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Verpasstes Glück

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Als ich Greta nach all den Jahren wiedersah, hörte mein Herz auf zu schlagen. Angestrengt schnappte ich nach Luft und versuchte, es zum Weiterarbeiten zu animieren und mir gleichzeitig nichts anmerken zu lassen.

Sie stand am anderen Ende des Saales, mit dem Rücken zu mir. Doch obwohl wir inzwischen alt waren, erkannte ich sie sofort an ihrer geraden Haltung wieder. Schon immer hatte sie etwas Stolzes an sich gehabt.

All die Jahre war ich nie zu unseren Klassentreffen gegangen, weil ich Angst vor dieser Begegnung hatte. Nicht direkt vor Greta, sondern vor dem, was es mit mir machen würde.


Vielleicht hatten mir meine Augen einen Streich gespielt, und sie war doch nicht hier?

Ich bewegte mich langsam auf die kleine Bar zu, so konnte ich mich ihr von der Seite nähern. Als ich ihr Profil sah, wäre ich am liebsten wieder umgedreht und weggelaufen. Stattdessen ließ ich mir einen Cognac einschenken. Mit dem Glas in der Hand drehte ich mich in ihre Richtung zurück, doch sie war weg. Vielleicht hatten mir meine Augen einen Streich gespielt, und sie war doch nicht hier? Ich nahm einen großen Schluck und spürte, wie das Brennen des Alkohols meine widerstreitenden Gefühle für ein paar Sekunden in den Hintergrund rückte, als würde ich durch einen Vorhang treten.

Verstohlen sah ich mich um, aber ich konnte sie nirgends entdecken. Meine Augen streiften die anderen Gesichter. Ab und an kamen dabei winzige Erinnerungsfetzen hoch, doch wie Federn im Wind torkelten sie langsam zu Boden, und ich machte mir auch nicht die Mühe, sie näher zu betrachten.

Unsere gemeinsame Schulzeit lag mehr als fünfzig Jahre zurück, dafür waren erstaunlich viele Leute gekommen. Ich konnte mich an die Einladung schon gar nicht mehr erinnern. Als ich sie öffnete, wusste ich sofort, dass ich diesmal hingehen wollte.

Mein Knie fing an zu schmerzen, und ich hielt Ausschau nach einem Sitzplatz. Ich schlenderte auf die kleine Terrasse, die mir erst jetzt auffiel. Es war wunderschön dort draußen. Die Terrasse war kreisrund und von einer kleinen Mauer umgeben, auf der in regelmäßigen Abständen dunkelblaue Blumentöpfe standen, die nur so überquollen von leuchtenden Knospen. Ein intensiver Duft erfüllte die Luft und war schon fast ein wenig zu stark. Genau in der Mitte der Terrasse führte eine kleine Treppe in den Garten hinab, und ich setzte mich auf die oberste Stufe.

Ich nahm einen kleinen Schluck von dem Cognac und genoss die Wärme, mit der er meinen Magen ausfüllte. Dunkel lag der Garten zu meinen Füßen und erinnerte mich an den kleinen Park, in dem wir uns als Jugendliche oft getroffen hatten. Wir waren eine eingeschworene Sechsergruppe gewesen, zwei Jungs und vier Mädchen, die viele Jahre lang gemeinsam durch dick und dünn gingen, bis das Leben uns trennte.

Hier, unter dem leuchtenden Sternenhimmel, mit den Geräuschen des Festes in meinem Rücken, holte ich mir eine der liebsten Szenen ins Gedächtnis, an die ich an jedem einzelnen Tag meines Lebens gedacht hatte. Es war ein Beginn, der das Ende schon eng umschlungen bei sich trug.

Wir saßen alle zusammen in dem kleinen Park unter einem schattigen Baum, Greta hatte wie immer ihren Zeichenblock dabei und kritzelte vor sich hin. Unbemerkt hatte sie eine Skizze von mir gemacht und hielt sie mir plötzlich unter die Nase. »Sieh mal«, rief sie und sah mich auffordernd an. Erstaunt blickte ich auf das kleine Stück Papier sowie eine Skizze, die so rein gar nichts mit mir zu tun haben konnte, denn so hübsch war ich einfach nicht.

»Das ist wirklich schön, Greta, aber wer ist das denn?«, fragte ich, während ich die feinen Linien betrachtete.

»Du Dummerchen«, sagte sie mit zärtlicher Stimme. »Das bist doch ganz eindeutig du!« Während sie das sagte, strich sie mir leicht über die Wange, und diese sanfte Berührung hinterließ einen bleibenden Abdruck auf meinem Gesicht.


Wie elektrisiert saß ich da und konnte mich nicht mehr rühren.

Wie elektrisiert saß ich da und konnte mich nicht mehr rühren. Das Einzige, woran ich dachte, war, dass ich ihre Hand noch einmal genau so spüren wollte. Einer der anderen nahm mir den Block weg, nun wollten alle das Bild betrachten. Ich hörte nicht, was sie darüber sagten, ihr Gelächter und Gemurmel verschwand in einem Ballon, der für ein paar Atemzüge den Rest der Welt von uns fernhielt. Ich sah Greta in die Augen und entdeckte dort etwas, was ich mir bis dahin nur heimlich zu wünschen gewagt hatte.

