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Anna

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Wir standen am frühen Nachmittag am Fenster und starrten in den wolkenverhangenen, düsteren Dezemberhimmel. Es lag hoch Schnee. In der Nacht hatte es gefroren und die Glätte ließ die Menschen vorsichtige, trippelnde Schritte vollführen. Manchmal purzelte jemand hin, was uns natürlich gefiel, wenn nur nicht die Tante zu uns unterwegs gewesen wäre.

„Es ist fraglich, ob Anna bei diesem Wetter noch kommt,“ hörten wir Mutter sagen. „Was, wir sollten ohne unsere Tante Anna Weihnachten feiern. Meiner Schwester und mir verging die erwartungsfrohe Stimmung und machte einer tiefen Traurigkeit Platz. Zu allem Überfluss öffneten sich die Wolken, Schneeflocken wirbelten hernieder und nahmen uns die Sicht.

Als sich für einen Moment lang der weiße Schleier hob, jubelten unsere Herzen. Wir sahen die Tante in ihrem schwarzen Mantel, der mit Flocken über und über besät war, um die Ecke eilen..

Sogleich erzählte sie uns von den Ereignissen, die ihr auf dem Weg zu uns widerfahren waren.

Auf den Treppenstufen am Bahnhof hatte sie eine uralte Frau aufgehalten und gefragt: „Anna, bist du auf dem Weg zu deinen Nichten.?“ „Woher wissen Sie das,“ hatte die Tante gestaunt. „Stellt euch vor, die Frau gab zunächst keine Antwort, statt dessen breitete sie die Arme aus und aus ihrem nachtblauen Cape, das innen mit roter Seide ausgestattet war, fielen rosafarbene Sternchen. Sie hinterließen Löcher in dem Futter, als sie sanft auf den Boden fielen. Ich habe mich danach gebückt,“ sagte die Tante „und sie natürlich sofort aufgelesen.“ Zum Beweis zeigte sie uns die rosafarbenen Plätzchen, die wir uns genüsslich in die Münder schoben. „Erzähl weiter,“ baten wir. „Dann habe ich die mit dem Umhang gefragt: „ Wer sind denn Sie? und vor allem, wieso wissen Sie, dass ich auf dem Weg zu meinen Nichten bin?“ „Nun mal hübsch langsam,“ bekam ich zu hören. „Das sind zwei Fragen auf ein Mal.“

Tante Anna sah uns an und fragte: „Habt Ihr eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“ Hatten wir natürlich nicht und wir waren sehr gespannt. „Na, die Frau Holle war das!“ „Wieso weiß die denn alles,“ fragten wir erschrocken.

„Die, die hat doch im Winter nichts anderes zu tun, als von oben aus den Wolken zu schauen,“ sagte Tante Anna verächtlich und zog ihre Mundwinkel nach unten. Ab und zu bequemt sie sich allerdings und lässt es schneien. In erster Linie aber ist sie neugierig auf das, was wir Menschen hier unten fabrizieren. Da ist es nur allzu natürlich, dass sie auch mitkriegt, was ich so mache. Aber nun lasst mich mal weiter erzählen:

Auf den glatten Straßen war kein Weiterkommen, die Leute rutschten aus und so mancher fiel sehr unglücklich und verletzte sich. Plötzlich sah ich einen Radfahrer näherkommen. Ich bat ihn, mich ein Stückchen mitzunehmen. „Ich habe leider keinen Gepäckträger, gute Frau, sonst gerne,“ sagte er zu mir. „Das macht nichts, Sie könnten mich hinter sich herziehen,“ schlug ich ihm vor. Ich löste die Kordel, nahm mein Nachtgeschirr vom Rücken und machte es mir darauf bequem. Der Mann brauchte nur noch das Seil zu verknoten und hui sind wir an den neidisch guckenden Leuten vorbei geflitzt,“ sagte sie, und betonte:

„Nur damit ich schneller bei euch sein konnte, habe ich die schwierige Fahrt auf dem Nachttopf auf mich genommen!“ Was war das für eine Frau! Sie nahm alles in Kauf, um nur ja auf schnellstem Wege zu uns zu gelangen,“ dachten wir voller Stolz und liebten sie um so mehr.

Das Nachtgeschirr brauchte sie uns zum Beweis nicht vorzeigen. Das kannten wir schon so lange, wir uns erinnern konnten. Die Tante und der Pott waren eins für uns. Wäre sie wirklich einmal ohne erschienen, wir hätten die Welt nicht mehr verstanden.

Erst sehr viel später, als meine Schwester und ich fast erwachsen waren, erzählte uns unsere Großmutter, die die Nichte von Tante Anna war, was es mit diesem Ding auf sich hatte.

Nach dem frühen Tod ihrer beiden Töchter, die der Schwindsucht erlegen waren, hatte die Tante sich verändert. Sie wurde von einer Zwangsneurose geplagt. Mit Argusaugen untersuchte sie tagtäglich mehrmals ihren Urin. Zu dem Zweck musste sie das Gefäß überall mitnehmen. Die Ausscheidungen ihrer Töchter waren bei Ausbruch der Erkrankung nämlich auch nicht in Ordnung gewesen.

Der Hausarzt hatte ihrem einzigen noch lebenden Sohn versichert:„ Du meine Güte, wenn das alles ist, lassen Sie ihrer Mutter um Gotteswillen das Vergnügen und den Pott in Gottesnamen mit sich herumschleppen. Das tat sie dann auch bis zu ihrem Lebensende. Ob mit oder ohne Topf, unsere Tante Anna mit ihren tausend Geschichten war und ist die tollste Frau für uns geblieben.

Eigentlich muss es für sie total vertane Zeit gewesen sein, denke ich so manches Mal.

Vielleicht aber doch nicht, was hätte ich sonst heute meinen Enkeln zu erzählen?

Die Nymphomanin

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