Читать книгу Florence Nightingale - Hedwig Herold-Schmidt - Страница 10
Die Eltern
ОглавлениеObwohl sie als Schönheit galt, war Frances Smith („Fanny“), eines von zehn Geschwistern, mit Ende zwanzig noch immer unverheiratet. Die Familien Smith und Shore kannten sich, sie teilten dieselben religiösen und politischen Einstellungen. Der sechs Jahre jüngere William (Shore) Nightingale konnte ihr den angestrebten Lebensstil und vielleicht, etwa durch eine politische Karriere wie ihr Vater, der Familie weiteren sozialen Aufstieg ermöglichen. Wenn spätere Biografen Florence Nightingales ihre Mutter als oberflächliche, dumme, nur auf gesellschaftliches Prestige bedachte Person darstellen, die ihrer Tochter selbstsüchtig lange Zeit einen alternativen Lebensweg verbaut habe, so zeigt sich hier der Wertekosmos des (späten) 20. Jahrhunderts, der der historischen Person kaum gerecht wird. Der finanzielle Ruin ihres Vaters hatte ihr deutlich gemacht, wie wichtig eine gute Partie für eine Tochter war, zumal für eine, die nicht erben konnte. Außerdem teilte Frances Nightingale wohl nicht die protofeministischen Ambitionen ihrer Schwestern und war mit der traditionellen Frauenrolle zufrieden, sofern sie diese nur in der besten Gesellschaft ausleben konnte. Und diese sollte sie virtuos ausfüllen und zum Wohl ihrer Familie einsetzen, wie es von einer viktorianischen Frau ihrer Kreise erwartet wurde. Den sozialen Aufstieg betrieb sie konsequent. Für die oberen Mittelschichten Englands waren die Standesgrenzen zum Niederadel, der Gentry, viel durchlässiger als auf dem Kontinent. Das war umso leichter, als man sowieso den gleichen Lebensstil teilte.
William Nightingale soll in seine Frau vernarrt gewesen sein. Er wird als aufmerksamer und rücksichtsvoller Ehemann beschrieben. Charakterlich waren die beiden jedoch sehr unterschiedlich. Der vielseitig interessierte und hochgebildete William Nightingale zog Bibliotheken den Salons vor und wissenschaftliche Vorträge Verwandtenbesuchen. Die Ehe funktionierte trotz der unterschiedlichen Temperamente und Präferenzen, allerdings verbrachte das Paar im Laufe der Jahre seinen Neigungen gemäß immer mehr Zeit unabhängig voneinander, wobei die Einbindung in den weitverzweigten Familienclan eine bestimmende Konstante blieb. Trotz der häufigen räumlichen Trennungen scheinen sie sich aber stets loyal verbunden geblieben zu sein.
Frances Smith und William Nightingale wurden im Sommer 1818 in Westminster getraut, merkwürdigerweise ohne die Familie des Bräutigams. Williams gekränkter Vater reiste am Tag nach der Hochzeit nach London, um das Paar zu sehen, doch da war dieses bereits unterwegs nach Italien. Man vermutete die Ursache für dieses Hochzeitsdrama in der kulturellen Kluft zwischen Nord- und Südengland, die vielleicht ein nicht adäquates Auftreten der neuen Verwandten aus Derbyshire hatte befürchten lassen.
Die Hochzeitsreise führte nach Italien, wo das junge Paar über zwei Jahre lang der Klassik- und Antikenbegeisterung der Zeit huldigte. Zunächst ließen sich die Nightingales in Neapel nieder. Die katholische Religiosität sowie das politische und kulturelle Leben unter der Bourbonenmonarchie wirkten anfangs befremdlich. Britischen Reisenden auf dem Kontinent waren die Unterschiede zwischen katholischen und protestantischen Gebieten sehr bewusst. Üblicherweise stellte man den Übeln des Katholizismus die Tugenden des Protestantismus gegenüber, dem rituell-emotionalen und potenziell „abergläubischen“ Anderen das mit Vernunft, Bildung, Aufklärung und Kultur assoziierte protestantische „Wir“.
