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Gebildet wie ein Sohn

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Ab 1830 übernahm William Nightingale selbst den Unterricht seiner Töchter, unterstützt von einer Musik- und Zeichenlehrerin. Drei Motive dürften dabei eine Rolle gespielt haben. Zum einen gehörte er zu den Befürwortern gründlicher Mädchenbildung, zum zweiten hatte er als dilettierender Landedelmann die Zeit dazu und drittens fühlte er sich außerhalb seiner Londoner Clubs und akademischen Gesellschaften intellektuell isoliert und nicht ausgelastet. So wurde ihm die elfjährige Florence zu einer anregenden Gesellschaft, die sich ebenso wie er für Natur- und Sozialwissenschaften, für metaphysische Fragen oder politische Theorie begeistern konnte. Hinzu kam wohl ein gewisses Unbehagen am Erziehungsstil von Miss Christie.

William Nightingale war ein guter Lehrer. An den Universitäten Edinburgh und Cambridge hatte er eine ausgezeichnete Bildung genossen. Er kultivierte ein Interesse an Geistes- und Naturwissenschaften sowie an Kunst und vertiefte dieses durch Reisen und Kontakte zu namhaften Wissenschaftlern. Er war Mitglied der British Association for the Advancement of Science. Frauen konnten dort Vorträge einreichen und an den Sitzungen teilnehmen. Auch seine Tochter nahm er später dahin mit. Darüber hinaus verfügte er über eine reich ausgestattete Bibliothek, die seiner Gattin und den Töchtern zur Verfügung stand.

Beide Töchter lernten gut, aber Florence war die schnellere und intelligentere. Während langer Verwandtenbesuche nahmen die Mädchen am Unterricht der jeweiligen Gouvernanten teil. Selbstverständlich achtete man darauf, dass sie all das lernten, was für das weibliche Geschlecht in der besseren Gesellschaft unabdingbar war. Zusätzlich erhielt Florence Nightingale während der folgenden sieben Jahre eine exquisite Bildung, die ihr theoretisch ein Studium an jeder Universität ermöglicht hätte, doch Frauen war dieser Weg verschlossen.

Das Curriculum war anspruchsvoll. Moderne und klassische Sprachen, Geschichte, Musik, Naturwissenschaften und Literatur gehörten dazu. Mit 16 notierte Florence, dass Chemie, Geografie, Physik und Astronomie, Mathematik, Grammatik, Komposition, Philosophie und viel Geschichte sie beschäftigten. Französisch und Italienisch sprach sie bereits fließend, später lernte sie auch Deutsch. Doch vor allem glänzte sie in den alten Sprachen, besonders im Altgriechischen. Sie las antike Autoren im Original. Platon sollte ihr Denken besonders nachhaltig prägen, mindestens so stark wie die Bibel. Sein Verständnis von der sinnlich wahrnehmbaren Welt als bloße Repräsentation einer dahinter verborgenen spirituellen Welt hatte enormen Einfluss auf ihr späteres Denken und ihre religiösen Vorstellungen. Seine Überlegungen zu einer idealen Gesellschaft beeindruckten sie tief. Und Platons Höhlengleichnis begriff sie als Metapher für ihr eigenes Leben, für ihr Bemühen, die dunkle Höhle des Materiellen zu verlassen und das Licht der göttlichen Wahrheit zu erkennen. Diese klassische Ausbildung und ihr Interesse für Philosophie und Politik unterschieden Florence Nightingale später deutlich von anderen Reformerinnen ihrer Zeit. Ihr so geschulter Intellekt dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass sie in männlichen Zirkeln, sowohl bei den Unterstützern ihrer Reformprojekte als auch bei deren Gegnern, akzeptiert wurde.

Unterricht und Selbststudium nahm Florence Nightingale äußerst ernst. Oft stand sie noch in der Nacht auf, um die Aufgaben des nächsten Tages vorzubereiten. Dabei war sie sich ihrer Ausnahmesituation deutlich bewusst. Die Wissenschaften entwickelten sich rasant, doch lieferten gerade diese ständig neue Argumente für die traditionellen Geschlechterrollen, die jetzt immer stärker biologisch begründet wurden. Danach hatten Frauen nun mal nicht die gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie Männer. Schlimmer noch: Versuchten sie mit diesen gleichzuziehen, wollte sie keiner mehr heiraten. Respektable Ärzte vertraten die Meinung, Bildung schwäche den Körper einer Frau und ihre reproduktiven Fähigkeiten. Wenn also einige ganz wenige doch die gleichen Talente haben sollten, würden sie dadurch mehr verlieren als gewinnen. Zudem sollte Bildung nach landläufiger Meinung für den Beruf vorbereiten, doch um 1830 gab es für das weibliche Geschlecht hier kaum Möglichkeiten.

Die Konsequenzen, die dieser gediegene Unterricht für seine jüngere Tochter haben sollte, hatte William Nightingale wohl nicht vorausgesehen, denn für Florence war Bildung nicht Selbstzweck wie für ihren Vater. Sie wollte sie anwenden. Als sie realisierte, wie schwierig dies war und dass ihr fast alle Wege versperrt waren, führte dies in eine langandauernde Krise. Parthenope bewunderte ihre Schwester, war dabei aber besitzergreifend und neidisch. Florence liebte Methode und Ordnung und war irritiert, wenn sich Parthenope nachlässig und sprunghaft verhielt. Sie zeigte sich brillant und fokussiert und sah Bildung völlig korrekt als einen Weg, sich Macht zu erwerben. All das war ein Alptraum für Parthenope, wie bittere Briefe zeigen.

