Читать книгу Im Schatten des Wolfes - H.E. Otys - Страница 12
7.
ОглавлениеRobyn hatte nie wirklich an eine Flucht gedacht, doch nun war sie sicher, dass sie es nie geschafft hätte, diese in die Tat umzusetzen.
Es war früher Abend, als sie endlich anlegten. Das Wetter hatte sich stetig verschlechtert. Kein wirklicher Nebel lag auf dem Wald, der sie traurig begrüßte, nur ein nasser Dunst stieg vom Schnee auf. Scheinbar hatte der Sturm den Winter für kurze Zeit abgelöst und ließ es etwas wärmer werden, doch nicht für lang. Sie hatte einige Gesprächsfetzen der Nordmänner aufgefangen. Am steinigen Strand begrüßten sie einige Nordmänner und Nordfrauen mit Packpferden für die Ladung. Geduldig warteten sie, während ihr Retter und die anderen Männer anlegten und eine Rampe aufstellten. Sie bemerkte auch die unsicheren Handbewegungen zu ihr selbst hin. Obwohl sich Robyn so weit wie möglich an Bord zurückgezogen hatte, um das Anlegen und ihre Fluchtmöglichkeiten abzuschätzen, blieb sie nicht lang verborgen.
Sie verkrampfte innerlich, schalt sich, da ihr Kopf daraufhin wieder mehr schmerzte.
Wie würden sie damit umgehen, dass die Heimkehrenden eine Fremde mitbrachten? Aus dem Meer gefischt. Keine der ihren, wie sie bald feststellen würden, sondern eine Angelsächsin. Sie würde sich nicht mehr lang in Schweigen hüllen können. Bis jetzt hatte sie es umgangen zu sprechen, da sie befürchtete, dass sich ihr Kiefer ausrenkte. Wenn der Schmerz nachgelassen hatte, würde sie wieder sprechen müssen, um zu sehen, welchen Schaden der Sprung ins Wasser tatsächlich angerichtet hatte. Noch immer konnte sie nur schwer hören, manchmal verschwamm ihre Umgebung etwas, als könne sie zu schnellen Bewegungen nicht folgen. So wie jetzt als einer der Nordmänner auf sie zukam und sie kurzerhand auf seine Arme nahm, um sie die steile Rampe herunterzutragen. Sie schloss umgehend die Augen und hielt sie geschlossen, solange bis er sie absetzte. Als sie sie wieder öffnete, drehte sich alles. Unsicher ergriff sie das nächstliegende, die Mähne eines Packpferdes. Doch es scheute nicht, blieb ruhig stehen, bis sie sich selbst beruhigte. Sie ließ los, atmete tief ein und aus, bemerkte erst jetzt, dass ihr der Nordmann zudem eine Decke umgelegt hatte.
»Wirst du das Stück laufen können, Nixe?«
Robyn blickte nicht auf, erkannte trotzdem die Stimme ihres Retters. Sie nickte. Ein leichter Luftzug strich über sie hinweg.
»Halte dich am Pferd fest. Der Fußmarsch dauert nicht lang. Wenn wir in der großen Halle ankommen, wird man über deinen Verbleib entscheiden.«
Wulf musste nicht in ihre Augen blicken, um zu sehen, dass sie begriff. Und dass sie klug genug war, sich nicht zu wehren oder eine Flucht zu wagen. Für den Moment ergab sie sich ihrem Schicksal und ließ die Dinge geschehen. Sie handelte weise, denn in ihrer Zurückhaltung gab sie den anderen Nordmännern nicht noch mehr Gründe, sie nicht zu mögen. Ihre Schweigsamkeit würde sich auch in der Halle auszahlen, wenn sie sie beibehielt. Und das würde sie.
