Читать книгу Schlachtfeld Klassentreffen - Heike Abidi - Страница 6
Alles richtig gemacht
Оглавление»Weißte? So ein Klassentreffen, das ist nix für mich. Wie lange ist das schon her? 15 Jahre? All die runzligen Gesichter von früher. Die mir dann erzählen, wie toll sie sind. Oh, ich muss eigentlich meinen Pool reinigen. Hach, da hat mir der Mechaniker einen Kratzer in meinen Bonzenbenz gemacht. Nee, nee, das kann nicht dein Ernst sein.« Mein Kumpel Paul, genannt Putze, lehnte sich selbstgefällig zurück. So als wollte er mir mit dieser Geste klarmachen, dass er hierhergehörte. Auf diesen Barhocker. Und nirgendwohin sonst. Erst recht nicht auf ein Klassentreffen.
»Ach komm«, entgegnete ich locker, »du machst da wieder ein Drama draus.« So einfach konnte ich meinen Kumpel nicht davonkommen lassen. »Putze, jetzt hör doch mal. Da gehen alle hin«, setzte ich noch mal an. »Du kennst jeden von früher. Das wird sicher lustig.«
»Ey, nee. Ich hab echt keinen Nerv auf diese Streber und Tafelputzer.«
»Sogar der Mark kommt«, sagte ich betont langsam.
Eine Sekunde lang glaubte ich, er würde vor Schreck vom Hocker fallen.
Putze orderte ein neues Bier, dann bedachte er mich mit einem finsteren Blick. »Der Dachberger.« Seit ich Putze kannte – und das war ziemlich lange –, gab es diesen Kampf zwischen den beiden. Ehrlich gesagt, konnte ich mir Putze als Kind gar nicht anders vorstellen. Wie er mit laufender Nase und einer Abschürfung im Gesicht im Papierkorb saß. Wohin ihn der deutlich größere und stärkere Mark mal wieder gesetzt hatte.
»Also gut, ich komme mit«, erwiderte Putze irgendwann, als er sein frisches Bier endlich bekommen hatte, »aber auf deine Verantwortung.«
Ich jubelte innerlich. Ich hätte niemals gedacht, dass ich meinen phlegmatischen Freund so weit bringen würde.
»Und ich habe eine Bedingung«, ergänzte Putze seine Zusage.
»Klar«, antwortete ich und sah mich schon mal nach der Bedienung um, damit ich die nächste Runde ordern konnte.
»Ich will da nicht ich sein.« Verwirrt sah ich meinen Kumpel an, während die Bedienung an uns vorüberging. »Ich will da nicht als Putze hin. Sondern als Herr Zermiuk.«
»Okay«, antwortete ich zögernd, um meinem Gehirn Zeit für ein paar Updates zu geben. »Das machen wir«, erwiderte ich, als der Groschen endlich fiel. »Eine Krawatte und ein fettes Sakko dazu. Ist doch kein Problem.«
Dann bestellte ich noch zwei Bier. Nachdenklich prostete ich Putze zu. Ein flaues Gefühl in meiner Magengegend, das nicht auf meinen Alkoholkonsum zurückzuführen war, ließ mich daran zweifeln, ob das mit dem Klassentreffen wirklich eine so gute Idee gewesen war.
Putze wollte sich im Angesicht seines erfolgsverwöhnten Intimfeindes Mark Dachberger keine Blöße geben. Vater Anwalt, Mutter Regionalpolitikerin. Jugendvorstand im örtlichen Tennisclub. Schwarm aller Mädchen. Eben ein echter Sonnyboy.
Ja, Mark war alles, was Putze nicht war. Und umgekehrt.
»Jetzt guck doch mal. Schaut doch geil aus, oder?«, präsentierte er mir sein Outfit für das Klassentreffen.
»Ich weiß nicht«, murmelte ich vorsichtig. »Ist es nicht einen Ticken zu blau?« Insgeheim verlieh ich mir selbst den Breitbandorden des diplomatischen Geschicks unter erschwerten Begleitumständen. Denn Putzes Wahlanzug, ganz in Taubenblau, war nun wirklich keine Augenweide. »Hast du nichts anderes?«
Ein Leinensakko in Rosa hatte ich seit Miami Vice nicht mehr gesehen.
