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Der Sommer vierundsiebzig (2)

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Die ersten Tage auf dem Weingut

HP muss aber wegen der Unterbrechung durch Julia erst einmal nachdenken, wo er gerade stehen geblieben ist bei seiner Erzählung von dem, was er damals, im Sommer 1974 erlebt hat und setzt kurzerhand am nächsten Morgen wieder an.

Am nächsten Morgen, alle saßen schon in der großen Küche, konnte es sich das hübsche Mädchen nicht verkneifen, mich zu sticheln. Sie wollte auch von mir wissen, wo ich den letzten Abend geblieben war.

Oder ob ich mich etwa nicht getraut hätte, zu ihnen zu kommen?

Ich saß ihr genau gegenüber, und nachdem sie mir diese Frage gestellt hatte hob ich ein wenig den Kopf, da ich eigentlich meinen Blick mehr auf den Tisch gerichtet hatte, des Essens wegen. Die Winzerfamilie hatte dort Dinge aufgetischt, die ich von Zuhause nicht kannte, aber sehr lecker aussahen.

Ich sah dabei in ihre funkelnden grünen Augen.

Was sollte ich jetzt sagen?, war mir da in den Sinn gekommen. Schließlich wollte ich allen gegenüber und vor allem nicht ihr gegenüber wie ein Muttersöhnchen aussehen oder mich womöglich noch lächerlich machen. Und je länger ich nachdachte und dem hübschen Mädchen dabei in die Augen schaute, umso tiefer versank ich in ihr und diesen grünen Augen.

Hallo, meinte das hübsche Mädchen damals zu mir und wollte wissen, ob ich auch reden könnte, anstatt nur zu starren.

In dem Moment riss es mich wohl wieder aus meiner Verträumtheit heraus und ich erzählte dann, dass ich noch mit Herrn Nicolas bis um acht Uhr gesprochen hatte und dass wir auch noch draußen in den Weinbergen gewesen wären.

Dann sagte ich noch zu ihr, dass es mir zu spät erschien, um noch nachzukommen.

Ich war damals noch etwas schüchtern – wie ich nun einmal damals war – und wurde wohl auch etwas verlegen dabei.

Ich hoffte nur, dass ich nicht auch noch rot werden würde, denn das Gefühl hatte ich anfangs immer, wenn sie mich ansprach …“

Julia unterbricht HP in dem Moment einfach und meint, dass das auch heute noch so mit seiner Schüchternheit sei, wenn er sich in der Gegenwart von jungen, hübschen Frauen aufhielte, und lacht dabei.

Sie entschuldigt sich aber auch im selben Augenblick bei ihm, da sie ihn unterbrochen hat und will, dass er weitererzählt.

HP schüttelt mit dem Kopf und wirft Julia einen strafenden Blick zu, obwohl er innerlich zugeben muss, dass er in Anwesenheit von Yvonne schon das Gefühl hat, dass seine Stimme versagen würde, wenn sie ihn direkt anspräche, um sich mit ihm zu unterhalten.

Doch HP versucht, das einfach zu übergehen und erzählt so weiter, als ob das, was Julia zuvor gesagt hat, nicht den Tatsachen entspräche.

Danach versuchte ich, mich wieder angestrengt auf das Frühstück zu konzentrieren und nicht mehr auf das hübsche Mädchen, was mir allerdings sehr schwerfiel.

Denn je länger ich in ihrer Nähe war, umso mehr spürte ich etwas, was ich bis dahin noch nicht gekannt hatte … und es auch bis heute nie mehr gespürt habe.

Mir ist dabei irgendwie komisch geworden, was ich allerdings damals nicht als unangenehm empfand, sondern eher als angenehm, obwohl ich nicht gewusst hatte, was dieses Gefühl verursachte. Zumindest am Anfang nicht.“

HP lächelt, als er das sagt. In seinem Gesicht kann man erkennen, dass ihm die Erinnerung heute noch angenehm ist.

Nun gut, ich hatte das erst später verstanden, und dann hatte ich damit langsam umgehen können.

Alle waren fertig mit dem Essen als der Winzer, Herr Nicolas, in den Raum trat und die Arbeiten für den Tag verteilte.

Es war zwar Sonntag, aber dennoch mussten wir an diesem Tag unseren Arbeitsbereich kennenlernen und somit war es für uns der erste Arbeitstag.

Das hübsche Mädchen hatte es am einfachsten getroffen. Die hatte die Aufgabe, in der Küche mitzuhelfen und später das Essen, welches für die Leute in den Weinbergen zubereitet wurde, dorthin zu bringen.

Dafür durfte sie den R4 benutzen, den der Winzer sich speziell für Transporte aller Art angeschafft hatte.

Es war ein kleiner Wagen, der sehr robust und belastbar war.

Das hübsche Mädchen freute sich, denn das bedeutete für sie, dass sie nicht die üblichen fünfhundert Franc in der Zeit während der Ferienarbeit bekam, sondern dreihundert Franc mehr.

