Читать книгу Die Nymphomanin - Heidi Hollmann - Страница 8
Das Blatt
ОглавлениеIch verspürte einen Ruck und streckte mich. Mir gegenüber öffnete sich eine Tür. Ein älteres Paar trat heraus. Die Frau hielt schnuppernd ihre Nase in den Wind. „Es wird
endlich Frühling“ sagte sie, „riechst du es auch?“ Anstatt ihre Frage zu beantworten, sagte der Mann unwillig: „ Du weißt doch, dass meine Nase morgens immer verstopft ist. Aber dafür sehe ich etwas, was dir entgangen ist.“ Er zeigte auf mich und sagte bedeutungsvoll:“ Das erste Blatt!“
„Ich sehe keins, behauptete sie.“ Der Mann nörgelte: „Wozu trägst du eine Brille, wenn du doch nichts siehst, bist und bleibst eine Blindschleiche!“ Die Frau, an derartige Vergleiche gewöhnt, trug es mit Fassung. Sie ging auf den einzigen Baum des kleinen Grundstücks zu, kniff die Augen zusammen. „Der ist genau noch so kahl, wie gestern,“ stellte sie fest. Er zupfte an ihrem Ärmel und brachte sie in die richtige Position. „Ach, tatsächlich!“ Die Frau sah zu mir auf und bemerkte: „Ein schönes Grün.“ Grün war ich und das aller erste Blatt! Die beiden gingen ins Haus. Sie nahmen an einem runden Tisch Platz. Der Mann saß mit dem Rücken zu mir, die Frau schaute in den Garten. Ich hatte den Eindruck, sie sähe nur mich an. Nach einer Weile öffnete sich die Tür erneut. Eine kleine, dicke, schwarzweiße Katze sauste auf den Kirschbaum zu, der mir Heimat bot. Sie kratzte mächtig an dessen Stamm und schärfte ihre Krallen. Ich hörte ein Stöhnen und Seufzen. „Nachher kommt auch noch der andere Flegel,“ klagte mein armer Baum, als auch schon ein getigerter Kater hochbeinig und hochnäsig angetrabt kam. Er fauchte die Schwarzweiße kurz an, die sich sofort wieder ins Haus begab und fing ebenfalls an, dem Stamm zuzusetzen. Wieder hörte ich Schmerzenslaute und war froh, als das Tier von meinem Freund abließ. Die Sonne drang durch die Wolkendecke. Mir wurde wohlig warm. Ich döste stundenlang vor mich hin. Langsam ging der Tag zur Neige. Es wurde wieder kühler. Ich rollte mich zusammen und schlief ein. Am nächsten Morgen war ich überrascht. Ich erblickte viele meinesgleichen an den Ästen und Zweigen, so dass mir der Blick versperrt war. Ich reckte mich und kurz darauf öffnete sich die Tür. Wieder traten die beiden Leute auf die Terrasse. „Sieh mal, was über Nacht aus unserem kahlen Baum geworden ist,“ rief die Frau und strahlte vor Freude. Auch mein Gemüt war voller Sonne. Ich war nicht mehr allein! Meine Schwestern und Brüder ließen sich, gleich mir, vom Frühlingswind verwöhnen. Über mir flatterte etwas. Eine dicke Taube ließ sich nieder. Ich konnte ihre ovale Unterseite mit einer kleinen Öffnung sehen. Zu meinem Erstaunen vergrößerte sich das Loch und ehe ich mich versah, plumpste eine weißliche, zähe Flüssigkeit auf mich herab.
Es brannte höllisch. Eine aufkommende Windboe brachte mir Kühlung. Kurz darauf begann es zu regnen. Der Taubenkot wurde von meiner Oberseite abgespült. Die beiden Katzen hatten sich noch nicht gezeigt, mit ihnen war heute auch nicht mehr zu rechnen. Es regnete nämlich den ganzen langen Tag über. Ich fröstelte. Meine Kameraden und ich kuschelten uns aneinander. Endlich zeigte sich gegen Abend die Sonne. Sie schenkte uns ein wenig Zuversicht. Ich schaute sehnsüchtig in das Zimmer, in dem der Mann mit seiner Frau beim Abendessen saß. Das Feuer im Kamin brannte und ich hatte das Gefühl, die Glut würde auch bis zu mir dringen. „Wie gut manche es doch haben,“ dachte ich und wurde von Müdigkeit übermannt. Die Tage vergingen. Aus meinem hellen Grün wurde ein dunkles. Ich sah aber immer noch gut aus. Wind und Wetter konnten mir nichts anhaben. Meine Oberfläche glänzte und auch die Tauben hielten sich zurück. Ab und an, landete eine Meise auf unserer Herberge und brachte uns ein Ständchen. Von Tag zu Tag wurde es wärmer und auch die Nächte wurden milder. Es war ein wunderbares Leben, es hätte ewig so bleiben können.
Aber, die Tage wurden kürzer, die Nächte dafür länger und die Kälte setzte mir zu. Auch sah ich mit Befremden, wie sich mein schönes sattes Grün veränderte. Ich wurde teils gelb, teils braun und hatte das Gefühl, der Zweig wolle mich nicht mehr halten. Ich klammerte mich an ihm fest. Ein Windstoß ließ mich zu Boden segeln. Als erstes Blatt landete ich auf dem Rasen. Meine Freunde hingen mehr oder weniger fest an den Ästen. Sie hatten sich ebenfalls verfärbt und würden mir sehr bald hier unten Gesellschaft leisten. Ich war nun den Katzen ausgeliefert, die nach Gutdünken einfach über mich hinwegstolzierten. Das war sehr unangenehm, aber was sollte ich machen? Meine missliche Lage gestattete mir noch nicht einmal mehr den Fensterblick. Ich fühlte mich einsam und die Ankunft weiterer Schicksalsgenossen brachten mir keinen Trost. Wir würden alle dem Verderben preisgegeben sein, bedauerte ich, als der Wind sich aufblähte und mich empor wirbelte. Ich flog über das Dach auf die dicht befahrene Straße. Ein Auto erwischte mich und presste das letzte bisschen Saft aus mir heraus. Tagelang blieb ich in der Gosse liegen. Meine Substanz schwand mehr und mehr. Zuletzt war ich nur noch ein Hauch meiner Selbst. „Seht mal, welch seltenes Blatt,“ vernahm ich. „Es sieht wie eine Filigranarbeit aus. Das haben Wind und Wetter vollbracht,“ sagte die junge Lehrerin und zeigte mich ihren Schülern. Sie nahm mich mit zu sich nach Hause. Vorsichtig legte sie mich zwischen zwei Buchseiten., wobei ich voller Dankbarkeit dachte: „ Wie gut hat es das Schicksal es doch mit dir gemeint.“