Читать книгу Florence Nightingale - Hedwig Herold-Schmidt - Страница 20
Innerfamiliäre Dynamik und Konflikte
ОглавлениеZunächst aber musste sie weiter mit ihrer Familie kämpfen. In ihrer Verzweiflung und Orientierungslosigkeit tauchte sie immer öfter in Fantasiewelten ab, entwarf abenteuerliche Szenarien, was ihr im Gegenzug sofort ein schlechtes Gewissen bescherte. Träumereien als kleine Fluchten aus dem Alltag waren weitverbreitet unter Mittelschichtfrauen; die englische Literatur der Zeit kennt zahlreiche Beispiele. Solange sie ihre Pflichten nicht vernachlässigten, scheint dies kein größeres Problem gewesen zu sein. Phasen intensiver Aktivitäten in Familie und Haushalt, in denen Florence Nightingale versuchte, die perfekte Tochter zu sein, wechselten sich mit Zeiten völliger Erschöpfung und Apathie ab. Das Verhältnis zu ihrer Schwester wurde immer schwieriger. Häufig kränklich und ohne große Heiratschancen, war Parthenope auf ihre „ideale“ Familie fixiert und verlangte von Florence, ihren Teil zur Aufrechterhaltung dieser Fiktion beizutragen. In ihren Zielen und Hoffnungen für das Leben hätten die beiden Schwestern nicht unterschiedlicher sein können. Ihrem Vater zufolge hatte Parthenope „keine anderen Wünsche als ein schönes Feuer [im Kamin] und fröhliche Stimmung [im Salon]“ (Bostridge, 105). Dieser Mangel an Zielen und Ambitionen verkörperte für Florence aber genau die typische intellektuelle Selbstbeschränkung der Frauen ihrer Gesellschaftsschicht, für die sie so gar kein Verständnis aufbringen konnte.
Damit zusammen hing eine andere Entscheidung, die zwar vorübergehend aufgeschoben worden war, aber trotzdem irgendwann getroffen werden musste. Sollte sie heiraten oder allein bleiben? Welche Möglichkeiten und Entwicklungschancen konnte eine Ehe bieten? Nicht viele, da war sie sich sicher. Verheiratete Frauen hatten so gut wie keine Rechte. Doch kannte sie auch eine Handvoll Ehemänner, die ihren Gattinnen Entfaltungsmöglichkeiten gaben und sie mitunter sogar dabei unterstützten.
Über Nightingales Gefühlsleben, ihre „Weiblichkeit“, über ihr Verhältnis zu Männern und Frauen und ihre sexuelle Orientierung kursieren viele (oft unfundierte) Spekulationen. Diese sollen hier nicht weiter vermehrt werden, da angesichts der Quellenlage viele Fragen ohnehin kaum geklärt werden können. Mit aller gebotenen Vorsicht kann man sagen, dass die Mutterschaft wohl nicht zu ihren dringenden Wünschen zählte. Auch scheint sie sich nicht Hals über Kopf in einen Mann verliebt zu haben. Es dürfte also weniger die romantische, leidenschaftliche Liebe gewesen sein, von der sie träumte (bzw. schrieb), sondern vielmehr von einer sinnvollen Aufgabe, die sie gerne mit einem geliebten idealen Gefährten teilen wollte.
Und es sollte tatsächlich einen Mann geben, der genau dem nahekommen konnte. Bereits im Sommer 1842 hatte sie ihren ernsthaftesten und ausdauerndsten Bewerber kennengelernt, den dreiunddreißigjährigen Richard Monckton Milnes. Er war eine schillernde Figur: Poet, Parlamentarier, vehementer Reformbefürworter, auch für Frauenemanzipation aufgeschlossen, Unitarier, gesellschaftlich versiert und zudem italienbegeistert. Spätestens ab 1846 war er häufiger Gast im Hause Nightingale. Wann er das erste Mal um ihre Hand anhielt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, doch eine endgültige Antwort zögerte Florence mehrere Jahre hinaus. Für ihre Eltern eine äußerst wünschenswerte, fast schon ideale Partie, denn es schloss sich für sie mit knapp 30 Jahren langsam das Zeitfenster für eine Heirat. War eine Ehe mit diesem sympathischen Mann, zu dem sie sich hingezogen fühlte, nicht besser als das Leben einer alten Jungfer? Humor, Poesie, Literatur, Reisen, Museumsbesuche und wissenschaftliche Vorträge, aber vor allem soziale Interessen und Sensibilitäten zählten zu den Gemeinsamkeiten. Reichte das als Basis aus? Sie zweifelte und konnte sich nicht zu einem Entschluss durchringen, verschob die Entscheidung Monat um Monat. So fand sie sich im Oktober 1847 erneut im Krankenbett und am Rande eines Nervenzusammenbruchs. In dieser Situation schlugen Charles und Selina Bracebridge, langjährige Freunde der Familie, vor, Florence mit auf eine Italienreise zu nehmen. Wie so viele wohlhabende Engländer glaubten auch die Bracebridges, dass ein Winter im milden Süden einer angeschlagenen Gesundheit guttun würde. Der liberale Landedelmann begeisterte sich für Literatur und war glühender Anhänger des griechischen Freiheitskampfs. In seiner Frau, einer begabten Aquarellmalerin, fand Florence Nightingale eine Vertraute, die ihr Sympathie entgegenbrachte, ohne sie einzuengen. Nightingale unterstrich später immer wieder die übergroße Bedeutung, die die Bracebridges für ihr Leben hatten. Sie nahmen sie mit auf Reisen, vermittelten zwischen ihr und der Familie, förderten sie und ebneten ihr Wege, ja sie begleiteten sie sogar in den Krimkrieg. Selina war für Florence Nightingale „mehr als eine Mutter“, beide galten ihr als „creators of my life“ (Bostridge, 110).