Читать книгу Florence Nightingale - Hedwig Herold-Schmidt - Страница 9
Der Familienclan
ОглавлениеDen Grundstock seines Vermögens hatte Florence Nightingales Vater, der als William Shore geboren worden war, von einem Großonkel mütterlicherseits aus Derbyshire in den Midlands geerbt. Als er volljährig war, nahm er mit der Erbschaft auch dessen Namen Nightingale an. Grund und Boden waren durch die damals weitverbreitete Rechtsinstitution des Fideikommisses gebunden, die einen Verkauf oder eine Beleihung erschwerte. Dahinter stand der Gedanke, dass die Besitzungen möglichst als Ganzes über Generationen hinweg der Familie ungeteilt erhalten bleiben sollten. Der jeweilige Inhaber hatte lediglich ein zeitlich begrenztes Nutzungsrecht, die Vererbung erfolgte nach bestimmten Regeln. Der Großonkel hatte festgelegt, dass – sollten männliche Nachkommen fehlen – der Besitz an die Schwester des Vaters überging, was 1874 nach dem Tod William Nightingales auch geschah. Die Erbschaft war somit ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ermöglichte sie William Nightingale ein sorgenfreies Leben, andererseits schwebte über der Familie immer das Damoklesschwert der Versorgung von Frau und Töchtern, sollte das Familienoberhaupt sterben und die Töchter noch unverheiratet und damit nicht abgesichert sein. Diese Konstellation wurde dadurch kompliziert, dass nicht nur William Nightingale eine Smith-Tochter heiratete, sondern auch dessen Schwester Mary Shore („Mai“), die potenzielle Erbin, mit Samuel einen Sohn der Smiths ehelichte. Florence Nightingales Cousinen und Cousins waren dies somit in doppelter Hinsicht.
Die väterliche Familie, die Shores, stammte aus den Midlands, einem der Zentren der englischen Frühindustrialisierung. Neben der Landwirtschaft – ein Landgut war in dieser Zeit unabdingbar für Prestige und Respektabilität – war die Familie in Handel, Banken und Industrie aktiv. Die mit den Shores verwandten Nightingales betrieben Bleiminen, das Fundament ihres Vermögens, und kauften sich in Grundbesitz ein. Großonkel Peter errichtete eine Bleischmelze und investierte in die Baumwollproduktion.
In religiöser Hinsicht gehörte die Familie Shore zu den sog. Dissenters, Gruppen, die sich von der anglikanischen Staatskirche distanziert hatten, zu denen u.a. Methodisten, Baptisten, Kongregationalisten, Quäker und Unitarier zählten. Wie auch den Katholiken seit der Reformation waren den Dissenters lange Zeit die vollen Bürgerrechte verwehrt geblieben und noch im 18. Jahrhundert war ihnen der Zugang zu vielen öffentlichen Ämtern und Universitäten verschlossen. Dies führte sie in Tätigkeitsfelder wie Handel, Industrie, Wissenschaft und Bildung – und auch teilweise in den politischen Radikalismus. Im 19. Jahrhundert zählten sie zur Avantgarde der Reformer.
Die Familie der Mutter könnte man zum distinguierteren Zweig der Verwandtschaft rechnen. Der Großvater, William Smith, war lange Jahre ein engagiertes, unabhängiges Mitglied des Unterhauses, ebenfalls ein Dissenter und liberaler Kaufmann. Angesichts der Übermacht landbesitzender anglikanischer Konservativer im Parlament galt er als eine Art radikaler Paradiesvogel, der sich insbesondere für die Abschaffung des Sklavenhandels und für religiöse Freiheit und Gleichberechtigung für nichtanglikanische Denominationen einsetzte. Er gehörte zu den Unitariern, die u.a. die Trinitätslehre und die Gotteigenschaft Christi ablehnten. Smith war davon überzeugt, dass es ein gottloser Akt sei, wenn ein Mensch einen anderen seiner Freiheit beraube. In seine aktive Zeit als Politiker fielen mit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen international große Umwälzungen und in Großbritannien weitreichende Reformvorhaben. Dazu zählten die Abschaffung des Sklavenhandels (1807), die Katholikenemanzipation (1829) und die erste große Verfassungs- und Wahlrechtsreform (1832). Im 18. Jahrhundert war es der Familie Smith durch Geschäfte im Groß- und Kolonialhandel gelungen, schnell die soziale Leiter zu erklimmen. Ihre Distanz zur Staatskirche hatte aber trotz Reichtum weiterhin eine gewisse gesellschaftliche Ausgrenzung zur Folge.
Die Großmutter von Florence Nightingale gab ihren Kindern eine streng protestantische Moral mit. In vielerlei Hinsicht war sie spartanischer eingestellt als ihr Ehemann, der Luxus und die Kunst liebte. Entgegen den Gewohnheiten der Zeit kümmerte er sich intensiv um seine Kinder und legte auch für seine Töchter, wie die Unitarier überhaupt, größten Wert auf eine gute Erziehung und Bildung. Florence Nightingales Bildung wird oft als außergewöhnlich hervorgehoben, doch auch die ihrer Mutter darf bereits als sehr fortschrittlich gelten. Sie erhielt umfassenden Hausunterricht und freien Zugang zu einer Bibliothek mit über 2000 Bänden und damit zu einer Fülle radikaler Literatur, die auch die Frauen der Familie lesen durften.
Während Florence Nightingales Eltern auf der Hochzeitsreise waren, geriet das Handelsunternehmen der Smiths in eine Krise und führte die Familie an den Rand des Bankrotts. So gingen der Landsitz und das Stadthaus in London zusammen mit einer wertvollen Gemäldesammlung und der Bibliothek verloren. William Smiths persönliches Vermögen verschwand praktisch über Nacht. In der Folgezeit waren die Smiths zu erheblichen finanziellen Einschränkungen gezwungen und auf die Unterstützung ihrer erwachsenen Söhne angewiesen. William Smiths politisches und humanitäres Engagement blieb davon unberührt. Für seine Enkelin sollte er immer ein wichtiger Referenzpunkt bleiben. Ebenso prägend für Florence Nightingale wurden seine religiösen Ansichten sowie seine Offenheit und sein Interesse für alle Glaubensrichtungen. Der Feminismus als quasi familiäre Mitgift erreichte Florence Nightingale über ihre unverheirateten Tanten Patty und Julia Smith. Viele der frühen feministischen Schriftstellerinnen, wie Mary Wollstonecraft, die im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts in London wirkten, waren persönliche Freunde ihrer Großeltern oder ihrer Tanten.