Obwohl das junge Paar schnell heimisch wurde, war nicht alles eitel Sonnenschein, denn vor allem Krankheiten trübten den Aufenthalt im Süden. William Nightingale steckte sich mit Malaria an, und Tochter Parthenope hätte die ersten Monate fast nicht überlebt. Das später sehr enge Mutter-Tochter-Verhältnis könnte hier seine Wurzeln haben, denn bis weit ins Erwachsenenalter hielt Frances Nightingale Parthenope für besonders schutzbedürftig und krankheitsanfällig. Dies sollte die innerfamiliäre Dynamik nachhaltig prägen – mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die jüngere Florence, die sich stärker an den Vater anschloss.
Nach dem Aufenthalt in Neapel reiste die junge Familie nach Florenz, wo am 12. Mai 1820 ihre zweite Tochter das Licht der Welt erblickte. Sie wurde nach anglikanischem Ritus getauft, aber ebenfalls in das Geburtsregister der Dissenters eingetragen. Es war vor allem Frances Nightingale, die nach fast drei Jahren im Süden auf Heimkehr drängte. Mit zwei Kindern galt es an die Zukunft zu denken. Ihr Mann hingegen wäre wohl gerne noch länger in Italien geblieben, wo er mit viel Muße in kulturell anregender Umgebung ideale Rahmenbedingungen zur Abrundung seiner (Selbst-)Bildung vorfand.
Nach ihrer Rückkehr ließen die Nightingales in Derbyshire ein großzügiges Familiendomizil errichten, mit der Mode der Zeit entsprechenden neogotischen Elementen in landschaftlich reizvoller Lage auf einem Hügel: Lea Hurst. Die Landwirtschaft in Derbyshire war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts bereits im Niedergang begriffen. Bleiminen und -schmelzen sowie eine Baumwollspinnerei um Lea Hurst zeugten von den Umwälzungen der Frühindustrialisierung. Mit zwei benachbarten Dörfern bildete Lea einen Weiler, der in Florences Kindheit ungefähr 675 Einwohner zählte. In dieser Gegend fühlte sich ihre Mutter aus mehreren Gründen nicht sehr wohl. Zum einen entsprach die von der Industrie gezeichnete Landschaft nicht ihrem ästhetischen Empfinden. Zum anderen war ihr das Haus zu kalt, und sie fürchtete vor allem im Winter um die Gesundheit ihrer Kinder. Schlimmer noch als die Kälte scheint die relative soziale Isolation gewesen zu sein. Was ihr hier fehlte, war das gesellschaftliche Leben Südenglands, ganz abgesehen davon, dass sie ihre große Familie vermisste. Auch William Nightingale fand in den Midlands wohl nicht genug intellektuelle Anregungen.
Deswegen legten sich die Nightingales 1825 in Südengland, in Hampshire, einen zweiten Wohnsitz zu: Embley Park. Das Haus aus der spätgeorgianischen Zeit war zwar verglichen mit Lea Hurst relativ klein, verfügte jedoch über einen eindrucksvollen Garten und ein großes dazugehöriges Grundstück – mit vielversprechendem Erweiterungspotenzial. Die Gegend wirkte wie das ländliche England aus dem Bilderbuch. Das Meer war nicht weit, die zahlreiche Verwandtschaft in bequemer Reichweite, und eine Reihe prestigeträchtiger Familien wohnte gleich um die Ecke, allen voran der spätere Premierminister Lord Palmerston.
Embley Park bot einen hervorragenden Rahmen für die gesellschaftlichen Ambitionen der Mutter, vor allem nachdem das Anwesen in den späten 1830er-Jahren für große Empfänge und viele Übernachtungsgäste umgebaut worden war. Auch London war nahe genug, falls William Nightingale Interesse an einer politischen Karriere entwickeln sollte. In der Tat versuchte er 1834, ein Mandat im Unterhaus zu erringen. Er scheiterte jedoch, da er nicht – wie in England seit Langem üblich – den Parlamentssitz einfach kaufen wollte. Er war vehement für die Reform von 1832 eingetreten, die die Wählerschaft erweitern und die Korruption einschränken sollte. Doch innerhalb von zwei Jahren hatten sich die Einstellungen der Bevölkerung noch kaum verändert. Ganz im Gegenteil hofften nun mehr Wähler als zuvor, von den traditionellen Vergünstigungen profitieren zu können. Tief enttäuscht verzichtete William Nightingale nach dieser Niederlage auf weitere Kandidaturen. Stattdessen pflegte er seine vielfältigen wissenschaftlich-intellektuellen, kulturellen und sozialreformerischen Interessen und kümmerte sich, wie es von einem umsichtigen Gutsherrn erwartet wurde, um seine Besitzungen und um seine Pächter. Seine Tochter Florence sah diese Selbstbeschränkung Jahrzehnte später mit Bedauern: Ohne eine ernsthafte Aufgabe hatte er, so kam es ihr vor, zu wenig aus seinem Leben gemacht.
