Читать книгу Im Schatten des Wolfes - H.E. Otys - Страница 8

3.

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Einige Stunden vergingen, in denen noch weitere Wrackteile an ihr Schiff stießen. Sie entdeckten ein paar Kleidungsstücke, aber keine Ertrunkenen. Irgendwann war das gesunkene Schiff nur noch eine Erinnerung und Egill nutzte die Gelegenheit auf dem letzten Rundgang vor seiner Ablösung, bei Wulf zu halten. Dieser hatte sich die Zeit genommen, um nach seinen Männern zu sehen. Zwei hatten sich während des Sturmes Prellungen zugezogen, einem war der Arm gebrochen, als er in der Mitte des Schiffes in den Laderaum gestürzt war. Man hatte sie gut versorgt. Sie ruhten auf Deck, eingehüllt in ihre Mäntel, dem kühler gewordenen Nordwind abgewandt.

»Es sollten ein paar Gliedmaßen weniger brechen nächste Nacht«, scherzte Egill leichthin mit Blick auf die nun ruhige See und die untergehende Sonne, die nur noch wenig Wärme schenkte, jedoch wie siedendes Gold ins Wasser tauchte.

»Es hätten weniger sterben sollen letzte Nacht.« Wulf konnte darüber nicht lachen. Er sah es Egill nach, doch er dachte auch an die Männer, die in der Nacht ertrunken oder mit dem Schiff zerschellt waren.

Wulf schärfte den Blick etwas, als er in der Ferne einen Punkt ausmachte. Es war ein heller Punkt, als schwämme ein Wassergeist in der Gold triefenden See. Die Strömung, der sie seit dem späten Morgen folgten, brachte sie dem Wassergeist näher. Egill und einige andere an der Reling entdeckten ihn wenig später auch.

»Es hätten weniger sterben sollen«, wiederholte Wulf seine Worte, als sie die Konturen eines leblosen Körpers erkannten.

»Nun doch eine Leiche, die wir bestatten müssen«, murrte Egill.

Als der Körper näher an sie heran getrieben wurde, glaubte Wulf wiederum, dass die Geister ein Spiel mit ihnen trieben. Eine Frau.

»Eine Sklavin«, stieß Egill wütend hervor, »und du bedauerst sie noch. Die Fische sollen ihre Körper zerfressen, damit man ihnen in Walhalla den Einlass verwehrt.«

Wulf widerte der Gedanke an, dass das Westdorf noch immer mit Sklaven handelte. Vor allem mit Frauen, da es unter ihnen nicht genug gab. Die rauen Sitten dort, obwohl der rechtmäßige König über sie herrschte, führten zu Widerstand bei den Frauen und viele ergriffen die Flucht. Nur wenige Kinder wurden geboren, und, als sei es ein Omen, vor allem Jungen. Seit Jahren sprach man hinter vorgehaltener Hand von einem Fluch. Und seit langer Zeit wurden die Wälder im Westen von den Frauen der anderen Dörfer gemieden, da sie dort Freiwild waren. Sie wollten nicht ins Westdorf entführt werden, wo man sie schwängern würde, um sie an einer Rückkehr zu hindern.

Die tote Wassernixe trieb nahe genug, um sie aus dem nassen Grab zu holen. Egill deutete einer weiteren Wache, ein Seil zu bringen. Wulf wollte es herablassen, sah hinab auf das weiße Gesicht der Toten, als sie unvermittelt die Augen aufschlug.

Robyns Aufschrei ließ die Männer an Deck einen Moment zögern. Noch im Schreien schob sich Robyn von der schmalen Planke, auf der sie stundenlang getrieben war, gehofft hatte, Gott möge sie holen. Ihre Beine gehorchten ihr nur noch unter Aufbringung all ihrer Kräfte, sie waren taub gefroren im eisigen Wasser. Doch sie schwamm, halb unter Wasser, nach Luft ringend, nur um den Nordmännern zu entkommen. Sie ruderte halb wahnsinnig, verlor für einige Augenblicke nahezu die Besinnung, sah sich plötzlich als Kind, es war heiß, unendlich heiß ...

