
»Ich weiß noch ein bisschen mehr, mein Lieber. Also sieh dich vor, dass du mir nicht auf die Nerven gehst.«
»Echt? Was weißt du denn noch?«
»Ich weiß zum Beispiel, dass du heute verschlafen hast. Und ich wusste, dass du in die zweite Stunde reinplatzt.«
»Oooh, jetzt hab ich aber Angst. Ich schätze mal, das wissen jetzt hundert Prozent der Klasse.«
»Ich wusste es vorher schon.«
»Oh, bravo. Ich bin beeindruckt.«
»Ich weiß auch noch, dass heute in der sechsten Stunde Sport ausfällt.«
»Woher?«
»Ich weiß es einfach.«
»Warum sollte Sport ausfallen? Herr Schweizer ist doch da.«
»Ja, aber er wird sich in der fünften Stunde beim Unterricht in einer anderen Klasse den Fuß umknicken und dann zum Arzt gehen.«
Ohne es zu wollen entglitten Simon jetzt die Gesichtszüge. Er wurde kreidebleich. »Du bist es«, hauchte er leise. »Du bist die Gestalt aus der anderen Welt. Du versuchst mich zu schikanieren. Du versuchst mich fertigzumachen. Aber du hast keine Chance. Ich werde dich auslöschen.«
»Tu dir keinen Zwang an«, antwortete Nadja kühl. »Aber falls es dich beruhigt: Ich bin es nicht. Ich hab nichts damit zu tun. Ich hab dir auch nicht die Zettel geschrieben wegen Helge Schürmann und so.«
Wieder ein Stich in Simons Magengegend. »Woher weißt du von diesen Zetteln?«
Nadja schaute Simon immer noch fest an, sagte aber nichts. Da hatte Simon einen neuen Verdacht und den sprach er auch sofort aus: »Du warst gestern in der Mühle. Irgendwas hast du dort gesehen. Du hast jemanden getroffen. Hab ich recht? Ist es das? Hat dieser Dämon Besitz von dir ergriffen? Musstest du ihm deine Seele verkaufen? Hast du jetzt auch die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen? Bist du überhaupt noch die Nadja, die ich kenne?«
Nadja bekam ein gefährliches Grinsen. Sie kam ihm mit ihrem Gesicht noch näher. »Ich kann deine Angst riechen, Simon Köhler. Und ich muss sagen, es gefällt mir, dich auch mal so zu erleben. In diesem Blick steckt ein Hauch von Ehrlichkeit. Der steht dir gut.«
Simon ließ Kopf und Arme hängen. Er war völlig fertig. Nadja wandte sich zur Tür und wollte gehen, da fragte Simon leise: »Wer bist du? Was willst du?«
Nadja blieb stehen und drehte sich noch einmal kurz zu ihm um. »Zwei Fragen, zwei Antworten: Ich bin Nadja Tillmann und niemand anderes. Aber wer ich wirklich bin – tief in mir drin, das wird dieser Simon, den ich hier vor mir habe, wohl niemals herausfinden. Und was ich will? Ich will, dass du dich selbst mal kennenlernst, damit du siehst und erlebst, was für ein Mensch du eigentlich bist. Und ich will, dass du du selbst wirst.«
»Und wie soll ich das?«
»Finde es heraus.« Damit ging sie endgültig und ließ ihn verwirrt und ratlos im Klassenzimmer stehen.
Den Rest des Tages versuchte Simon, diese rätselhafte Bemerkung von Nadja zu entschlüsseln. »Ich will, dass du du selbst wirst«, hatte sie gesagt. Was sollten solche philosophischen Sätze? Simon war doch er selbst! Hatte dieses Gespenst vor einigen Wochen, als er es zum ersten Mal in der Nacht gesehen hatte, nicht auch so was gesagt? »Versuch, dich zu akzeptieren und du selbst zu werden. Dann musst du nicht andere kopieren wie ein billiger Doppelgänger.« Wenn Simon nicht er selbst war, wer war er denn sonst? Ein Doppelgänger? Von wem? Von der mysteriösen Kreatur in der Mühle?
Der Sport-Unterricht in der sechsten Stunde war tatsächlich ausgefallen. Weil Herr Schweizer in der fünften Stunde bei einer anderen Klasse seinen Fuß umgeknickt hatte und zum Arzt musste. Als er diese Nachricht hörte, wollte er sofort Nadja noch einmal darauf ansprechen, aber sie hatte schon den Nachhauseweg angetreten. Simon war fix und fertig. Wenn diese übersinnliche Macht das Ziel hatte, ihn in den Wahnsinn zu treiben und dadurch auszuschalten, dann war sie auf dem besten Weg, ihr Ziel zu erreichen. Simon wusste nicht, wie viel Kraft er noch hatte, um dagegen anzukämpfen.