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Ein frühreifes Kind

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Nach der Rückkehr aus Italien im Winter 1821 stellten sich bei Florence sogleich gesundheitliche Probleme ein, die sie über ihre ganze Kindheit hinweg begleiten sollten. Hals und Bronchien machten ihr Schwierigkeiten, dazu kam eine Schwäche in Händen und Füßen. Daher erlernte sie erst spät die Schreibschrift und musste lange Zeit stahlverstärkte Schuhe tragen. Ihre frühen Briefe verraten einiges über ihre Kindheit, so etwa eine Tierliebe, die ihr ganzes Leben anhalten sollte. Auch ihre spätere analytische Präzision und genaue Beobachtungsgabe sowie die Organisierung von Wissen durch Bildung von Kategorien sehen manche bereits in frühen Briefen aufscheinen, etwa als sie einen Zoobesuch haarklein schilderte und alle Tiere aufzählte. Häufig erstellte sie Listen und ordnete Dinge in Tabellen.

Briefe schreiben zählte zu den elementaren Kulturtechniken in Florence Nightingales Kreisen, sollte aber darüber hinaus eine außerordentliche Bedeutung für ihr Leben bekommen. In späteren Jahren als Invalidin im Krankenzimmer isoliert, war dies ihre Verbindung zur Welt. Schon in jungen Jahren ist zu erkennen, dass sie bewusst für ein Publikum schrieb, denn Briefe zirkulierten damals üblicherweise in der Verwandtschaft. Auch gewöhnte sie sich schon früh an, Kopien ihrer Briefe anzulegen und besonders gelungene Stellen an mehrere Korrespondenzpartner zu verschicken.

Florence Nightingale war eine gute Schülerin. Bereits mit neun Jahren konnte sie für ihre Mutter eine Predigt auf Französisch zusammenfassen. Zur selben Zeit machte sie sich an eine Art Autobiografie: La vie de Florence Rossignol, die leider nicht überliefert ist. Einiges weist darauf hin, dass sie bereits als Kind einen starken Willen hatte und eigene Vorstellungen entwickelte. Ebenso sicher ist, dass das ihrer Mutter, die Wert auf Disziplin und die strikte Einhaltung von Verhaltensstandards legte, nicht gefallen konnte. Immer wieder versprach Florence ihr, gehorsamer, nachgiebiger, gutmütiger zu sein. Nightingales Biograf Edward T. Cook bemerkt dazu lapidar: „Ihre frühen Briefe berichten nur wenig von kindlichem Spaß.“ (Cook 1, 12)

Ihre damalige Lektüre zeugt vom Einfluss der Lehren Rousseaus. Andere Bücher ihrer Kindheit atmeten den Geist der religiösen Erweckungsbewegung mit ihrer spezifischen Moral und Frömmigkeit, der die Gouvernante der Mädchen anhing. Den Großteil der religiösen Unterweisung übernahm die Mutter jedoch selbst. Für die Erziehung der Töchter formulierte sie klare Richtlinien: Anspruchsvolle Konversation war äußerst wichtig, formaler Unterricht weniger, dafür viel frische Luft und Leibesübungen, auch musikalische Erziehung. Bei Parthenope zeigte sich schon bald eine künstlerische Ader, während beide Töchter schnell lesen und schreiben lernten, auch ein Talent für Sprachen entwickelten. Von ihrem Temperament her hätten sie jedoch nicht unterschiedlicher sein können. Parthenope scheint sorglos die Freuden der Kindheit genossen und sich den Erwartungen gemäß verhalten zu haben, ihre Schwester dagegen war oft nachdenklich und stärker auf sich selbst bezogen. Sie ging bei allem systematisch und strukturiert vor, während Parthenope eher ihren Stimmungen folgte. Ihre Mutter beschrieb Florence als „scharfsinnige kleine Kreatur mit klarem Kopf, die sich überall durchsetze durch Nachdenken und eifrige Umsetzung ihrer Überlegungen“ (Bostridge, 35f.). Die Unterschiedlichkeit der Schwestern beschäftigte die Eltern, aber auch Florence schon früh – so behauptete sie etwa selbst schon mit zehn Jahren, dass sie anders als Parthenope sei und deshalb auch anders behandelt werden müsse. Sie sollte eine solche Behandlung bekommen, aber wohl nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatte.