Sie hatten das Mädchen im Morgengrauen geraubt. Es war ihnen ein Leichtes. Sie hatten genau gewusst, wann die Kleine aus dem Zelt treten würde, um die Fohlen der Sarazenenpferde zu streicheln, so wie sie es jeden Tag tat. Sie hatte sie nicht einmal kommen hören, geschweige denn erkannt.

Ihre Anordnungen, was aus ihr werden sollte, ließen keine Zweifel zu. Drei Tage hindurch ritten sie durch die karge Steinwüste, jagten ihre Tiere bis zur Erschöpfung in einen entlegenen Winkel des Byzantinischen Reiches.

Das Mädchen weinte still, wehrte sich aber nicht. Sie verstand nicht; vier Jahre waren zuwenig, um die Tragweite dessen zu erfassen, was die Männer im Begriff waren zu tun. Alles, was sie sah, waren Felsformationen, heißer kalkweißer, zuweilen blassgelber Sand und die unerbittliche Sonne. Die Männer sprachen nicht mit ihr, nicht untereinander. Nur manchmal rasteten sie, dann hetzten sie wieder Stunde um Stunde.

Wo war ihr Vater? Warum ließ er dies mit ihr geschehen? Sie meinte ihn zu vermissen, aber war sich nicht sicher. Zu streng, zu kühl war er ihr gegenüber. Auch das verstand sie nicht. Vielleicht hatte er den Männern geheißen, sie fortzubringen.

Ihre helle unbedeckte Haut war verbrannt, sie wollte weinen, aber irgendwann waren die Tränen versiegt. Ihre Kehle kratzte, sie fühlte ihre Augen zuklappen, ein Reflex, alles drehte sich. Ein Ruck ging durch den Pferdekörper.

Sie ließen sie auf den harten Steinboden fallen. Es schien ihnen die geeignete Stelle, um sich von ihr zu trennen. Es war ihnen strengstens untersagt worden, Hand an sie zu legen. Sie würden sie ihrem Schicksal überlassen, einem unentrinnbaren Schicksal, aber sie selbst durften es nicht wagen, ihr Leben zu nehmen.

Nach all der Zeit schluchzte sie laut vernehmbar in der Ödnis aus Stein und Felsen und zeigte endlich eine Regung. Ihre Knie und Ellenbogen bluteten durch den Aufschlag. Ihr zuckender Körper lag zusammengekrümmt auf dem heißen Boden.

Erstaunt blickte sie dann auf, blinzelte in die Sonne, als die drei Männer von ihren Pferden stiegen. Sie sanken vor ihr auf ein Knie, neigten ihre Köpfe und eine Stimme rauschte an ihr vorüber, sprach Worte ihrer Zunge, die ihr aber fremd blieben.

»Mögen die Götter uns verzeihen, kleine Prinzessin.«

Sie schluchzte weiter, als sie längst fort waren. Schluchzte in der Glut des sterbenden Tages, schluchzte in der eiskalten Dunkelheit, tat es noch, als sich Schritte näherten ...

Robyn atmete schwer, als sie es schaffte, erneut die Oberfläche zu durchstoßen. Sie trat das Wasser mit all ihrer Macht, tat einen langen Luftzug, da sie nicht verhindern konnte, dass sie wiederum absank. Einige Züge kämpfte sie sich unter Wasser hindurch, weg vom Schiff, weg von den Sklaventreibern, weg von Gefangennahme, von Gewalt, Schmerz, Verdammnis.

Als sie das nächste Mal auftauchte, wagte sie einen Blick zurück. Sie erschrak wimmernd, als sie den Hünen, in dessen Augen sie zuerst geblickt hatte, an der Reling hantieren sah. Scheinbar hatte er Mantel und Schuhe abgelegt. Sie drehte sich um, verschluckte sich, hustete im Untergehen, hörte das unverkennbare Geräusch eines ins Wasser eintauchenden Menschen hinter sich. Sie konnte nicht mehr schreien, niemand würde sie unter Wasser hören.

Etwas umfasste ihr Fußgelenk. Ihr Strampeln konnte dem eisernen Griff nichts entgegensetzen. Ein Schwall Wasser rauschte ihre Kehle hinunter, das Salz brannte in ihren Augen, als sie sie erschreckt aufriss, nach oben blickte, spürte, dass sie die Oberfläche nicht mehr selbst erreichen würde. Ein Arm umfasste ihre Taille. Sie spürte, dass ihre Gliedmaßen endgültig ihrem Willen entzogen wurden ...

