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Bildungsreise einer höheren Tochter?Italien 1837–1839

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Die Italienreise hat eine lange kulturhistorische Tradition. Die Apenninen-Halbinsel, seit Langem Sehnsuchtsort für die Menschen des Nordens, war auch für den englischen Adel und das gehobene Bürgertum fast schon obligatorischer Bestandteil eines Aufenthalts auf dem Kontinent – mit ihren antiken Ruinen, ihren Kirchen und Palästen sowie der mediterranen Landschaft und ihrer „pittoresken“ Bevölkerung. Zunächst männlichen Adeligen im Rahmen der Kavalierstour vorbehalten, entwickelte sich die Italienreise immer mehr zur bürgerlichen Bildungsreise, der im viktorianischen Zeitalter zunehmend Kommerzialisierung und Beschleunigung ihren Stempel aufdrückten. Die Dampfkraft ermöglichte schnelleren, billigeren und bequemeren Transport mit Schiffen und Eisenbahnen. Standardisierte Reiseführer erleichterten die Planung, Unterbringung und Verpflegung verbesserten sich, erste Pauschalreisen wurden angeboten. All diese Veränderungen machten Auslandsreisen nun für immer größere Teile der Mittelschichten möglich. Auch immer mehr Frauen – und ganze Familien wie die Nightingales – machten sich auf den Weg in den Süden.

So wie es schwierig ist, die Nightingales gesellschaftlich präzise zu verorten, so oszilliert auch der Charakter ihres eineinhalbjährigen Aufenthalts in Italien zwischen adeliger Kavalierstour und bürgerlicher Bildungsreise. Als die Familie im Herbst 1837 aufbrach, tat sie dies genau an der Schwelle zwischen Postkutschen- und Eisenbahnzeitalter. Eine eigens für die Reise gebaute, gediegene Kutsche für vier bis sechs Zugpferde bot bis zu 12 Personen Platz! Nach der Überfahrt über den Kanal auf einem Dampfschiff ging die Reise in Begleitung zweier Bediensteter mit dem luxuriösen Reisewagen über Chartres, Avignon und Carcassonne in den Süden Frankreichs. Die Reisegeschwindigkeit war langsam, nicht mehr als 35 Meilen pro Tag, die Unterbringung und Versorgung mitunter schwierig. Phasen der Aufregung und des Staunens folgten lange Stunden der Langeweile. Oft nahm man in Frankreich und Italien einen vetturino in Anspruch. Eine Art Kutscher-Unternehmer erledigte dann alle Zoll-, Reise- und Unterbringungsangelegenheiten, auch Pferdewechsel, für eine vereinbarte Gesamtsumme, was besonders im territorial zersplitterten Italien vieles erleichterte.

Nach dem Besuch zahlreicher römischer Ruinen und mittelalterlicher Burgen im Süden Frankreichs und einem Abstecher in die Pyrenäen erreichten die Nightingales über Narbonne kurz vor Weihnachten das damals im Königreich Sardinien-Piemont gelegene Nizza. Dort blieben sie einen Monat, einen weiteren verbrachten sie in Genua, bevor sich die Familie für etwa acht Wochen in Florenz niederließ. Im Spätfrühling und Sommer 1838 bereiste man Norditalien und die Schweiz, verbunden mit einem einmonatigen Aufenthalt in Genf. Der Rückweg in die Heimat führte die Nightingales über Paris, wo sie im Oktober 1838 ankamen.

Florence notierte auf dieser Reise genau alle Ankunfts- und Abfahrtszeiten, Informationen über die besuchten Orte sowie besondere Begebenheiten. Fast wie in Reiseberichten, wie sie für die Zeit der Aufklärung typisch waren, sammelte sie systematisch Informationen zu den politischen Verhältnissen und Institutionen, zur Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung, aber immer auch Beschreibungen der Einrichtungen der Armenpflege und des Gesundheitswesens. So bemerkte sie etwa, dass es in Genua viele Soldaten und zahlreiche Priester gebe und das Gros der Bevölkerung ohne Bildung und in Armut lebe. Beim Besuch einer Werkstatt für Taubstumme kritisierte sie die Wohn- und Arbeitsbedingungen.