Als er sich abwandte, bemerkte Robyn, wie sich das Packpferd in Bewegung setzte. Es trottete den anderen hinterher, ohne geführt zu werden. Es fiel ihr nicht schwer, dem Pferd zu folgen. Es machte kurze, langsame Schritte, dem weichen Unterboden misstrauend. Robyn zog die Decke enger um sich, als sie den Wald betraten, und schaute vorsichtig um sich. Noch immer dampfte der Schnee um sie, die Tannen verloren unter dem leichten Wind Teile ihres weißen Kleides. Das Pferd erschreckte nicht einmal, als etwas davon auf seine Kruppe fiel. Der Tross zählte etwa fünfzehn Pferde, schwer beladen mit Kisten, Säcken, Körben und anderen unhandlichen Gegenständen. Die Nordmenschen gingen neben den Pferden, einige Frauen saßen auf den schweren Pferden der Heimkehrer, die in einiger Entfernung parallel zu ihnen den Wald durchritten. Die Pferde hatten keine Mühe, die doppelte Last zu tragen. Zu Robyns Erstaunen tauschten die Männer und die Frauen Vertraulichkeiten aus, flüsterten, lachten sogar leise.
Dies waren keine Konkubinen. Keine Frauen für ein kurzes Vergnügen. Es waren Ehefrauen. Ehefrauen, die auf die Rückkehr ihrer Männer gewartet hatten. Sehnlichst gewartet hatten.
Dann hörte sie das leise Tuscheln. Ihr rechtes Ohr fing es vor ihr auf. Unsichere Blicke gingen von den Nordmenschen zu ihr hin. Sie versuchte sie zu ignorieren, doch es fiel ihr schwer. Zudem fröstelte sie mehr als zuvor. Der Stoff um ihre Beine begann durchzunässen, der Wind nahm zu, je lichter der Wald wurde. Der Blick auf das Dorf der Nordmänner wurde frei. Einige Leute kamen ihnen aus dem Dorf entgegengelaufen, ältere Leute, für die der Weg zum Strand zu beschwerlich gewesen war.
Um sich abzulenken, konzentrierte sich Robyn auf alle Einzelheiten der Menschen und ihres Dorfes. Die offensichtlichen Verteidigungsanlagen, Wälle, ein Graben mit Pfählen. Holz war das bevorzugte Baumaterial, der Wald gab ihnen genug davon. Ihre Häuser schienen stabiler als manch angelsächsisches Haus. Robyn hatte von der Kunstfertigkeit der Nordmänner gehört. Handwerker, Waffenschmiede, Schiffsbauer, nichts, was sie nicht herstellen konnten. Schmuck, eine Seltenheit unter angelsächsischen Frauen, den höhergestellten vorbehalten, trug hier nahezu jede Frau. Ketten, Armreifen, kunstvolle Fibeln, Haarschmuck. Robyn hatte, obwohl Ath ihr jeden Wunsch erfüllt hätte, nie viel davon gehalten. Gleichwohl beeindruckten sie die Kostbarkeiten.
Der Weg zum Dorf führte eine kleine Erhebung hinauf. Wie weit das Dorf hinter dem Hügel fortlief, vermochte Robyn nicht zu sagen, nur dass es sich zu ihrer Linken im Wald fortsetzte.
Die große, lang gestreckte Halle auf dem Bergkamm war nicht die erste dieser Art, die Robyn erblickte. Sie hatte ihren Vater stets auf seinen Reisen begleitet, sich im Hintergrund gehalten wie es sich für eine gute Tochter ziemte, seine Briefe und Rechungen und andere Papiere bearbeitet, seine Waren aufgelistet, ihrem Vater die Verhandlungen überlassen. Und sie hatte beobachtet und gelernt, Menschen einzuschätzen, ihre Sprachen zu sprechen, ihre Taktiken zu durchschauen, ihre Gepflogenheiten, ihren Glauben, ihre Medizin, ihre Bauweise, ihre Waffen, die sichtbaren und die unsichtbaren, mit denen man zuweilen mehr Schaden anrichten konnte als mit Schwertern und Äxten. Nordmänner beherrschten diese Waffe besonders gut. Respekt, Ehre, Wahrheit. Ihnen galten diese Wörter noch etwas. Wer sich nicht daran hielt, fiel in Ungnade und wurde bestraft mit Nichtachtung, Zorn und Zynismus. Ath hatte nie Probleme mit ihnen gehabt, umso freier hatten er und Robyn sich unter ihnen bewegen können. Sie hatten vorzügliche Geschäfte in Hedeby abgeschlossen. Und Robyn hatte ihre Hallen bewundern können, das ausgesuchte Holz, die Mächtigkeit dieser Bauten, ihre Ewigkeit, die geschickten Schnitzereien, innen und außen.