Fast wäre sie am Tisch eingenickt, doch während ihr Kopf nach vorn sackte, erwachte sie, fuhr auf und umklammerte kurz die Tischkante.

Ath lächelte ob ihres Anblickes. Er stand im Schatten des hinteren Zeltes, betrachtete liebevoll die vom Kerzenschein umschienenen Konturen seiner Tochter. Sie hatte an einigen Papieren gearbeitet und darüber die Zeit vergessen. Er hatte ihr gesagt, sie solle sich Zeit für sich nehmen, aber das Mädchen teilte die Arbeitsmoral ihres Vaters. Die Rechnungen hätten auch noch Zeit bis morgen gehabt, aber nicht in ihren Augen.

Ath überlegte kurz. Er erinnerte sich an das kleine Mädchen in der Steinwüste. Über zwölf Jahre war es her. Zwölf Jahre des Vaterglücks, zwölf Jahre, in denen sie sein Leben erhellt hatte, in denen er Worte hörte, die er längst vergessen zu haben schien, hatte vergessen wollen. Einige Monate dauerte es, ehe sie anfing zu sprechen, seine Sprache lernte, ihn Vater nannte. Selbst kinderlos, weil seine Frau im Kindsbett gestorben war, liebte er das Kind wie sein eigenes. Woher sie kam, wer sie war, wie sie wirklich geheißen hatte, ob sie sich noch an etwas erinnerte - Ath hatte sich diese Fragen tausendmal gestellt. Sie hatte es nicht wissen wollen. Sie hatten Byzanz noch zweimal besucht seitdem, aber es hatte sie nicht sonderlich gestört. Er sei ihr Vater, nichts anderes zählte für sie. So oft er sie danach gefragt hatte, hatte sie ihm dieselbe Antwort gegeben.

Sie hatten bemerkt, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, der nordischen Zunge zu folgen. Ath schätzte deshalb, dass sie vielleicht zu den vielen Nordmännern gehört hatte, die hier in Byzanz genau wie er Handel betrieben hatten. Ihre helle Haut und die gleichfalls hellen braunen Haare sprachen dafür. Trotzdem hatte sie wenig Interesse gezeigt, dem nachzugehen.

»Tochter«, sprach er sie an, »du solltest deinem Vater nicht immer alles gleichtun.«

Sie legte den Kopf in den aufgestützten Arm und lächelte ihn schelmisch an.

»Ach«, murmelte sie, leicht schlaftrunken, »und wer von uns beiden hat es wohl nötiger, sich etwas auszuruhen?«

Sie stand auf, kam auf ihn zu und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

»Du gehst in letzter Zeit langsamer.« Sorge klang in ihrer Stimme.

»Das scheint dir nur so.« Im Zwielicht der einsamen Kerze schloss er kurz die Augen. Er vermochte es nicht, den scharfen Augen seiner Tochter etwas zu verheimlichen.

»Deinem unausgesprochenen Rat soll gefolgt werden«, sagte er dann. »Ich werde mich zurückziehen, nur noch über einige Briefe gehen und unsere Heimreise übermorgen noch etwas vorbereiten.«

»Ist gut.« Sie wirkte beruhigt. »Ich konnte das heiße Wetter noch nie ausstehen.«

»Deine zynische Zunge in Ehren«, diesmal klang Sorge in seiner Stimme, »bist du sicher, dass ich auch diesmal nichts unternehmen soll?«

»Nein.« Sie brauchte nicht darüber nachzudenken. »Ich will nichts darüber wissen. Was würden deine Nachforschungen schon bezwecken? Ich bin stolz, deine Tochter zu sein. Die Tochter des ehrenwerten Angelsachsen Ath of Abingdon ...«

Sie dachte kurz nach. »Es sei denn, du willst, dass ...«

»Denk nicht mal daran, Tochter. Du weißt, ich würde dies nur in deinem Interesse tun, um dein Wohl.«

»Dann tu nichts«, stieß sie hervor.