Wortlos zog sich mein Freund hinter die eigenartig schiefen Türen seines Kleiderschranks zurück. Das Warten löste eine kleine Panik in mir aus. Nicht zu Unrecht, erkannte ich, als er sich mir erneut präsentierte. Ein Leinensakko in Rosa hatte ich seit Miami Vice nicht mehr gesehen. Dass Putzes Kopf eine Spiegelbrille zierte, war eigentlich nur die würdige Krönung des Gesamtkonzepts. Don Johnson auf Bockwurst. Aber gut, im Vergleich zum vorherigen Thomas–Kuhn–Anzug war dies eine deutliche Verbesserung. Immerhin.
»Kann sich doch sehen lassen«, urteilte ich. »Aber was dir jetzt noch fehlt, mein Lieber, das ist der richtige Background. Komplett mit Ehefrau und Fake–Kindern. Du wirst ein echter Gewinnertyp.«
»Ernsthaft?«
Ich nickte zuversichtlich. Das würde harte Arbeit, Putze innerhalb von ein paar Tagen vom Homo Kneipiensis zum Manager des Jahres zu machen. Aber ich würde das schon schaffen. Zumindest nahm ich mir das fest vor.
Eine Woche später gingen wir gemeinsam zu unserem Klassentreffen. Natürlich fand es nicht irgendwo statt. Sondern im Restaurant Ackerberg, der exklusivsten Adresse in unserer Region. Ich bemühte mich, für meinen Panda einen Parkplatz weitab der Nobelkarossen zu finden. Unmittelbar hinter einem rostbraunen VW–Bulli mit selbst gemalten Woodstock–Blümchen reihte ich mich unauffällig ein. Es musste ja nicht jeder gleich sehen, dass sich meine Wagenklasse seit dem Abitur kein bisschen vergrößert hatte.
Beschwingt stieg ich aus. »Alles klar, Putze?«
Mein Kumpel zupfte an seinem Anzug herum. »Logo«, gab er gezwungen lachend zurück.
Kurz checkte ich auch mein Outfit. Auf den ersten Blick mochte mein Arbeitsjackett mit den Ellenbogenflicken etwas underdressed wirken. Doch ich wollte mir treu bleiben.
Drinnen angekommen schlug uns ein unbeschreiblicher Dampf entgegen. Es roch nach Menschen und Essen in einer unangenehmen aromatischen Mischung. »Im Nebenzimmer«, sagte Putze in einem Tonfall, der ihn wie einen echten Macher klingen ließ. Die Wände des Raumes waren kunstvoll vertäfelt. Da hingen zahllose Jagdtrophäen und Bilder mit Waidmannsmotiven. Sofort wusste ich, wer dieses Klassentreffen organisiert hatte. Noch ehe er auf uns zukam.
»Der Hubertus Märzbrenner!«, rief Putze mit gespielter Freude und schüttelte dem Begrüßungskomitee in Olivgrün die Hand.
Hubertus stand irgendwie unschlüssig da und sah meinen Kumpel fragend an.
Der lachte schelmisch und erklärte: »Ich bin der Paul.« Und weil es bei unserem Gegenüber noch lange nicht hörbar Klick machte, ergänzte er gönnerhaft: »Paul Zermiuk.«
Der Organisator ähnelte einen Moment lang den glotzenden Rehköpfen an der Wand. Als hätte man ihn gerade abgeschossen. Sein Mund bewegte sich, aber seine Zunge streikte. Da fiel selbst dem Märzbrenner nichts mehr ein. Und das war gut so.
Ein bisschen wie bei den Lateinabfragen anno dazumal. Um ihn zu erlösen, gab ich ihm schnell meine Hand. Und wen wundert’s? Mich erkannte der passionierte Jäger sofort.
»Das ist aber schön, dass ihr hier seid«, stammelte er und führte uns zu den reservierten Tischen.
Putze und ich gingen auf einen Tisch zu, an dem noch zwei Stühle frei waren. Das Gespräch war hier schon in vollem Gange.
»Ich weiß gar nicht, wie ich die Kreuzfahrt in diesem Jahr unterbringen soll«, beklagte eine Frau mittleren Alters, deren Gesicht wohl eher eine Art Testgelände für experimentelle Kosmetika darstellte. Aber wie sie hieß? Keinen Schimmer. Ich fühlte mich ein bisschen wie auf einem Maskenball.