Dadurch kam sie ihrem Ziel, sich ein kleines, gebrauchtes Auto zu kaufen für ihre Berufszeit, die sie im Oktober beginnen wollte, einen kleinen Schritt näher, wie sie mir später einmal erzählte.

Und ihre Arbeit – kochen und fahren – empfand sie nicht als schwer, hatte ich später auch einmal von ihr erzählt bekommen. Nur weiß ich nicht mehr, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Situation das gewesen ist.

Wir anderen wurden für die Arbeiten im Weinberg eingeteilt, die wir uns an diesem Sonntag ansehen mussten, damit wir ab Montag auch wussten, welche Arbeit zu machen war und wo.

Wir würden zwar an dem ersten Tag noch unter Aufsicht arbeiten, ab dem zweiten Tag mussten wir dann aber selbstständig diese Arbeiten durchführen, erklärte Herr Nicolas uns damals.

Und dann kam ich.

Der Winzer meinte, ich müsste zwar auch in den Weinbergen arbeiten, aber deswegen hätte er gestern noch mit mir gesprochen.

Ihm war nämlich erzählt worden, dass ich aus Deutschland von einem Bauernhof käme und folglich auch Traktor fahren könnte.

Und da er zwei kleine Traktoren hatte, die durch die Weinberge fahren mussten, hatte er am Vortag mit mir gesprochen und getestet, ob ich das hinbekommen würde, damit er sich gelegentlich um andere Dinge kümmern konnte.

Somit lag meine Aufgabe darin, zwischen den Weinbergen und dem Weingut mit dem Traktor hin und herzufahren und alles heranzuschaffen und wegzufahren, was gebraucht wurde oder wieder weggebracht werden musste.

Das war keine leichte Arbeit, denn ich musste dafür immer wieder von dem Traktor absteigen und einige Dinge ab- und auch wieder aufladen.

Das hübsche Mädchen staunte nicht schlecht, weil auch ich dadurch vermutlich mehr als nur die fünfhundert Franc bekommen würde.

Alle schauten mich ein wenig verdutzt an, da sie nicht geahnt hatten, dass ich so etwas konnte.

Louis wollte daraufhin wissen, warum ich nicht zu Hause auf dem Hof arbeitete, sondern hierhergekommen wäre, wo doch bei uns auf dem Hof mit Sicherheit genug Arbeit anstehen würde.

Ich erklärte ihnen, dass ich zum ersten Mal weg von zu Hause war. Warum meine Mutter und mein Vater das erlaubt hatten, konnte damals auch nicht erklären. Ich wusste nur, dass es irgendein Ding war das Peter, mein Onkel, mit meinen Eltern geklummelt hatte.

Die fragenden Gesichter der anderen ließen mich vor Scham fast rot anlaufen, denn ich hatte während des Frühstücks mitbekommen, dass jeder von ihnen in den Ferien irgendwohin gefahren war.

Ich erklärte ihnen auch noch, dass ich nicht wusste, was meine Eltern und Peter damit bezwecken wollten, da nämlich auf dem Hof wirklich genug Arbeit anlag, wie in jedem Jahr.

Normalerweise musste ich auch immer in den Ferien auf dem Hof mitarbeiten, nur dieses Jahr eben nicht.

Nun ja, schaden würde es mir bestimmt nicht, sagte das hübsche Mädchen daraufhin zu allen, und mit viel Glück würde ich auch noch ein wenig Französisch lernen.

Nachdem das hübsche Mädchen das gesagt hatte, sahen mich alle an und lachten dabei laut, sodass ich es überhaupt nicht deuten konnte.

Der Winzer nannte den Namen des hübschen Mädchens zweimal und meinte dabei kopfschüttelnd, sie solle keinen Blödsinn machen. Alle anderen fingen direkt wieder an zu lachen.

Selbst Madame Leonie musste darüber schmunzeln.

Mich hatte das auf jeden Fall zu dem Zeitpunkt total verunsichert, da ich nicht wusste, was es da zu lachen gab. Ich war halt damals einfach noch zu unerfahren …“

HP kann man in dem Moment genau ansehen, dass er weiß, worüber die anderen damals gelacht haben. Da er, was Mädchen anbelangte noch sehr unerfahren war, kann er es sich heute mit einem Schmunzeln wieder in seine Erinnerung rufen.

Yvonne meint, dass man als Jugendlicher noch so schön naiv gewesen wäre und alles etwas einfacher gewesen wäre als heute, wobei sie HP wieder mit so einem Lächeln in ihrem Gesicht ansieht, wie es auch damals das hübsche Mädchen getan hatte. Es ruft in ihm ein schönes, aber auch unangenehmes Gefühl hervor.

Alle bemerken dabei, dass es Yvonne schon etwas Spaß macht, HP zu provozieren und ihn dabei verlegen werden zu lassen.