Zuvor aber machte die Reisegesellschaft über Weihnachten und Neujahr in Nizza Station, wo die Nightingales in der großen englischen Kolonie warmherzige Aufnahme fanden und in das rege gesellschaftliche Leben eintauchten. Florence beschrieb dies in einem langen Brief an eine Cousine und wünschte sich, dass die Familie möglichst schnell eine dauerhafte Behausung finden möge – mit einem Piano. Auch aus Genua erzählte sie von Bällen, Besuchen und Sehenswürdigkeiten. Aber vor allem lernte sie die Oper kennen und lieben und entdeckte ihre Leidenschaft für die Musik. Es scheint so, als sei sie in ihrer Heimat mit diesem Genre nicht näher in Kontakt gekommen. Sie beschrieb genau jede besuchte Aufführung. Es sind sogar einige detailliert kommentierte Libretti überliefert. Zu jener Zeit wurden in ganz Europa die Opernhäuser von Werken italienischer Komponisten dominiert. Die Kinder der Bildungsschichten übten die bekannten Arien täglich auf dem Klavier, und in den Salons wurde häufig gesungen. Als Florence Nightingale zurück in England war, gewannen aber schnell Gewissensbisse die Oberhand: Solche Leidenschaften wie die Musik waren Versuchungen und daher eine Sünde. Über zehn Jahre später erinnerte sie sich daran, wie intensiv sie die Musik damals ergriffen hatte: „Doch Gott war so gnädig und nahm sie mir durch meine ständigen Halsschmerzen. Andernfalls hätte ich vielleicht gesungen. Ich hätte mir keine andere Befriedigung gewünscht. Die Musik sprach meine Phantasie und meine leidenschaftliche Natur so sehr an, dass ich das [die Schmerzen] als wahren Segen ansehe.“ (CW 1, 90)

Wie die Musik genoss Florence Nightingale auf dieser Reise die Aufmerksamkeit, die ihr als hübsche und zudem hochgebildete junge Dame entgegengebracht wurde – und sinnierte doch gleichzeitig darüber, dass dies wohl falscher Stolz und eine wenig gottgefällige Einstellung sei. Und für Bewunderung gab es reichlich Gelegenheit. In Pisa erwartete die Nightingales etwa ein Hofball des Großherzogs der Toskana, was zeigt, in welchen Kreisen die Familie verkehrte. In Florenz residierten sie für mehrere Monate in einem großzügigen Palazzo nahe des Ponte Vecchio, mit mehreren Pianos! Ein überaus passender Rahmen für Einladungen und idealer Ausgangspunkt, um in das gesellschaftliche Leben vor Ort einzutauchen. Kulturelle Angebote gab es im Überfluss, Unterhaltung ebenfalls, wie Bälle und Opernaufführungen. Zudem erhielten die Schwestern Sprach-, Zeichen- und Musikunterricht, alles Fähigkeiten, die für Damen der höheren Gesellschaft zählten und dazu beitrugen, aus ihnen anregende Unterhalterinnen sowie gebildete Mütter und Ehefrauen zu machen.

Wenig paradiesisch fand Florence Nightingale dagegen die politischen Verhältnisse. Diese wurden ihr von Tag zu Tag bewusster, und sie saugte begierig alle Informationen auf. Ähnlich wie Deutschland war das Land damals noch nicht in einem Staat vereinigt, sondern bestand aus etwa einem Dutzend Territorien, von denen viele unter dem dominierenden Einfluss Österreichs unter der Herrschaft Metternichs standen. Der Politiker verkörperte als das zentrale Feindbild die Unterdrückung der Italiener – wenngleich dies die Geschichtsschreibung heute differenzierter sieht. Liberale Erhebungen (1820/21 und 1831) waren niedergeschlagen worden, etliche der revolutionären Protagonisten befanden sich entweder in Festungshaft oder waren ins Exil gegangen. In diesen Monaten in Italien entwickelte Florence Nightingale eine lebhafte Begeisterung für die italienische Unabhängigkeitsbewegung, das Risorgimento, und ihre liberalen und nationalen politischen Ziele, die sie zeitlebens verfolgte und unterstützte.