»Du machst mich sehr glücklich.«

»Und du machst mich verlegen.« Sie schlug den Blick nieder. Ath konnte sich nicht erklären, wie er eine solche Tochter verdiente. Ihre Ergebenheit, ihr Respekt, ihre Liebe zu ihm. Wie konnte es sein, dass er allein all das erfahren durfte?

»Sag«, meinte sie dann, »soll der Wein zu Sahib? Und der Umschlag?«

»Ja, ich wollte ihm beides noch bringen. Es ist die Rechung für die Gewürze und den Honig, den ich ihm besorgt habe, und eine Flasche Wein für seine Gäste. Sie scheinen ihn zu mögen und du weißt wie schwer es ist, hier guten Wein zu bekommen. Er hatte mich heute Nachmittag darum gebeten. Er hat ein paar Nordmänner zu Gast und wollte sichergehen, sie wohlversorgt zu haben.«

»Lass mich hinübergehen und es ihm bringen, dann werde ich auch zu Bett gehen.«

»Wenn es dir nichts ausmacht.« Er gab ihr die beiden Sachen. »Dann sehe ich dich gleich noch.«

Er nickte ihr zu und zog sich in das hintere Zelt zurück, schlug die dicken Vorhänge im Gehen zu.

Jetzt war sie es, die ihm nachblickte und lächelte. Wie konnte sie erwägen, nach ihrem richtigen Vater, nach ihrer richtigen Familie zu suchen, wenn er all das war? Noch immer lächelnd, schüttelte sie unverständig den Kopf, wandte sich dem anderen Ausgang des Zeltes zu, der sie nach weiteren Vorhängen direkt in den lärmenden Gastraum brachte. Sie waren wie jedes Mal Gäste Sahibs gewesen. Ath und er kannten sich seit Jahren, Ath nannte ihn Freund und sie wusste, auch Sahib hegte eine große Schwäche für ihn und seit vielen Jahren nun auch für sie.

Sahib war nirgends im Zwielicht des großen Zeltabschnittes zu sehen. Etwa zehn Nordmänner waren Gast des Weinhändlers und gaben sich den lukullischen Köstlichkeiten und den auserlesenen Getränken hin, die gereicht wurden. Nur drei der Nordmänner saßen allein, die anderen hatten ein Mädchen im Arm und gaben sich auch dieser Kostbarkeit mehr oder weniger offensichtlich hin.

Aths Tochter gab sich Mühe, nicht über die Kissen zu stolpern, während sie einem herangeeilten Diener die Sachen reichte. Er schien zu wissen, worum es sich handelte. Froh darüber wollte sie sich zurückziehen. Der Geräuschpegel war nahezu unerträglich und das Benehmen nicht minder. Dann jedoch spürte sie ihr Fußgelenk umfasst, fuhr erschreckt herum und sah in das grinsende Gesicht eines der Nordmänner.

»Wag es nicht«, fuhr sie ihn auf Angelsächsisch an. Sie versuchte, ihren Fuß zu befreien.

»Sieh an, eine angelsächsische Kratzbürste«, grölte der rothaarige Riese in die Runde. »Sahib erwähnte nicht, dass seine Mädchen auch derart wählerisch sind.« »Ich bin keines von diesen Mädchen«, fauchte sie ihn an. Im Dämmerschein stolperte sie mit ihrem anderen Fuß über einen der Teppiche, fiel halb auf ihn, was ihm die Gelegenheit gab, sie an sich zu ziehen. Doch er hatte nicht mit ihrer Gegenwehr gerechnet. Sie krümmte sich, schob ihm ihren Buckel vor die Nase und kratzte ihn über die Hand, die noch immer ihren Fuß festhielt. Sie glaubte, er würde sie loslassen. Stattdessen klatschte seine flache Hand beseelt auf ihr Hinterteil, was sie entrüstet auffahren ließ. Ihr Kopf stieß dabei seine Nase, was endlich Pein genug schien, um sie freizulassen. Sie stolperte auf allen Vieren von ihm weg und sah zurück. Er hielt sich die Nase. Zwischen seinen Fingern quoll dunkle Flüssigkeit hervor, Blut, in dem Licht schwarz wie seine Augen.