Julia hat mit ihrer Bemerkung recht behalten, dass HP noch immer Frauen gegenüber sehr schüchtern ist.

HP versucht, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und erzählt einfach weiter.

Ich weiß auch noch, dass sie zu mir sagten, wie merkwürdig sie es fänden, dass ich meinen Onkel nur mit dem Vornamen ansprechen würde. Und ich meine, ihnen erklärt zu haben, dass das ein Wunsch von ihm gewesen wäre, da er der Meinung war, dass ich erwachsen genug wäre, um diesen Onkel-Quatsch zu lassen.

Ich glaube, es hat ihr gefallen, dass Peter mich schon als Erwachsenen betrachtete.

Danach wurden wir alle von dem Winzer aufgefordert, erst in den R4 einzusteigen, damit das hübsche Mädchen uns in die Weinberge bringen konnte.

Ich sollte allerdings mit dem Winzer auf dem Traktor mitfahren.

Die Fahrt in die Weinberge dauerte lange, da das hübsche Mädchen mit dem R4 immer hinter dem Traktor herfahren musste, und dieser war nicht wirklich der Schnellste.

An der Stelle angekommen, an der alle am nächsten Morgen anfangen mussten, erklärte der Winzer jedem einzelnen, was seine Aufgaben waren, was hier zu tun war und wie man es machte.

Er meinte zwar, man könnte es auch mit Sicherheit anders machen, aber man wüsste nicht, ob das genauso effektiv wäre. Also würde es so gemacht, wie er es vorgab.

Selbst das hübsche Mädchen, die eigentlich nicht in den Weinbergen arbeiten sollte, musste sich das anhören, aber warum wusste keiner von uns.

Vermutlich nur, weil sie den R4 fuhr und somit nicht zurückfahren konnte, da sie alle wieder zurückbringen musste nach der Einweisung.

Es verging fast der halbe Tag, bis wir alle wieder zurück am Weingut waren und den Rest des Tages freibekamen.

Wir hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als ein paar Sachen für das Rhône-Ufer einzupacken, um uns dort für den Rest des Tages aufzuhalten. Soweit ich mich erinnern kann, war es ein sehr schöner und sonniger Tag.

Eines allerdings weiß ich noch genau: Wir konnten uns die Fahrräder, die auf dem Weingut standen, ausleihen. Die waren schon sehr alt, taten aber noch immer ihren Dienst.

Sie waren natürlich kein Vergleich zu dem Rad, das ich damals selber besaß, aber in Vienne bei dem Bekannten von Peter hatte stehen lassen.

Ich kann mich allerdings gut daran erinnern, dass Louis und Fabrice sich immer nur neben das hübsche Mädchen ans Rhône-Ufer gesetzt hatten, wobei beide versuchten, sie für sich zu gewinnen, was ihr wohl überhaupt nicht gefiel.

Ich weiß auch noch, dass ich mich am ersten Tag viel mit Amelie und Pauline unterhalten habe und wir uns über die Jungs und das hübsche Mädchen ein wenig amüsiert haben. Das ist ihr natürlich nicht entgangen, und sie schien nicht wirklich angetan davon zu sein.

Sie hatte sowohl mir als auch Amelie und Pauline des Öfteren einen strafenden Blick zugeworfen, da sie sehr angenervt von den Jungs war und es ihr überhaupt nicht gefiel, dass wir darüber lästerten.

An dem Abend waren wir dann alle noch einmal in dem kleinen Bistro im Ort. Das hübsche Mädchen hatte zu Amelie und Pauline gesagt, dass sie sich mal neben sie setzen sollten, was diese dann auch taten, um sie von Louis und Fabrice etwas abzuschirmen.

Wir blieben dort bis kurz vor neun Uhr, und ich habe ihr wieder genau gegenübergesessen, so wie auch an dem großen Küchentisch auf dem Weingut.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich zu vermeiden versuchte, in ihre grünen Augen zu sehen.

Eigentlich versuchte ich, sie überhaupt nicht anzusehen, da ich immer der Meinung war, dass ich dabei rot anlaufen würde.

Aber immer, wenn ich sie eine Zeit lang nicht angesehen hatte, trat sie mir gegen mein Schienbein und lächelte mich dabei komisch an.

Die anderen bekamen das an dem Tisch überhaupt nicht mit, glaube ich zumindest.

Jedenfalls hatte ich am nächsten Morgen deswegen einige blaue Flecken am Schienbein, und die taten richtig weh.

Als ich sie darauf ansprach, meinte sie zu mir, dass ich daran selbst schuld wäre und lachte dabei noch.

Und daran kann ich mich noch ganz genau erinnern.“

Danach unterbricht HP die Erzählung wieder, da die Kinder von der „Liberté“ herübergekommen sind.

Sie wollen noch etwas zum Naschen haben und auch etwas trinken.

Der Schicksals Sommer

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