So wie jene, vor der sie jetzt hielten. Während die Nordmenschen die Packpferde abluden, stand Robyn teilnahmslos daneben und versuchte, sich unauffällig zu verhalten. Die große Tür der Halle ließ etwas Licht ins Halbdunkel nach draußen fallen. Der Geräuschpegel der Menschen um sie war gesunken, fast wortlos arbeiteten sie, brachten die Güter ins Innere der Halle. Der Dunst vermischte sich mit ihrem Atem, nur vereinzeltes Flüstern war noch zu hören. Vor allem die Frauen beäugten sie nach wie vor misstrauisch. Robyn trat unauffällig von einem Fuß auf den anderen. Der Stoff war inzwischen vollkommen durchnässt, aber sie musste noch aushalten, musste erfahren, was mit ihr passieren würde, musste stark sein.
Für einen Moment dachte sie an ihren Vater. Was mochte er gerade tun? Ob er sie suchen lassen würde?
Nach all den Jahren hatten sich ihre Wege wieder getrennt. So abrupt wie sie einander begegnet waren, einander geliebt und geachtet hatten, so jäh waren sie wieder auseinandergerissen worden. Und nichts konnte sie wieder zusammenbringen. Robyn war sich während der Fahrt darüber klar geworden. Es gab kein Zurück. Wenn im Frühjahr wieder an eine Flucht zu denken war, würde man sie nicht mehr gehen lassen. Wenngleich sie keine Sklavin sein würde, sollte der Nordmann sein Wort halten, hatten die Nordmenschen hier Macht über sie. Einer Macht, der sie ausgeliefert war, jetzt und im Frühjahr.
Ath, geliebter Vater.
Robyn stieß leise den Atem aus.
Ich werde dich nicht enttäuschen. Der Kreis schließt sich. Ich werde immer deine Tochter sein, aber vielleicht hat mich diese Reise dorthin geführt, wo ich wirklich herstamme.
Einer der Nordmänner schob sie unsanft in die Halle. Robyn holte tief Atem, sie wusste, was sie drinnen erwarten würde. Abgestandene, von Rauch erfüllte Luft. Das Feuer in der Mitte der Halle brannte lichterloh und sie war dankbar für die Rauch durchzogene, warme Luft. Der Nordmann ließ irgendwann ihren Arm los. Sie stand inmitten der mitgebrachten Kisten, Körbe und Säcke. Die anderen Nordmenschen saßen auf Bänken oder standen um das große Feuer, hinter dem sich ein Thron und drei weitere aus feinstem Holz geschnitzte Sitzgelegenheiten befanden. Den Thron und die zwei Stühle daneben nahmen der König und seine beiden Söhne ein. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, beide Söhne hatten das rote Haar des Königs, wenngleich es bei letzterem von grauen Fäden durchzogen ein derbes, wettergegerbtes Gesicht umrahmte. Robyn starrte ihn augenblicklang an, fing seinen Blick kurz auf, als er über seine Untergebenen und die Ladung des Schiffes hinwegsah. Sie schlug den Blick sofort nieder. Ihre Gänsehaut rührte nicht mehr nur von der Kälte. Sie mochte den König nicht, ohne ihn zu kennen, ohne ihn sprechen gehört zu haben.