Die Luxusproblemjammerin setzte ihre Tirade unbeirrt fort. »Da sind so viele Gartenpartys und Events. Und überall muss ich hin. Wie soll ich mir da zwei Wochen nehmen, um zu relaxen?«
Zielsicher hatten wir den Angebertisch erwischt. Vielen Dank! Der aufgebrezelten Tussi gegenüber saß ein eher entspannt wirkender Typ mit Wollpullover und runder Brille. »Sorry, Alex, das halte ich für total aso. Wusstest du, dass ein Kreuzfahrtschiff den Energieverbrauch einer Kleinstadt hat?«
Ah, das war hilfreich. Beseelt von einem morbiden Forscherdrang betrachtete ich die Frau, die sich gerade als Alex entpuppt hatte. Selbst mit dieser nicht unwesentlichen Hilfestellung fiel es mir immer noch schwer, in ihr das attraktive Mädchen aus der zweiten Bankreihe wiederzuerkennen. Vielleicht, wenn jemand das Licht ausmachte und ihr eine Tüte über den Kopf zog?
Der John–Lennon–Verschnitt dagegen war sofort identifizierbar. »Hallo Jan«, sagte Putze, als wir uns setzten. Na, jetzt wusste ich wenigstens, wem der VW–Bulli gehörte. Verdutzt sah Öko–Jan uns beide an. Komischerweise tat auch er sich ziemlich schwer, Paul zuzuordnen. »Zermiuk«, offenbarte Putze seine Identität und sorgte am ganzen Tisch für schweigendes Staunen.
»Hast du damals nicht das Gartenhaus des Rektors abgefackelt?«, fragte Alex vorsichtig.
Mein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen, während Putze sie nur fragend ansah. »Also, ich weiß nicht, was du meinst.« Dann bestellte er mittels einer dezenten Geste zwei Bier.
Öko–Jan brauchte ein bisschen länger, bis er seine Fassung wiedererlangte. Kein Wunder, wahrscheinlich hatte er das Trauma bis heute nicht verwunden, das Putze ihm damals in Chemie beschert hatte. Mein Kumpel hatte mittels eines Bunsenbrenners an Jans schulterlangen Locken das Grundprinzip »Wie mache ich Rastalocken?« demonstrieren wollen. Übel riechende Haarreste und ein heulender Junge hatten das Unwissen des übereifrigen Laboranten damals entlarvt. Zumindest waren wir seinerzeit zu der Überzeugung gekommen, dass Putze und der Friseurberuf nicht wirklich kompatibel waren. »Du bist der Putze?«, stotterte der Mann.
»Nö«, sagte der Anzug, der nicht mehr Putze sein wollte. Und streckte seinem ehemaligen Brandopfer die Hand hin. »Ich bin der Paul.«
Und so begann ein äußerst denkwürdiger Abend. Putze fackelte nicht lange und berichtete dem Publikum sogleich von seinen Heldentaten und Eroberungen. Genau so, wie ich es für ihn erdacht hatte.
Ausnahmslos alle interessierten sich für meinen Kumpel Paul. Egal ob Weinverkoster, Kulturschnösel oder Globalisierungsgegner. Es war nicht zu fassen. Keiner, wirklich keiner konnte sich vorstellen, wie aus Paul Zermiuk ein solcher Spitzentyp hatte werden können.
Putze erzählte ungestört aus seinem Leben. Das eigentlich gar nicht seines war. Die Geschichte seines Daseins war meiner professionellen Feder entsprungen. Und ich betete inständig darum, dass er bei seinem Bierkonsum, der im krassen Gegensatz zu seinem Äußeren stand, nichts an seiner Story durcheinanderbrachte.
Auf mich dagegen achtete keiner. Das versetzte mir schon einen kleinen Stich. Denn Putze war ja nur ein vorgetäuschter Business–Kasper. Ich dagegen zumindest ein halbwegs etablierter Journalist – genauer gesagt Stellvertreter des Stellvertreters des Bereichs Regionales bei unserer Zeitung. Na ja, immerhin war er ja so etwas wie meine Erfindung. Da konnte ich dann doch ein bisschen stolz sein. Auf mich. Aber vielleicht war es ja jetzt auch mal an der Zeit, dass Putze einen kleinen Dämpfer bekam?