Während Florences Wissensdurst grenzenlos schien, waren die Interessen der Schwester anders gelagert: Sie konnte sich eher für „damenhafte“ Dinge wie Malen und Poesie erwärmen und war daher meist bei der Mutter im Salon zu finden, während Florence und ihr Vater lange Stunden in der Bibliothek zubrachten. In gewisser Weise ersetzte sie ihm den fehlenden Sohn. Diese Konstellation musste sich zwangsläufig auf die innerfamiliäre Dynamik auswirken. Die enge Vater-Tochter-Beziehung entfernte Florence emotional von ihrer Mutter, zu der sie mit Respekt und sogar Ehrfurcht aufsah. Ihr nicht genügen zu können, sich ihre Liebe nicht verdienen zu können, sie nicht für ihre Sicht auf das Leben begeistern zu können, all das quälte sie jahrzehntelang. Auch wenn sie später harsche Worte über ihr familiäres Gefängnis fand, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass sich darin ihre Gefühle gegenüber der Mutter erschöpften. Es gibt zahllose Belege dafür, dass sie sich zeitlebens um deren Wohlergehen sorgte und sich um ihre Liebe und Akzeptanz bemühte.

Die Differenzen und Streitereien der Schwestern im Teenageralter sind nicht leicht einzuschätzen. War es doch ein eher gutes Verhältnis, das erst dann in Erbitterung umschlug, als Florence versuchte, das Haus zu verlassen und ein eigenständiges Leben zu führen? Lag der Schlüssel für die schwierige Beziehung vielleicht nicht in Neid und Konkurrenzdenken, sondern in Parthenopes angegriffener Gesundheit, die den besonderen Schutz der Mutter zur Folge hatte und Florence die Rolle auferlegte, sich um die Schwester zu kümmern? Parthenope wurde als chronische Invalidin behandelt und erwartete, umsorgt zu werden – mit dramatischen Folgen für ihr eigenes Leben und das ihrer Schwester.

Die letztlich erfolglose Kandidatur William Nightingales 1834 für das Unterhaus versetzte die ganze Familie in Aufregung, doch Florence war besonders beunruhigt und aufgewühlt, denn sie fürchtete, ihren Vater nur noch wenig zu sehen und das ruhige Leben auf dem Land aufgeben zu müssen. Diese überschießende Reaktion hat mit einem Phänomen der Zeit zu tun, und zwar der Gefühlsbetontheit der Romantik. Im viktorianischen Zeitalter ging man davon aus, dass Frauen besonders sensibel waren. Auch zweifelte niemand daran, dass emotionale Erschütterungen Krankheiten auslösen konnten. Ganz im Einklang damit wurde allen Nightingale-Frauen eine „delikate Konstitution“ zugeschrieben. Florence Nightingales spätere Verhaltensweisen und Reaktionsmuster, die nicht selten als übertrieben und extrem emotional eingestuft wurden, dürften auch damit zusammenhängen.

Nach der Wahlniederlage war die Option einer Karriere in der hohen Politik vom Tisch. William Nightingale kümmerte sich um seine Güter – übrigens gut und verantwortungsvoll, wie alle Quellen bestätigen – und widmete seine übrige Zeit seinen intellektuell-kulturellen Interessen. Damit rückten zwangsläufig die Töchter stärker in den Mittelpunkt der Pläne der Mutter. Sie waren nun 16 bzw. 17 Jahre alt, und es war Zeit, dass sie in die Gesellschaft eingeführt wurden. Sie sollten alle Chancen auf eine sehr gute Partie bekommen, wofür Frances Nightingale aus späterer Sicht regelmäßig heftige Vorwürfe trafen. Allerdings wäre eine Mutter ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, hätte sie dies aus den Augen verloren. Eine gute Heirat war in der viktorianischen Zeit das Nonplusultra. Sollten ihre Töchter nicht als mithelfende und mitleidig betrachtete Tanten enden, die in der Familie in allen möglichen Notsituationen herumgereicht wurden, so hatte gerade Frances Nightingale allen Grund, sich in der Heiratsfrage besonders zu bemühen: Zum einen stand der väterliche Bankrott als leidvolle Erfahrung im Raum, der sich auf die Lebenschancen der unverheirateten Töchter bitter ausgewirkt hatte, zum anderen die Tatsache, dass das Familienvermögen nach dem Tod ihres Ehemanns größtenteils verloren war und die Töchter – wie auch sie selbst – dann weitgehend mittellos zurückblieben.

Um eine gute Heirat zu erreichen, war ein entsprechender Rahmen nötig, und dafür musste Embley Park erweitert und umgebaut werden. So entstand die Idee, während der Bauarbeiten den Kontinent zu bereisen und den Töchtern auf diese Weise den letzten gesellschaftlichen Schliff zu verleihen. Erstaunlicherweise war eine solche Reise insgesamt billiger, als ein Haus der gehobenen Gesellschaft in England zu führen. Doch mitten in diesen Planungen meinte Florence Nightingale den Ruf Gottes zu vernehmen, der sie aufforderte, ihm zu dienen. Dieses Erweckungserlebnis sollte zum zentralen Wendepunkt ihres Lebens werden. Wie dieser Dienst allerdings aussehen sollte, blieb lange unklar und sollte ihr schwere Krisen und Seelenqualen bringen. Doch wie kam es dazu, dass sie ihren Wunsch nach einem aktiven Leben in religiösen Kategorien ausdrückte, und wie führte sie dies zur Krankenpflege?

Florence Nightingale

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