Читать книгу Im Schatten des Wolfes - H.E. Otys - Страница 10
5.
ОглавлениеSie schlief einen ganzen Tag hindurch, ungeachtet der Männer, des Windes, der Planken, die nie still zu sein schienen. Robyn blickte hinauf in den klaren Sternenhimmel.
Trotz des Misstrauens waren die Nordmänner nicht ohne Freundlichkeit. Ein Hauch von Winter lag seit einigen Stunden über dem Schiff, je näher sie ihrer Heimat kamen. Jemand hatte ihr eine wärmere Decke um die nackten Schultern gelegt, während sie schlief. Das Feuer war erloschen, aber sie empfand keine allzu große Kälte. Die Decken waren von guter Qualität, ein Zeichen, dass die Nordmänner zu etwas Reichtum gelangt waren.
Robyn tastete vorsichtig ihr Ohr ab. Es war heiß und geschwollen. Sie wünschte sich sehnlichst, es kühlen zu können, aber das musste warten. Wenn man der Luft glauben schenken konnte, würde im Land der Nordmänner bereits Schnee liegen. Schnee ... Robyn glaubte für einen Moment ein Bild vor sich zu sehen. Doch es verschwand genauso schnell wieder. Ob es Erinnerungen waren? Die Zunge der Nordmänner bereitete ihr keine Probleme. Sie verstand jedes Wort. Andere Nordmänner aus Jutland, Svealand oder Götaland hätten ihre vollste Aufmerksamkeit benötigt, um sich verständlich zu machen. Nicht diese. Sie selbst hatte das meiste aus ihrer Vergangenheit vergessen, hatte die nordische Zunge nie gesprochen, solange sie bei Ath gewesen war. Alles, was vor der Steinwüste gewesen war, erschien ihr vage, verschwommen, niemals kehrten konkrete Sachen in ihr Gedächtnis zurück. Nur die kratzige Zunge, rau und doch für ihre Ohren nicht unangenehm, war ihr geblieben.
Ich verstehe jedes Wort.
Was bedeutete das? Konnte es sein, dass ihr Ursprung irgendwo im Land dieser Nordmänner lag?
Geliebter Vater, werde ich dich je wiedersehen?
Ihre Verzweiflung gewann erneut die Oberhand, verdrängte jene Gedanken. Die Furcht kehrte schockartig zurück. Sie war verdammt zu einem Leben unter diesen Menschen, die ihr so fremd waren. Was geschah, wenn sie an Land gingen? Was würden sie mit ihr tun?
Vater, steh mir bei. Lass mich nicht allein.
Die Angst verstärkte ihre Schmerzen. Sie wusste, sie musste sich zusammennehmen. Tat es nach einer Weile, atmete tief ein und aus.
Langsam richtete sie sich auf, das Blut rauschte in ihrem Kopf, ließ sie nochmals geraume Zeit verweilen. Dann erst klärte sich ihr Blick und sie erkannte die Umrisse der Kleidung, die einer der Nordmänner ihr hingelegt hatte, Hosen und eine weite helle Tunika, einige Lagen groben Stoffes und Lederschnüre, um ihre Füße zu schützen. Vielleicht würden sie ihr später Schuhe geben.
Später.
Robyn stöhnte leise.
Reiß dich zusammen! Die eigene Stimme in ihrem Kopf klang nicht überzeugend, aber sie sagte es sich wieder und wieder. Sie musste an das Jetzt denken, sich sammeln, um dem Später entgegentreten zu können.
Sie bemerkte einen Eimer und sah sich unsicher um. Niemand war in der Nähe, wenigstens das blieb ihr erspart. Fast schien sie allein auf dem Schiff. Auch als sie wenig später die Kleidung anzog und ihr Haar mit einer Lederschnur zusammenband, störte sie niemand. Beruhigt lehnte sie sich an die Reling, zog die Decken wieder enger um sich und versuchte ihren hämmernden Kopf zu vergessen.
»Nixe, schlag die Augen für einen Moment auf.«
Robyn hörte die leisen Worte kaum, leistete ihnen aber Folge. Sie wollte diesen Männern keinen Grund geben, ihre Freundlichkeit zu bedauern. Sie schienen nicht glücklich über ihr Hiersein. Auch ohne sie lange Zeit in Augenschein genommen zu haben, konnte sie es fühlen. Trotzdem schenkten sie ihr genug Aufmerksamkeit, mehr als ihre ertrunkenen Entführer, die sie wie ein Warenstück zu den anderen Gütern abgelegt hatten. Hernach hatte wahrscheinlich nur der aufziehende Sturm verhindert, dass sie sogleich über sie hergefallen waren. Der Sturm war ihr ein Wunder, ein Gottesgeschenk, ein Zeichen gewesen.
Einer der Nordmänner kniete neben ihr, hielt einen dampfenden Becher in der Hand. Es roch wundervoll nach Wacholderbeeren.
»Trink das«, sagte er, »morgen früh gibt es etwas Suppe, mehr solltest du noch nicht zu dir nehmen. Wenn wir morgen Nachmittag an Land gehen, wirst du bald etwas Richtiges essen können.«
Robyns Blick wanderte von dem Becher kurz zum Gesicht des Nordmannes.
»Trink langsam, Nixe«, zog er sie auf, »es ist kein Salzwasser.«
Sie nahm den Becher und er ging ohne ein weiteres Wort. In der Dunkelheit verhalten seine Schritte schnell. Robyn sog den Geruch des dampfenden Weines tief ein. Es dauerte nicht lange und die langsamen Schlucke betäubten den Schmerz. Dankbar ließ sie sich zurück auf die Decken sinken.