Während mein schwer getunter Begleiter immer mehr erstunkene Geschichten zum Besten gab, sah ich mich um. Denn ich vermisste jemanden. Mark Dachberger.
Der Feind aus der Kinderzeit konnte den abgehobenen Putze mit Sicherheit ein bisschen abbremsen. Ja, ich musste meinem Kumpel mal einen echten Siegertypen präsentieren.
Doch ich konnte den Dauergewinner im Spiel des Lebens nirgendwo entdecken. Schließlich flüsterte ich der andächtig lauschenden Alex zu: »Sag mal, kommt der Dachberger heute nicht?«
»Der sitzt doch da am Tischende.«
»Der?«, platzte es so laut aus mir heraus, dass ich dafür mehrere böse Blicke erntete. Selbst mein erfundener Macher schüttelte mahnend den Kopf.
Meine Erinnerung zeigte mir den stets sonnengebräunten Sohn aus gutem Hause mit dunklem, dichtem Haar und sportlicher Figur.
Nichts davon konnte ich in der mitleiderregenden Figur erkennen, die am Ende des Tisches saß und sich an einer halbvollen Biertulpe festhielt. Unter seinem staubigen Sakko zeichnete sich ein kaum zu verleugnender Bierbauch ab. Den das peinliche Muscle–Shirt keineswegs kaschieren konnte. Niemand außer mir schien sich für ihn zu interessieren, schon gar nicht Putze.
»Hallo Mark«, begrüßte ich ihn, als ich mich zu ihm setzte.
Selbstredend erkannte er mich sofort. »Wie geht es dir?« Seine Frage klang erstaunlich ehrlich.
Wir unterhielten uns in aller Ruhe, während der Bär um meinen Macherfreund steppte.
Mark, der Angeber von früher, hatte sich nicht nur äußerlich sehr verändert. Mit seinem Traum vom Berufssportler hatte es nicht geklappt. Wegen seiner Knieoperationen. Und weil er eine Familie ernähren musste. Allerdings nicht von Papis Geld, denn das hatte er in den Wind geschlagen. Aber aufgeben, das kam Mark nicht in den Sinn. Im Gegenteil, er wirkte ziemlich zufrieden mit dem, was er hatte. Drei Kinder, ein kleines Häuschen, einen unspektakulären Job. Doch so wie er das erzählte, musste ich meine flapsigen Sprüche einfach stecken lassen. Weil sie peinlich gewesen wären.
Drei Stunden später schlichen Putze und ich uns zu meinem Panda, um die Tarnung des Business–Machers nicht auffliegen zu lassen.
Never ever hatte ich meinen Tresenkumpel so zufrieden gesehen. Umso mehr, nachdem ich ihm ausführlich von Mark berichtet hatte. Also dem Mark von heute.
»Na, das ist vielleicht eine arme Sau«, flüsterte Putze fast ein wenig mitleidig. Und dann, etwas lauter. »Also ehrlich, eigentlich sind die alle ganz nett.«
Ich hätte ihm sagen können, dass sie eigentlich nur nett zu seinem Anzug gewesen waren. Aber das wäre nicht richtig gewesen. Putze hatte das Fest seines Lebens erlebt. Und wir wären keine Freunde, wenn ich ihm das nicht gegönnt hätte. Denn ich hatte heute etwas Wichtiges dazugelernt.
In jedem von uns steckte das Potenzial zu einem Loser.
Selbst nach den langen Knastjahren in der Schule kannten wir die Leute neben uns nicht wirklich. Und selbst wenn, jeder konnte sich ändern. Da konnte einer noch so einen auf wichtig machen und mit Papis BMW vorfahren. In jedem von uns steckte das Potenzial zu einem Loser.
So gesehen hatte ich alles richtig gemacht. Mein Putze auch. Da waren wir uns vollkommen einig. So beschlossen wir, gleich auf dem Heimweg von diesem Nobelfest in unserer Eckkneipe haltzumachen. Und unser Leben gehörig zu begießen.
Nur eines behielt ich schön für mich – den Spruch, mit dem mich Mark vorhin völlig überrumpelt hatte: »Sag mal, deine Artikel in der Schulzeitung waren damals wirklich schlecht. So richtig unfreiwillig komisch. Was machst du heute so beruflich?«
In diesem Augenblick hatte ich mir gewünscht, ich wäre Putze gewesen. Zumindest dieses eine Mal.