Ihre Briefe enthalten fundierte Kommentare über Politik, italienische Geschichte und Kunst und zeigen, wie gut sie das Land bereits in jungen Jahren kannte. Das verwundert allerdings kaum, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sie etwa Tasso, Ariost und Alfieri im Original gelesen und mit ihrem Vater Ciceros Gespräche in Tusculum analysiert hatte. Vor allem italienische Geschichte, die italienische Nation in ihrer Bedrängnis, hatte es ihr angetan. An Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondis Geschichte der italienischen Freistaaten im Mittelalter faszinierte sie besonders, wie er in einer Art soziologischem Zugang die Faktoren herausarbeitete, die er für deren Niedergang verantwortlich machte. Die darauffolgenden Jahrhunderte wurden vom italienischen Risorgimento, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Einwohner der Apenninen-Halbinsel zunehmend als ein Volk mit gemeinsamer Geschichte und Kultur betrachtete und verschiedene politische Einigungskonzepte entwickelte, als kontinuierlicher Abstieg interpretiert. Auswärtige Mächte (Österreich, Frankreich, Spanien) hätten ihre Machtambitionen und Interessengegensätze in Italien auf den Rücken der einheimischen Bevölkerung ausgetragen.

Über Bologna ging es weiter nach Venedig und Mailand und von dort schließlich nach Genf, wo viele italienische Exilanten lebten und wo Florence Gelegenheit hatte, Sismondi persönlich zu treffen. Sie hing an seinen Lippen, als er etwa bei einem Essen einen Vortrag über florentinische Geschichte hielt – und notierte eifrig alles in ihrem Tagebuch. Noch interessanter fand sie aber seine Ideen über politische Ökonomie (1819), wobei er als einer der Ersten die unmenschlichen Folgen der Industrialisierung, den Konkurrenzdruck, die brutalen Arbeitsbedingungen und die ungerechte Verteilung der Gewinne anprangerte. Auf langen Spaziergängen versuchte sie so viel wie möglich darüber zu erfahren, und Sismondi gab bereitwillig Auskunft. Durch seine Vermittlung lernten die Nightingales weitere Exilierte kennen, die Florences Begeisterung für die italienische Sache nur noch weiter anheizten.

Drohende politische Unruhen führten zur überstürzten Abreise aus Genf. Im Oktober erreichten die Nightingales aus diesem Grunde früher als geplant Paris, wo sie sich an der Place Vendôme standesgemäß einmieteten. Während eines dreimonatigen Aufenthalts in der französischen Hauptstadt lernte Florence Nightingale Mary Clarke (1793–1883) kennen, eine Frau, die eine außerordentlich wichtige Rolle in ihrem Leben spielen sollte. Clarke war eine Engländerin in den Vierzigern, die sich anschickte, einen der wichtigsten, von einflussreichen Intellektuellen frequentierten Salons im damaligen Paris zu führen. Sie hatte ihr „Geschäft“ bei der berühmten Madame Récamier gelernt und zählte u.a. den romantischen Dichter Chateaubriand zu ihren Bewunderern. Mary Clarke und die Nightingales entwickelten schnell eine gegenseitige Wertschätzung, und so wurde Clarke, genannt Clarkey, schnell zum festen Anker der Familie in der französischen Hauptstadt. Sie begleitete sie ins Theater, in die Oper, in Konzerte und Museen. Sie lud sie in ihre intellektuellen Zirkel ein, die auch der deutsche Orientalist Julius Mohl frequentierte, der später Clarkes Ehemann werden sollte. Mary Clarke kleidete und frisierte sich unkonventionell, war unprätentiös, führte ein unabhängiges Leben und äußerte ungeschminkt ihre Meinung. Damit legte sie ein für britische Verhältnisse unvorstellbares Verhalten an den Tag. Sie zeigte in aller Öffentlichkeit ihre Überzeugung, dass für sie Frauen Männern gleichwertig waren, und eiferte in ihrem Lebensentwurf als alleinstehende weibliche Intellektuelle dem Vorbild der berühmten Madame de Staël nach.