»Du verdammtes Biest ...«

Noch ehe er die Worte ausgesprochen hatte, hievte sie sich hoch, wissend, er würde sich dies nicht vor den anderen, die bereits brüllend lachten, gefallen lassen. Sie strauchelte weiter, passierte zwei weitere Nordmänner, dann jenen am Kopf der Gruppe Sitzenden. Dieser jedoch griff blitzschnell nach ihrem Webgürtel, zog sie zu sich herunter. Noch ehe sie wiederum zum Kampf ansetzen konnte, spürte sie seinen Mund dicht neben ihrem Ohr.

»Ruhig, Mädchen«, zischte er, »tu nichts. Ich werde dich hier rausholen. Vertrau mir.«

Sie wusste nicht, warum, aber sie blieb augenblicklich still. Rührte sich nicht, verfolgte ungläubig das Gespräch der beiden Nordmänner.

»Ich denke, dass Mädchen hat sich die Gesellschaft für diesen Abend ausgesucht, oder nicht?«, meinte ihr Retter.

Der andere Nordmann, der aufgestanden war, um sie einzuholen, verschränkte die Arme.

»Das sehe ich. Trotzdem würde ich es begrüßen, wenn du sie mir überlässt. Ich hätte da noch ein oder zwei Sachen mit ihr zu klären.«

»Lass mal, Sazur, du hast bloß eine Nase.«

Die anderen lachten, selbst der gescholtene Nordmann. Er konnte seinem Kommandanten nicht wirklich gram sein und scheinbar hatte das Mädchen tatsächlich gewählt, hatte selbst die Arme um seinen Hals gelegt und schmiegte sich an ihn.

»Sie hat gut gewählt.« Sazur wandte sich ab. Sein Kommandant erhob sich daraufhin, noch immer das Mädchen im Arm.

»Ihr werdet verstehen, dass ich diesen Leckerbissen allein genießen werde.«

Seine Männer erhoben daraufhin ihre Hörner, prosteten ihm zu und wünschten ihm Vergnügen, bis er durch den Gang entschwand, aus dem das Mädchen erschienen war.

Aths Tochter wurde augenblicklich heruntergelassen, als sie ihren Zeltabschnitt wieder betreten hatten. Noch immer verwirrt durch das, was eben passiert war, schritt sie zum Tisch, hielt sich, diesmal stehend, an der Tischkante fest, schluckte und befeuchtete ihre trockenen Lippen.

»H-Habt dank, Nordmann.«, ihre Stimme war nicht ihre eigene. Wo war ihre dunkle, beherrschte Stimme in diesem Moment?

»Verzeih meinen Männern«, antwortete er stattdessen. Sie glaubte zu träumen, sich einen Nordmann entschuldigen zu hören. Er fuhr fort: »Sie sind heute etwas zu ausgelassen, aber sie haben ihre Gründe. Einige harte Prüfungen liegen hinter ihnen. Zudem fehlt ihnen der Respekt vor Frauen.«

»Respekt vor Frauen«, wiederholte sie, ohne sich umzuwenden. Der Nordmann bereitete ihr selbst in dieser Entfernung eine Gänsehaut. Er sprach ihre Sprache fließend, roch nach herber Seife und gutem Wein. Sie wusste plötzlich, wer jenen Wein bevorzugte, den sie selbst hinübergebracht hatte.

»Respekt«, sagte sie nochmals. Sie hatte es geflüstert und trotzdem nicht gemerkt, dass er direkt hinter sie getreten war.

»Es scheint, dir ist bisher wenig Respekt von Männern entgegengebracht worden.« Seine Stimme klang nicht länger klar, ein Unterton schwang darin, leise, rau. Die Kerze flackerte kurz, dann erlosch sie. Sie bemerkte den Hauch der Atembewegung, als er sie ausblies.

Sie konnte sich nicht rühren. Wie zuvor. Sie stand nur da.

»Du solltest zumindest wissen, dass es Männer gibt, die euch sehr wohl Respekt entgegenbringen.« Während er das sagte, strich er das Haar aus ihrem Nacken und legte es vorn über ihre Schulter. Bei seinen nächsten Worten spürte sie seine Lippen auf ihrem Nacken, spürte, wie seine Barthärchen die Liebkosung begleiteten.