Als einer der anderen Greta etwas fragte, sah sie von mir weg, um zu antworten, und es fühlte sich an, als wäre eine Verbindungsschnur zerrissen. Ich hätte am liebsten alle fortgeschickt, um ganz sicherzugehen, dass ich mir diesen Blick nicht nur eingebildet hatte, aber das ging natürlich nicht. Sie lachten und scherzten, und ich bekam das Bild mit Kommentaren der anderen in die Hand gedrückt, die ich nur am Rand mitbekam. Angestrengt versuchte ich, noch einmal Gretas Blick einzufangen, doch es gelang mir nicht mehr, vielleicht wich sie mir auch aus.

Ich erschrak heftig, als plötzlich eine Stimme ganz nah hinter mir erklang, denn ich hatte nicht bemerkt, dass jemand nach draußen gekommen war.

»Na, betrachtest du immer noch so gern den Nachthimmel?«

Ich erkannte Gretas Stimme sofort. Vor Schreck ließ ich das Glas fallen, und es polterte mit lautem Klirren die Stufen hinab.

»Was war da drin?«, fragte Greta.

»Cognac«, antwortete ich mit rauer Stimme, nicht fähig, auch nur ein einziges Wort mehr herauszubringen, oder mich wenigstens nach ihr umzudrehen.

»Ich hole dir einen neuen«, erwiderte sie und ging hinein.

Völlig aufgelöst saß ich da und wäre am liebsten weggelaufen. Ich dachte, dass ich zumindest die Scherben einsammeln sollte, damit später niemand hineintreten würde, aber ich war wie gelähmt. Erneut hörte mein Herz auf zu schlagen.

Krampfhaft versuchte ich, mir irgendetwas zurechtzulegen, was ich gleich sagen könnte, um mich ein wenig zu beruhigen. Aber mir fiel nichts ein, und vermutlich würde ich sowieso gleich tot umfallen, wenn mein altes Herz nicht bald seine Arbeit wieder aufnehmen würde.

»Hier«, sagte Greta und ließ sich neben mir nieder.

Schweigend nahm ich den Cognac entgegen und trank einen großen Schluck. Greta hatte ein Glas mit einem rötlichen Getränk in der Hand, an dem sie ab und an nippte. Lange schwiegen wir beide, und es gab nur noch uns und die Zeit, die wir niemals zusammen hatten. Als würde diese verlorene Zeit sich wie eine dicke Decke über alles legen, wurden die Geräusche, die von drinnen kamen, immer leiser, der Duft der Pflanzen schien weniger zu werden, und ich konnte den sanften Wind, der die Bäume vor uns zum Rauschen brachte, kaum noch auf meinen Armen wahrnehmen.

Irgendwann spürte ich etwas an meiner Hand. Es waren Gretas Finger, die sich mit meinen verschränkten.

»Ich bin froh, dass du hier bist«, sagte Greta nach langer Zeit.

»Ich auch«, antwortete ich und fand meine Stimme langsam wieder. Da war so unendlich viel, was es zu sagen gab, dass es mir unmöglich schien, überhaupt irgendwo anzufangen. All die Jahre war ich mir nie sicher gewesen, ob Greta dasselbe empfunden hatte wie ich. Und plötzlich, als wir hier still nebeneinandersaßen, war es völlig klar.

»Ich hatte ein schönes Leben, habe zwei tolle Kinder und kann meinen Lebensabend gesund genießen. Doch ich habe niemals aufgehört, darüber nachzudenken, warum wir damals nicht mutig genug waren. Jetzt, all die Jahre später, muss ich dich nicht fragen, ob du dasselbe gefühlt hast wie ich, denn ich spüre es. Und jetzt, wo ich es so deutlich spüre, frage ich mich, wie wir nur so dumm sein konnten«, sagte Greta leise.

Ich blickte auf unsere verschränkten Hände und wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.


»Ich war nicht unglücklich ohne dich, aber du wärst mein Glück gewesen.«

»Weißt du, Ingrid«, sprach Greta weiter. »Ich war nicht unglücklich ohne dich, aber du wärst mein Glück gewesen.«

Still liefen Tränen aus meinen Augen und tropften in mein leeres Glas. Mein ganzer Kopf war so voller aufgestauter Worte, dass mir schwindlig wurde. Ich wühlte einen Moment in meiner Handtasche herum, bis ich meinen Terminkalender fand. Zwischen den ersten beiden Seiten zog ich das Bild heraus und hielt es Greta hin. Die Kante, an der es in der Mitte geknickt war, war schon ganz brüchig und das Papier vergilbt. Aber ihre fein gezeichneten Linien konnte man noch gut erkennen, obwohl sie in all den Jahren stark verblasst waren.

»Du hast es immer noch!«, rief sie leise aus.

»Natürlich.«

Plötzlich flog hinter uns eine Tür auf, und Stimmen durchschnitten die Stille.

»Lass uns gehen«, sagte Greta und half mir beim Aufstehen.

Gemeinsam fuhren wir in ihr Hotel, und als sich die Morgendämmerung aufdringlich durch die Schlitze der Vorhänge drängelte, lagen wir immer noch wach. Es war unmöglich, in einer Nacht ein verpasstes Leben nachzuholen, und der Boden unter uns war zu wacklig, um fest darauf stehen zu können.

Ich blickte noch lange in die Richtung, in die sie später davonfuhr. Es gibt Menschen, die nehmen ein wenig vom Tageslicht mit, wenn sie gehen.

Schlachtfeld Klassentreffen

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