Wulf hatte ihre Reaktion beobachtet, während er seine Männer zum Thron führte und dort für einen Moment zähneknirschend ein Knie den Boden berühren ließ, während er den Kopf vor seinem König senkte.
»Seit unserem letzten Wiedersehen sind keine Männer gefallen«, sagte er, als sie sich wieder erhoben hatten. »So kann ich dir die Leibgarde des Kaisers von Byzanz vollzählig übergeben, auf dass sie nun endgültig in deinen Diensten steht. Der Kaiser entsendet seine Grüße und dankt dir für den Schutz seiner Person, der durch deine Männer gewährleistet wurde. In diesem Moment sind wir entbunden von unserer Pflicht, einem fremden Herrscher zu dienen und kehren heim. Der Kaiser schickt dir diese Geschenke.« Wulf wies auf die Ladung. »Stoffe, Gewürze, Seide, Wein, Silber und erlesene Juwelen. Du sollst dich daran erfreuen und deinen alten Freund nicht vergessen. Er wird dich immer willkommen heißen.«
Robyn schaute verstohlen auf die Männer, die vor dem König standen. Schaute auf ihren Retter. Die Leibgarde eines Kaisers. Durch ihr unbekannte Umstände an eine Pflicht gebunden, fern der Heimat zu dienen. Diese Männer hatten sie gerettet. Ihr Kommandant hatte sie gerettet. Sie musste den Blick erneut niederschlagen. In ihrem Kopf begann das quälende Hämmern, ihre Gedanken zu stören. Sie kniff die Augen zusammen, presste ihre Lippen aufeinander. Ihre Fäuste ballten sich unter der Decke, die Anspannung musste ihr helfen, sie musste dies hier durchstehen. Ohne sich innerlich zu lösen, lauschte sie den Worten des Königs.
»Hab dank für deine Worte. Wir erwarteten euch bereits vor zwei Tagen. Die Jahre in Byzanz haben euer Seefahrerblut nicht verdünnen können, ich sehe, ihr habt den Sturm gut überstanden ...«
Seine Stimme war quälend. Robyn verkrampfte sich noch mehr unter der Decke. Wärme, wo war die Wärme in seiner Stimme für jene Männer, die für ihn lange Zeit in fremden Diensten gestanden hatten? Er sprach über die Geschenke, dankte den Männern, brachte seine Erleichterung zum Ausdruck, dass sie wohlauf zurückgekehrt waren, fragte jeden nach seinem Befinden, hörte ihnen zu. Eine Ewigkeit verging. Robyn bemerkte die Zurückhaltung ihres Retters. Der König richtete kaum das Wort an ihn. Eine spürbare Kälte herrschte zwischen den beiden.
Nach einer Weile wurden die Gespräche der anderen Nordmenschen lauter. Scheinbar freuten sie sich auf die bevorstehende Feier zu Ehren der Heimkehrer. Robyn hörte ihre Stimmen zuweilen in Erregung anschwellen, einige hielten bereits Hörner mit Met in ihren riesigen Händen, Männer als auch Frauen.
Wulf wartete geduldig, während sich der König noch immer mit einigen seiner Männer unterhielt. Ihn störte der einschmeichelnde Ton in der vom Alkohol rau gewordenen Stimme. Sie konnte ihm nicht verbergen, was er sonst auf dem Weg zur Halle in den Gesichtern der Menschen gelesen hatte. Unschlüssigkeit, Unsicherheit, Unbehagen. Ein Fest konnte davon ablenken, aber wie lange? Morgen früh würden die Probleme dieselben sein. Und nur ein König konnte dies ändern. Aber er ignorierte es, so gut es ihm möglich war. Ignorierte, dass seine Leute darunter litten, uneins zu sein, getrennt zu sein von den anderen beiden Herrschaftsgebieten, auf die Eilaf rechtmäßig jedoch keinen Anspruch hatte. Weil er nicht der wirkliche König war. Jener würde in seiner Halle sitzen und den Tod vieler seiner Männer zu beklagen haben. Männer, die noch immer mit Sklaven handelten, diesmal jedoch selbst zu Sklaven geworden waren. Sklaven der Wassergeister, die ihre Seelen in Besitz genommen haben würden.