»Und du solltest es nicht vergessen, wenn du einem Mann einmal gehörst.«

Seine Arme legten sich um ihre Taille, zogen sie an ihn. Sie ließ es geschehen, lauschte seinen Worten, verfolgte seine Berührung. Sie hatte keine Angst. Vor diesem einen Mann nicht. Sie ließ zu, was kein anderer je gewagt hatte, was kein anderer je hätte tun dürfen.

»Männer wie ich nehmen sich niemals das, was eine Frau ihnen nicht freiwillig schenkt.«

Ihr Kopf legte sich auf seinen Oberarm, ihr Hals hieß seine Lippen willkommen, während seine Hände nach oben wanderten, den Ansätzen der sanften Wölbungen unter dem Webstoff des Kleides folgten.

»Jene anderen Männer werden nie in eure Seele schauen dürfen, merk dir das.« Er drehte sie langsam zu sich, nahm ihr Gesicht in beide Hände. Nichts vermochte die Dunkelheit zu durchdringen, weder ihre Gesichtszüge, noch ihre Haarfarbe oder die Farbe ihres Kleides. Nichts gab sie preis. Aber das Gefühl, das beide in Gegenwart der vielen Nordmänner beschlichen hatte, konnte die Dunkelheit durchbrechen.

»Ich zeige dir Respekt«, sagte er.

Wie von selbst öffneten sich ihre Lippen etwas, ließen den seinen ihren Willen, mehr noch, unterwarfen sich ihnen. Er atmete lang aus, eine jede Spannung schien den Hünen zu verlassen. Er genoss und sie wusste ganz plötzlich, was er meinte. Sie öffnete sich ihm, ohne sich selbst aufzugeben.

Der Nordmann bemerkte es, fühlte ihre Gedanken, wusste, er hatte erreicht, was er wollte. Er erhielt jene Antwort, die er begehrte, stellte trotzdem überrascht fest, dass ihm dieses Mädchen mehr gab als all jene vor ihr. Er bedauerte, dass Welten zwischen ihnen lagen.

Sie stellte sich unverhofft auf die Zehenspitzen und legte ihre Arme um ihn. Ihre Lippen antworteten den seinen sanft, ohne jede Hast, unverfälscht. Eine ewige Zeit. Sie beide genossen. Vergaßen, wo sie waren, wer sie waren, gaben sich einzig dem Gefühl hin.

Ungern trennte er sich dann von ihren Lippen.

»Bei den Göttern, ich wünschte, ich könnte dies hier zu Ende führen«, hauchte er in ihren Nacken und presste sie an sich.

»Gott schütze dich, Nordmann«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich werde niemals vergessen.«

»Suche jenen Mann, der dir gibt, was du verdienst. Suche ihn sorgfältig.«

Sie hielt sich wie zuvor an der Tischkante. Der Luftzug der herunterfallenden Vorhänge umgab sie. Er war fort.

Robyn schnappte nach Luft, Schmerzen durchfuhren ihren kältesteifen Körper. Schmerzen, die sie nie derart erfahren hatte. Nicht in all den Jahren. Wer war sie? Warum hatte sie als vierjähriges Mädchen inmitten einer unwirtlichen Steinwüste gestanden? Warum hatte ihr Vater das zugelassen?

Sie wimmerte auf, Tränen mischten sich auf ihren Wangen mit dem Salzwasser, das sie nur zu gern verschlingen wollte. Doch der Arm hielt sie fest. Die Präsenz des Nordmannes, der zwischen ihr und dem nassen Grab stand, war keine Einbildung. Kein Trugbild. Für einen Moment schloss sie die Augen.

Sie würde nie erfahren, wer jener Nordmann gewesen war. Warum hatte er ihr jene Erinnerung bereitet? Was hatte ihn bewogen, ihr an diesem Abend einen Glauben einzupflanzen, den sie nur zu bereitwillig aufnahm? Sie hatte nie einen solchen Mann getroffen.