Die Nightingales waren zwischen den beiden Landsitzen ständig in Bewegung. Die Sommer von Juli bis Oktober verbrachte man in Lea Hurst, den Rest des Jahres in Embley Park, unterbrochen von Aufenthalten zur Saison in London, wo sich die Familie in einem Hotel einquartierte. Unter den führenden Schichten Englands war diese Kommutation im Jahresrhythmus zwischen Landsitz und Metropole, zwischen adligem Landleben und politisch-sozialem Großstadtleben üblich. Die London Season, mit der Anziehungskraft des Parlaments und der kulturellen Angebote, schuf einen besonderen Kommunikationsraum mit bestimmten Verhaltensstandards und Distinktionsmechanismen. Der jährliche Aufenthalt in der Hauptstadt war nicht zuletzt wichtig, um hinsichtlich aktueller Modetrends auf dem Laufenden zu bleiben.
In ihren Residenzen war die Familie so gut wie nie allein, und ein Strom von Besuchern ging ständig ein und aus. Oft blieben diese mehrere Wochen. Während Florence und ihr Vater eine enge Bindung an Lea Hurst entwickelten, hielten sich Mutter und Schwester lieber in Hampshire auf. Die Familie war außerdem häufig auf Reisen, auch mit den Kindern, was damals noch nicht sehr üblich war. Hinzu kamen Verwandtenbesuche und Aufenthalte in Heilbädern.
Embley Park wurde schnell zu einem gesellschaftlichen Anziehungspunkt, wobei es wohl eine subtile Mischung aus Geld, Charme, Kultur und Intellekt war, die die Besucher faszinierte. Frances Nightingale versuchte die Art intellektuell-politischer und aristokratisch angehauchter Geselligkeit wiedererstehen zu lassen, die sie in ihrer Jugend im Hause Smith erlebt hatte. Die Herkunft der Nightingales aus Handel und Industrie ließ sich aber nicht so einfach abschütteln. Mit der Zeit stellten sich jedoch immer illustrere Namen ein, nur beim Hochadel hatte sie keinen Erfolg. Zur Etablierung sozialen Kapitals war Frances Nightingale ständig unterwegs, führte eine umfassende Korrespondenz und war eine überaus aufmerksame Gastgeberin, die etwa gezielt ihr Wissen erweiterte, um gute Konversation betreiben zu können. Die außerordentlich wichtige Rolle der Frauen in den Ober- und Mittelschichten für die Pflege von Beziehungen und Netzwerken, nicht zuletzt für das berufliche und soziale Fortkommen der männlichen Familienmitglieder, wird erst neuerdings von der Forschung gewürdigt. Wie es die Geschlechterrollen vorsahen, war Frances Nightingales Handeln auf die Familie fokussiert: Ihren Mann hätte sie am liebsten in der Politik gesehen, und ihre Töchter sollten die bestmöglichen Chancen im Leben bekommen. Das bedeutete damals die Auswahl unter den prestigeträchtigsten Ehemännern. Sie hatte Erfolg: Zwei respektable Landsitze, ein Wappen, sogar eine Livrée für die Bediensteten legten sichtbar Zeugnis davon ab.
Die Familien rund um Florence Nightingale, die Shores, die Smiths, die Nightingales, waren mit den Problemen und Debatten ihrer Zeit vertraut, ja man kann sie zu den fortschrittlicheren Kreisen zählen, die von unabhängigen, progressiven Positionen in politischen und religiösen Dingen ausgehend Reformen befürworteten und unterstützten. Sie gehörten mit ihrem Reichtum, ihrer Unabhängigkeit, ihrer Bildung und ihrer Prominenz in gewisser Weise zur Avantgarde des sozialen Wandels. Aber sie waren auch Kinder ihrer Zeit, und das sollte Florence Nightingale dann schmerzlich zu spüren bekommen, als sie über einen alternativen Lebensentwurf nachdachte.
Mrs. Nightingale mit ihren Töchtern Florence und Parthenope. Photogravüre von E. Walker nach einem Aquarell, 1828 (1824). Wellcome Collection. CC BY