Die enge Freundschaft zwischen Florence Nightingale und Mary Clarke Mohl sollte trotz des Altersunterschieds über vier Jahrzehnte halten. Lange Zeit verbrachte Clarke Mohl jedes Jahr einige Wochen bei den Nightingales in Embley oder in Lea Hurst. Ihr Beispiel ließ Florence Nightingale Möglichkeiten erahnen, die sich jungen gebildeten Frauen eröffnen mochten. Es gab da vielleicht noch andere Optionen als die ihrer unverheirateten Tanten Patty und Julia. Außerdem hatten Mary Clarke Mohl und Florence Nightingale viele Gemeinsamkeiten: einen scharfsinnigen Intellekt und die Hochschätzung von Bildung und Kultur, umfassende Sprachkenntnisse und eine Abneigung, sich herauszuputzen – und nicht zuletzt eine belastende Hassliebe zu ihren jeweiligen Müttern. Aber es gab auch deutliche Unterschiede. Insbesondere die für Nightingale so wichtige Religion war für Clarke nur von untergeordneter Bedeutung.

Die französische Hauptstadt fand Florence Nightingale eher enttäuschend. Die Franzosen kamen ihr im Vergleich zu den Italienern eitel vor. Der Winter war nasskalt und das gesellschaftliche Leben nach dem Tod einer kleinen Prinzessin weitgehend zum Erliegen gekommen. Überaus interessant fand sie jedoch ihre Besuche in der Deputiertenkammer der Julimonarchie unter dem sog. Bürgerkönig Louis Philippe, der nach der Revolution von 1830 die Herrschaft übernommen hatte. Im Dezember kommentierte sie gut informiert die politische Lage: Der König habe alle Parteien verärgert, die Radikalen sprächen über Revolution, doch sie würden den König so lange tolerieren, bis sie ihn gefahrlos loswerden könnten.

Frances Nightingale beobachtete genau, welche Auswirkungen die Europareise auf ihre Töchter hatte. Aus Genf schrieb sie ihrer Schwester: „Florence wird für ihre Schönheit sehr bewundert und auch für sehr klug und unterhaltsam angesehen, doch ihre würdevolle Art hält die Menschen auf Abstand, so dass ich nicht erwarte, dass amouröse Episoden in ihrem Leben zahlreich sein werden.“ (Bostridge, 66)

Was blieb von dieser Reise? Sicherlich die Verfeinerung von Erziehung und Bildung. Nun war Florence Nightingale in den Augen ihrer Eltern bereit für den Heiratsmarkt. Ihre geschlechtsspezifische Erziehung – gegen die sie rebellierte, die sie gleichwohl aber verinnerlicht hatte – war ergänzt worden durch kosmopolitische Bildung und Auslandserfahrung. Sie hatte an Selbstbewusstsein gewonnen, war elegant, vielseitig interessiert und äußerst gebildet und hatte Freude daran, dies zu zeigen. Die Schärfung des Blicks für politische Entwicklungen und kulturelle Eigenheiten ermöglichte ihr Vergleiche unterschiedlicher Länder. Daneben könnte man auch von einer Art Berufsorientierungsreise sprechen, hatte sie doch eine Flut an Informationen über Hospitäler und andere soziale Einrichtungen sowie über Gesundheits- und Sozialpolitik zusammengetragen. Das erstmalige intensive Kennenlernen eines katholischen Landes lenkte ihre religiösen Suchbewegungen in neue Richtungen. Nicht zuletzt zeigte ihr Mary Clarke Möglichkeiten eines unabhängigen Frauenlebens auf. So blieben von diesem Aufenthalt auf dem Kontinent eine lebenslange Freundin sowie wichtige Anstöße und Kontakte für ihr späteres Werk.

Florence Nightingale

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