»Wulf.«
Niemand hätte jene düsteren Gedanken vermutet, als der Angesprochene seinen Blick dem König entgegen hob. Seine linke Hand lag ruhig auf dem Schwertgriff, der Mantel verdeckte die rechte zusammengekrampfte, die er in Gedanken schon hatte das Schwert nehmen lassen, nicht um zu töten, nur um seinen König aufzuwecken.
»Sprich, Wulf, welch seltsames Geschenk überbringt ihr noch vom Kaiser. Ein Mädchen in Männerkleidern ... hübsch? Nun das vermag ich nicht zu sagen ...« Einige der Nordmenschen lachten gedämpft. »Doch wohl mit ansehnlichem hellem braunen Haar und ein paar Augen, die das Feuer wie Gold funkeln lässt. Also, was hat es auf sich mit ihr?«
»Ein Fisch, der uns vor zwei Tagen ins Netz ging.«
»Ihr habt sie aus dem Wasser gezogen.« Eilafs Missbilligung war unüberhörbar. Einige der Frauen stießen Verwünschungen aus, andere begannen wieder zu flüstern.
»Ganz richtig«, war alles, was Wulf sagte.
»Ruhe«, schnauzte Eilaf seine Leute an. Augenblicklich verstummten die Stimmen. »Und was denkst du, soll mit ihr passieren?«
»Das werde ich ganz dir überlassen.« Wulf beobachtete Eilafs Unbehagen.
»Du weißt so gut wie ich, dass ihr das nicht hättet tun sollen. Sie war dem Wasser übergeben. Die Wassergeister könnten es uns bei unserer nächsten Überfahrt heimzahlen.«
»Olaf Tryggvason würden deine Worte nicht gefallen«, forderte Wulf den König heraus. »Er würde aus uns viel lieber gute Christen machen. Wassergeister, Aberglauben ...«
»Schweig«, rief Eilaf ungehalten. Wulf bereute seine Worte nicht, er hatte in den letzten Jahren zu selten die Gelegenheit gehabt, Eilaf zu reizen und ihn zu erinnern, was ihnen bevorstand, wenn sie Olaf Tryggvason nicht einig gegenübertraten.
»Ist sie von einem Schiff über Bord gegangen?« Eilafs Blick ging von ihr zurück zu Wulf.
»Vermutlich«, entgegnete Wulf ruhig. »Wir fanden Wrackteile. Ein Schiff vom Westdorf. Sie werden sie als Sklavin geraubt haben. Wo, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht weiter südlich.«
Eilaf blickte über seine Leute.
»Ist jemand bereit, sie zur Frau zu nehmen?«
Die Frauen flüsterten von neuem, diesmal hörte Robyn auch Männerstimmen. Sie glaubte Nixe zu hören, wieder Wassergeister, böses Omen, Untote.
Eilaf wurde ungeduldig.
»Also, wer will sie? Du, Hroar ... Eadgar, nein? Hrethel? Oluff?«
Wulf starrte einen Moment zu ihr hinüber. Sie hielt sich gut. Er hatte erwartet, dass sie niemand als Frau begehren würde. Nun musste Eilaf sie zumindest auf einem Hof unterbringen, als Magd oder Hirtin oder Näherin.
»Wer hat sie aus dem Wasser geholt? Sie zuerst berührt?«
Wulfs Blick schnellte zurück. Er glaubte nicht, was Eilaf im Begriff war zu tun. Und er selbst war machtlos.
»Ich.« Wulfs Stimme gab auch diesmal nichts von seinen wahren Gedanken preis.
Eilaf holte Luft, bevor er weitersprach. Er hatte vorschnell gehandelt, aber nun gab es kein Zurück mehr. Er hatte nicht geglaubt, dass Wulf die Unverfrorenheit besessen hatte, das Mädchen der See zu entreißen.