Zu jener Zeit war es gängiges Erziehungsprinzip, dass die Kinder ständig beschäftigt wurden und fast nie allein waren. Insbesondere achtete man darauf, dass sie nicht untätig im Bett blieben, auch aus Angst vor den befürchteten Folgen des Onanierens, die von Gehirnerweichung und Blindheit bis zum vorzeitigen Tod reichten. Jeden Tag standen Zeichnen, Handarbeiten, Basteln, Auswendiglernen von Gedichten, Lesen, insbesondere natürlich Bibellektüre, auf dem Programm. Die Nightingale-Schwestern machten schon in jungen Jahren regelmäßige Besuche mit kleinen Geschenken bei den Armen ihrer Gemeinden. Sich um diese zu kümmern gehörte in einer Gesellschaft ohne soziale Absicherung zu den selbstverständlichen Aufgaben der Gutsbesitzer, insbesondere ihrer Frauen. Die Mutter legte größten Wert auf Spaziergänge und körperliche Abhärtung, wohl aus Furcht vor einem frühen Tod ihrer Mädchen, was bei der hohen Kindersterblichkeit durchaus begründet war, die vor den Sprösslingen der Wohlhabenden keineswegs haltmachte.

1827 war Frances Nightingale zu der Überzeugung gelangt, dass man bislang zu nachsichtig mit Florence umgegangen sei. Dadurch habe sie sich ein selbstbezogenes, unfreundliches und wenig angepasstes Verhalten angewöhnt. Höchste Zeit, ihren moral character zu ändern. Auch eine liebende Mutter – so die Auffassung der Zeitgenossen – hatte die Aufgabe, zu strafen und zu formen. Schließlich wurden alle mit der Erbsünde geboren, und der Teufel konnte überall, besonders aber bei den Kindern, angreifen. Nach Lockes Erziehungstheorie galten Kinder als tabula rasa, und Florence Nightingales Mutter hatte genaue Vorstellungen davon, was auf diese Tafel geschrieben werden sollte. Florence sollte ihre Abenteuergeschichten, die ihre Fantasie beschäftigten, und ihre Sachbücher, aus denen sie systematische Faktensammlungen erstellte, beiseitelegen. Stattdessen sollte sie sich mit angemessenen Spielen beschäftigen, mehr Leibesübungen machen und alles in allem ein süßes, gehorsames, dankbares kleines Mädchen werden, also ein Kind genau wie ihre Schwester.

Dazu wurde mit Miss Christie eine junge Gouvernante verpflichtet. In den Nightingale-Biografien wird sie als talentierte Frau mit tragischem Schicksal – sie starb früh im Kindbett – geschildert, die von ihren Zöglingen geliebt wurde. Das erste mag stimmen, das zweite ist eher fraglich. Beide Nightingale-Töchter haben dunkle Erinnerungen an diese Zeit hinterlassen, und nach dem Weggang der Gouvernante stellte ihr Vater keine weitere ein. Als Erwachsene schrieb Florence, die Gouvernante habe Kinder nicht verstanden und sie selbst häufig eingesperrt, die Schwester aber nicht. Diese wiederum notierte viele Jahre später, dass Miss Christie Florence in wenigen Jahren komplett verändert habe: Aus einem neugierigen, wissensdurstigen Energiebündel sei ein verschlossener und gequälter Mensch geworden, der fortan alles nach innen lenkte. Darunter habe sie zeitlebens sehr gelitten.

Das Erziehungsprogramm schien zu wirken. Nach etwa drei Jahren listete die Zehnjährige in einem Brief an die Mutter ihre Versprechen auf. Er gibt tiefe Einblicke in den Tagesablauf eines privilegierten Kindes zwischen Pflichten, Kontrolle und schlechtem Gewissen:

„Ich verspreche vor dem Frühstück bis zum Gatter zu laufen […] einen halbstündigen Spaziergang vor dem Dinner, einen langen danach […]; 20 Übungen mit dem Arm vor dem Anziehen, 10 Minuten vor dem Frühstück und 10 Minuten nach den Aufgaben; […]; eine Stunde am Tag zu üben, wenn ich nicht so viel zu tun habe, sonst eine halbe Stunde; eine halbe Stunde regelmäßig zu zeichnen; nicht im Bett liegenzubleiben; rechtzeitig zu Bett zu gehen; die Bibel zu lesen und regelmäßig morgens vor dem Frühstück und abends zu beten; die armen Leute zu besuchen und mich um die Kranken zu kümmern; Medizin einzunehmen [zum Abführen!], wenn ich möchte, und regelmäßig nach dem Frühstück [zur Toilette] gehen; am Sonntag […] in die Kirche gehen, wenn mich jemand begleiten kann; zu lesen, zu schreiben und mit der Bibel zu arbeiten; alle Bücher zu lesen, die Du ausgesucht hast; Tante Mai vorzulesen und ihr keinen Kummer bereiten; diesen Text jeden Tag zu lesen; Dir zu schreiben.“

Und am Ende: „Ich glaube, hier geht es mir besser als anderswo. Hier gibt es wohl weniger Versuchungen.“ (CW 1, 109) Die Mutter hatte sie nicht nach Lea Hurst mitgenommen. Die Liste der Versprechen klingt resigniert, wenn nicht verzweifelt.

Die Erziehungsrichtlinien zielten auf Seele und Körper. Bibellektüre, Kirchgang, Wohltätigkeit, das war die eine Seite. Die andere hatte die Stärkung des Körpers im Blick: Die Übungen waren eine anstrengende Pflicht, die den ganzen Tag strukturierte. Wie viele Zeitgenossen war auch Florences Mutter auf die Verdauung fixiert, daher die einschlägigen Ermahnungen.