»Es wird dir bei uns besser ergehen als bei jenen, die dich deiner Familie entrissen.«

Robyn brauchte eine Weile. Die Worte drangen nur langsam zu ihr vor. Dann begriff sie. Der Nordmann hatte zu ihr gesprochen. Sie drehte ihren Kopf langsam, zwinkerte im Sonnenlicht.

»Ich kann dir nicht das Paradies versprechen. Nur eines ...«

Robyn fühlte den Druck seiner Arme. Er würde sie nicht gehen lassen.

»Du wirst keine Sklavin sein.«

Wie konnte sie weiterleben wollen? Wenn nicht als Sklavin, als was dann? Was war mit all ihren Fragen? Wie würde sie je eine Antwort darauf erhalten?

Sie wandte sich ab, blickte auf die See, die ruhige See. Sie lag vor ihr, ließ in ihr die Hoffnung aufkeimen, dass sie irgendwo dort am Horizont die Antworten zu all ihren Fragen finden würde.

Wulf spürte, dass sie nach seinen Armen griff, doch ehe er feststellen konnte, ob sie sich von ihm befreien wollte oder die Ausweglosigkeit ihrer Situation zuließ, sank sie in sich zusammen. Er verhinderte ein erneutes Abgleiten unter Wasser, in dem er sie nach hinten kippen ließ, um mit ihr zum Schiff zu schwimmen.

Der Rauch quoll um alle Häuser am Strand. Sie floh, hielt ihre Röcke mit eiserner Hand fest, um nicht über sie zu fallen. Der sandige Boden ließ sie straucheln, sie fiel, spuckte den Sand aus, schluckte den Rest hinunter, nur um wieder auf die Beine zu kommen und weiterlaufen zu können.

In dem Durcheinander suchte sie ihren Vater. Etwas sagte ihr, er würde sich wie die anderen flüchtenden Menschen in das Wäldchen nahe dem Kloster zurückziehen. Dort war es unwegsamer, die Bäume und vereinzelten Sträucher boten mehr Schutz vor den raubenden und plündernden Nordmännern.

Ihr Vater würde mit den Mönchen und den anderen Bewohnern dort auf sie warten. Und abwarten. Die Nordmänner hatten, was sie wollten, zogen sich zum großen Teil bereits auf ihr Schiff zurück mit Gold, Wolle, den Vorräten des Klosters, insbesondere dem wertvollen Honig. Sie trugen ihre Beute nahezu ohne Gegenwehr der Menschen auf ihr Schiff, das am Strand lag und unheilvoll umwoben wurde vom Rauch der angezündeten Hütten und des flammenden Klosters.

Sie hörte die Nordmänner brüllen. Das Drachenboot wurde bereits ins Wasser geschoben, sie stemmten sich gegen die Planken, übergaben es der See. Verloren keine Zeit. Das Unheil, welches sie hinterließen, rief kein Mitleid in ihnen wach. Eine Pranke umfasste im Laufen ihren Hals, drückte ihr die Luft ab. Sie krallte sich in die Hemdsärmel des Nordmannes, der sie festhielt. Sie würgte an ihrem aufsteigenden Mageninhalt. Sein Blick war durchdringend, als er sie von oben bis unten betrachtete. Sie verstand augenblicklich. Er besah sich seine Ware. Sie fühlte, wie der Schock sie lähmen wollte, sie erkalten lassen wollte. Doch als der Nordmann sie mühelos über seine Schulter legte, holte sie aus tiefster Seele Luft und schrie, dass selbst die Nordmänner, die am Strand warteten, aufsahen.

»Vaaaaaaaateeeeeeeer ...« Sie wollte nicht so aufgeben, nicht ohne ihren Schmerz und ihre Verzweiflung herausgerufen zu haben. »Vaaaaaaateeeeeer ...«

Sie sah zurück auf das Wäldchen, im Dunst der Feuer kaum noch auszumachen. Sie starrte es mit tränenden Augen an, schrie unentwegt, ohne dem Schreien noch Silben zu verleihen. Dann, als sich ein anderer Nordmann von hinten näherte, sah sie ihren Vater plötzlich aus dem Wald stürzen. Er schrie genau wie sie, aber es war nur noch ein entferntes Echo. Der Schatten des anderen Nordmannes legte sich auf sie. Dann war es plötzlich dunkel ...

Im Schatten des Wolfes

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