»Wie lange ist deine Frau tot, Wulf? Zwei Winter? Drei?«
»Zwei.« Wulf merkte, dass Eilaf ablenkte, um sich zu fassen. Sie beide würden diesen Abend nicht wieder vergessen. Wulf wurde ein weiterer Grund gegeben, diesen Mann zu hassen.
»Eine lange Zeit«, überlegte Eilaf »Ich denke, es wird Zeit, dass du dir wieder eine Frau nimmst. Sie gehört ab jetzt dir.«
»Ich denke, dass ist keine gute Idee.« Wulf konnte den Widerspruch nicht aufhalten, es war zu spät dafür.
»Es ist meine Entscheidung. Sie gehört dir.«
Die Nordmenschen schnappten nach Luft. Niemand hatte mit dieser Entscheidung gerechnet. Sie schraken zurück, als sich Wulf einen Weg durch sie bahnte, genau auf das Mädchen zu. Unsanft umfasste er ihren Oberarm, schleifte sie geradezu vor den König.
»Das hast du mir nach fünfzehn Jahren also zu geben«, stieß er zynisch hervor. Robyn wagte nicht zu atmen, ihre Fassungslosigkeit bewahrte sie jedoch vor einer unvorsichtigen Handlung. Unfähig sich all dem zu entziehen, lauschte sie ihrem Retter und dem König. »Fünfzehn Jahre, in denen du deinen anderen Söhnen ein Vater warst.« Wulf blickte die beiden jungen Männer zur Linken und Rechten des Königs giftig an und sah zurück auf Eilaf. »Aber mich fortschicktest.«
Die Stimmen der anderen schwollen beängstigend an.
»Und nun? Nun gibst du mir ein zweites Mal eine Frau, damit du deinen Frieden und einen Sohn aus dem Weg hast, der dir vielleicht die Wahrheit ins Gesicht sagt und sie nicht nur denkt. Ich füge mich, wie schon das erste Mal. Aber eines noch ...«
Robyn spürte, wie er sie direkt neben sich zog, wie in der Kirche, vor einem Altar. Ihr wurde schrecklich bewusst, was er als nächstes sagen würde.
»Deinen Segen, Vater!« Wulf schnaubte diesmal vor Zorn und er gab sich keine Mühe, es zu verbergen.
Eilaf sprang wütend auf.
»Geh mir aus den Augen, Wulf, bevor ich dir befehle, das wahre Hochzeitsritual hier stattfinden zu lassen und dein Weib vor unseren Augen zu nehmen, wie es Tradition ist. Aber ich will dich nicht sehen, nicht heute Abend. Komm zur Vernunft in den nächsten Tagen.«
»Vielleicht wird meine Frau mehr Vernunft zeigen als du, Vater.«
Wulf drehte sich mit einem höhnischen Blick auf seinen Vater um und ging. Robyn zog er halb, halb folgte sie ihm. Die anderen ließen ihn durch, ihre Stimmen beunruhigt, besorgt, unverständig.
Robyn stolperte über den steinernen Absatz vor der Halle, die schwere Tür schwang hinter ihnen zu. Zielstrebig steuerte Wulf auf sein Pferd zu, schob sie jetzt mehr vor sich her. Hinter ihnen wurde die Tür nochmals geöffnet, krachte erneut zu. Schnelle Schritte stapften durch den Schnee.
Wulf hatte sein Pferd erreicht, war im Begriff Robyn hochzuheben, als er seinen Namen vernahm und innehielt.
»Wulf, warte ...«
Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Robyn atmete nicht minder heftig gegen ihn. Sie war fassungslos, er war zornig und kochte vor Wut. Sie wusste nicht, ob es ihr flehender Blick oder die Stimme hinter ihnen war, die ihn dann jedoch die aufgestaute Luft ausstoßen ließ. Er schlug den Blick nieder. Sie sah im faden Licht eine Bitterkeit um seinen Mund, die sie ahnen ließ, dass seine äußere Gelassenheit in den letzten beiden Tagen keineswegs echt gewesen war.