In diesem Verbesserungsprogramm werden Schulstunden, das Lernen, nicht erwähnt, denn da glänzte Florence sowieso. Sie war konzentriert, wissbegierig, neugierig, vertrat vehement eigene Meinungen, stellte für Kinder unpassende Fragen – und teilte dies den Erwachsenen mitunter lautstark mit. Warum waren die Leute nahe Lea Hurst so arm, krank und müde? War ihre Familie nicht reich, und in der Bibel stehe doch, dass leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme? Für ein viktorianisches Kind war dies vorlaut und ungezogen. Florences Leistungen im Unterricht wiederum ließen die Schwester Parthenope schlecht aussehen, was schon früh zu einer gespannten Geschwisterbeziehung führte. Später beschrieb sie sich in ihrer Kindheit als „elendiglich scheu und unfähig, sich am Spiel anderer Kinder zu freuen“ (Gill, 104). Als Erwachsene erinnerte sie sich weniger an die intellektuellen Leistungen ihrer Jugend, sondern an das Gefühl, nicht genügen zu können, anders, anormal zu sein. „Meine größte Ambition war es“, schrieb sie im Rückblick, „unsichtbar zu bleiben.“ (Cook 1, 12) Die Mutter jedoch fand es unpassend, dass sie ungern mit Gleichaltrigen spielte, sondern sich stattdessen emotional eng an Frauen anschloss wie etwa ihre Tante Mai.

Am meisten aber machte ihr eine Sache zu schaffen, die sie selbst als „Träumen“ bezeichnete. In diesem Zustand konnte sie sich derart intensiv in ihre Vorstellungswelten, etwa imaginierte Abenteuer, hineinversetzen, dass sie die Welt um sich herum nicht mehr wahrnahm. Wieso aber hielt das Kind diese Träumereien für etwas Schlimmes? Mit Sicherheit musste dies jemand zu einer schweren Sünde erklärt haben, denn sie entwickelte tief verwurzelte Schuldgefühle.

Aus der ersten Zeit unter dem Regiment der Gouvernante gibt es Hinweise auf Rebellionsversuche. In diesen Jahren waren die Eltern oft auf Reisen, was Nightingales Einsamkeit verstärkt haben dürfte. Im Laufe der Zeit nahmen die Briefe an die Mutter immer mehr den Charakter von Berichten einer immer gehorsameren Tochter an. Die Spezialbehandlung scheint gewirkt zu haben. Dabei waren die Nightingales keineswegs grausame Rabeneltern, sondern liebende und sorgende Personen mit insgesamt für die Zeit sehr fortschrittlichen Auffassungen zur Kindererziehung. Trotzdem neigte Frances dazu, ihre ältere Tochter zu beschützen bzw. zu bevorzugen und Florence zu tadeln. Parthenope war ihrer Mutter ähnlich und verhielt sich wie ein typisches Mädchen der Oberschicht. Florence hingegen gelangen nur diejenigen Dinge gut, die sich für Mädchen kaum ziemten. Bei einem Jungen wären ihre Ich-Bezogenheit, Sturheit und Hartnäckigkeit, ihre intellektuelle Brillanz und ihr Wissensdurst völlig normal, ja vielversprechend für eine verheißungsvolle Zukunft gewesen. Für sie als Mädchen waren sie ein ständiger Quell der Frustration.

Im Januar 1830 verließ die Gouvernante die Familie. Zunächst übernahm Tante Mai die Regie in Embley, und die Atmosphäre veränderte sich, insbesondere für Florence. Doch über die Vorschriften der Mutter setzte sich auch sie nicht hinweg, wenngleich sie nicht ganz so sklavisch auf Einhaltung pochte und diplomatisch zu vermitteln suchte. Gutes, sogar Bemerkenswertes sei bei Florence definitiv zu erkennen, schrieb sie ihrer Schwägerin, und werde unter günstigen Bedingungen sicherlich zum Vorschein kommen.

Kurz danach fand Florence Nightingale im Hause einer anderen Tante, bei den Bonham-Carters, ihre erste richtige Freundin: Cousine Hilary, der sie bis zu deren frühem Krebstod 1864 eng verbunden blieb. Die Teenagerjahre zwischen 1831 und 1839 gehörten vielleicht zu den glücklichsten in Nightingales Leben. Das Verhältnis zur Schwester entspannte sich, eine neue Gouvernante sollte es nicht geben und die Geburt ihres Cousins „Shore“ verschaffte ihr die ernsthafte und wichtige Aufgabe, nach der sie sich so sehr sehnte. Um ihn kümmerte sie sich intensiv, und dies wiederum festigte die enge Beziehung zu ihrer Tante Mai weiter.

Florence Nightingale

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