Seine Hände entspannten sich. Er ließ ihre Schultern los. Wulf drehte sich um und sah seinen Bruder Leif vor sich stehen. Nach nur einem kurzen Atemzug umarmten sie einander.
»Verzeih meine Worte, Bruder. Aber der alte Mann hat einen solchen Sohn wie dich nicht verdient. Du siehst nur das Gute in ihm.«
Leif studierte Wulf kurz.
»Und du, Bruder, siehst noch immer nur das Schlechte in ihm. Wird das immer so weitergehen?« Leif lachte kurz, aber es klang gequält, voll Sorge
»Solange, bis Eilaf der Wahrheit entgegensieht, Leif. Genau solange.«
»Er wird nie aufhören zu glauben, er sei im Recht. Er hatte Kinder, Söhne, unser Onkel nicht. Vater hat die Zeit nur nach vorn gedreht.«
»Unser Onkel hatte auch Kinder«, beharrte Wulf.
»Ja, aber nicht mehr. Vater hat ein Recht auf diesen Thron, so wie ich, so wie auch du.«
»Ich verzichte auf diesen Thron. Ich wollte ihn nie, ich habe nie darum gebeten. Es war ganz allein Eilafs Entscheidung.«
»Vater wollte nur das Beste für dich.«
»Deshalb schickte er mich also all die Jahre nach Byzanz.« Wulf konnte nicht glauben, dass Leif noch immer hinter ihrem Vater stand. Sie führten diese Diskussion nicht zum ersten Mal.
»Er tat es, weil er glaubte, du wärst der geeignetste, fähigste von uns.«
»Schluss damit, Leif.« Wulf war es leid. »Wir werden uns in dieser Sache nie einig sein. Geh hinein und feiere, trink einen Met für mich und sieh zu, dass sich unser Bruder Harold nicht besinnungslos säuft.«
»Es ist gut, dass du wieder hier bist, Wulf«, sagte Leif ernst.
»Du bist einer der wenigen, der so denkt.«
»Täusch dich nicht. Viele wagen nicht zu sprechen ...«
»Ich täusche mich nicht in dir und meinte, was ich in der Halle sagte.« Wulf sah seinen Bruder durchdringend an. »Du denkst die Wahrheit, willst sie aber nicht sagen.«
Leif kannte den Blick seines Bruders und nickte leicht.
»Wirst du morgen am Strand sein?«, fragte er ihn abschließend. Zum ersten Mal an diesem Abend trat ein milder Ausdruck in Wulfs Gesicht.
»Von jetzt ab jeden Tag, Leif, jeden Tag. Davon habe ich über fünfzehn Jahre geträumt.«
»Ich werde hinunterkommen und dich besuchen. Die Schiffsbauern erwarten dich freudig.«
»Diesen Männern, Leif, glaube ich es.«
»Wulf?«
Robyn bemerkte, dass der Bruder ihres Retters sie musterte. Wulf folgte seinem Blick.
»Ihr habt sie wirklich aus dem Meer gefischt?«
»So wahr sie dort steht.«
»Die Leute reden schon jetzt über sie.«
»Die Leute sollen sich um ihren eigenen Kram kümmern.«
Einen Moment war es still. Ihr Atem stieg dampfend in die Winternacht auf. Der Wind strich leise durch die nahe gelegenen Nadelbäume.
»Eine Nixe«, sagte Leif, fast ehrfürchtig.
Gerade in diesem Augenblick schwoll das Dröhnen in Robyns Kopf wieder unerträglich an. Sie stöhnte leise und drehte sich zum Pferd hin, um ihnen ihren Schmerz nicht zeigen zu müssen.
»Bis morgen.« Leif wandte sich ab und ging langsam zur Halle zurück. Wulf nickte nur, hob Robyn mühelos in den Sattel und achtete nicht auf ihr Unbehagen.