Читать книгу Schlachtfeld Klassentreffen - Heike Abidi - Страница 7

Ach, die Kleinen . . .

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Eine kleine Blaumeise pickte beständig gegen die Fensterscheibe meiner Küche. Wie schon etliche Tage zuvor. Ich schenkte mir aus Gewohnheit eine Tasse Nachmittagskaffee ein und setzte mich an meinen Küchentisch. Dabei beobachtete ich die kleine Meise, bis der Postbote klingelte und mich aus meinen Gedanken riss.

Er überreichte mir ein Paket für die Nachbarn. Ich war hier in der Wohngegend sozusagen die Ersatzpoststelle für diejenigen, die nicht zu Hause sein konnten. Heute hatte der nette Mann in der gelben Uniform aber noch etwas in seiner Hand. Einen außergewöhnlichen Umschlag. Burgunderrot mit goldener Schrift. »Einladung zum Klassentreffen«, stand da geschrieben. Jahrgang 1990.

Grübelnd setzte ich mich mit dem Brief in der Hand wieder an den Küchentisch. Die Blaumeise begrüßte mich mit freudigem Balzgesang. Ich schenkte ihr ein kurzes Lächeln, ehe ich mich wieder auf das Schreiben konzentrierte. Ein Klassentreffen mit mir? Das ging doch gar nicht. Als Lehrerin gehörte man schließlich nicht in diese innige Gemeinschaft der Schüler, sondern war lediglich diejenige, die immer vorn stand. Diejenige, die stets versuchte, mit mütterlichem Instinkt und pädagogischer Sichtweise die Kinder schulisch sowie emotional bestmöglich auf ihr weiteres ungewisses Schicksal vorzubereiten. Der Kapitän eines Schiffes.

In Gedanken öffnete ich den Umschlag und zog ein seidiges Papier heraus. Meine Augen flogen von Zeile zu Zeile.

Anlässlich ihres 25. Jubiläums wollte sich die Klasse 4c der Heinrich–Zille–Grundschule treffen. Ich als Klassenlehrerin sollte ihr Ehrengast sein. Ja, die 4c. Es hatte so viele 4c’s in meinem Leben gegeben. Aber die von 1990, die war dann doch sehr speziell gewesen.


16 Mädchen. 12 Jungen. Davon zwei Frederiks.

28 Kinder. 16 Mädchen. 12 Jungen. Davon zwei Frederiks.

Allein der Klang dieses Namens ließ mich schmunzeln. Mein Blick wanderte zu der Unterschrift. Tatsächlich stand dort genau das, was ich vermutet – vielleicht sogar gehofft – hatte. Frederik und Frederik.

Der eine Schriftzug geschwungen, die Buchstaben fast gemalt. Wie kleine Kunstwerke. Der zweite krakelig und verzerrt. Als wäre er in einen furchtbaren Sturm geraten.

»Mist«, pflegte der zweite Frederik immer zu sagen, wenn ich die korrigierten Deutscharbeiten austeilte und er sich mit seinen Händen die Augen zuhielt. Weil er sich nicht traute, seine Note anzuschauen.

Natürlich wusste ich genau, warum er das tat. Es lag an seinem Vater. Ein anerkannter Anwalt mit großer Kanzlei, der die Laufbahn seines Sprösslings bereits minutiös verplant hatte. Vom ABC–Schützen bis hin zum Studium und der darauffolgenden Partnerschaft in der Kanzlei. Für den lebhaften Jungen schien es beinahe unmöglich, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Frederik Nummer eins – oder Rick, wie ihn seine Klassenkameraden getauft hatten – zeigte eher für die Randbereiche des schulischen Lebens Interesse. Da gab es die Kröten im Biotop, den Torschützenkönig im Pausenhoffußball, den schnellsten Fahrradfahrer der Schule. Ja, der Rick hatte sehr viele Talente. Deutsch und Mathe gehörten leider nicht zu den Themen, für die er seine ausreichend vorhandene Energie einzusetzen pflegte. Am Unterricht beteiligte er sich dennoch zur Genüge. Natürlich ohne sich zu melden und mit Beiträgen, die – nun ja – nicht immer passend gewesen sein mochten. Dafür sehr erheiternd.

Ganz anders als sein Banknachbar Fredl. Also Frederik Nummer zwei. Der war hager und nachdenklich. Irgendwie wirkte er immer abwesend, so als schwebte er in einer anderen Welt. Wenn ich ihn ansprach, wusste er jedoch stets die richtige Antwort. Es stellte sich dann ziemlich schnell heraus, dass der Junge überdurchschnittlich begabt war. Nur dass er eben sein Wissen und seine Denkweise nicht jedem mitzuteilen gedachte. Er machte das lieber mit sich aus.

So verschieden sie auch waren, Frederik und Frederik, oder Rick und Fredl – die beiden Jungen schienen unzertrennlich. Im Schatten des Anführers Rick fand auch Fredl seine Rolle in der Klasse. Denn besagter unauffälliger Denker wusste doch immer wieder einen schlauen Hinweis für den Haudrauf. Ein Blick zum Fenster verdeutlichte mir, dass der kleine Vogel in den vergangenen Tagen mein einziger Besuch gewesen war. Abgesehen natürlich von meinen Postgesprächen.

Es war niemals einfach, allein zu sein, wenn man sein ganzes Leben lang Menschen um sich gehabt hatte. Integriert in eine Lehrerfamilie mit unzähligen kleinen quirligen Menschen, deren fröhliche Stimmen und erfrischende Ideen oft im Kontrast standen zur rationalen Welt der Erwachsenen.

Mein Mann ging leider bereits sehr früh von mir, und so kam es, dass ich mein Leben auf das in der Schule ausrichtete. Es ergab sich nie, dass ich eine neue feste Beziehung einging. Und somit blieb ich kinderlos. Dies schmerzte mich nicht sonderlich, hatte ich doch jeden Tag so viele Kinder um mich, denen ich meine Aufmerksamkeit schenken konnte.

Instinktiv dachte ich über die Worte nach, mit denen ich eine höfliche Absage formulieren konnte. Dabei erschien ein hübsches Gesicht in meiner Fantasie. Die Stupsnase übersät mit Sommersprossen. Große blaue Augen, eingerahmt in nussbraune Locken. Paula.

»Ich helfe Ihnen«, hatte sie schnell gerufen, sobald sie Bedarf sah. Von der Suche nach dem Klassenbuch bis hin zum Taschentragen. Widerspruch ließ sie nicht zu. Das Mädchen besaß einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, der über ihr Alter weit hinausging. Leider hatte sie ein bisschen nah ans Wasser gebaut. Und wenn dann mal was nicht so perfekt klappte, wie es sich die Paula vorgestellt hatte, dann gab es einen regelrechten Tränensturm. Ich sah es noch richtig vor mir, wie ihre Mitschüler unisono seufzten und in einer stummen Choreografie die Augen verdrehten, wenn es wieder mal so weit war für Paulas nächsten Ausbruch. Windstärke zwölf mit Sturzregen. Zumindest emotional.

»Soll ich da wirklich hingehen?«, fragte ich halblaut meine kleine Meise. Die sich gerade mächtig anstrengte, ihrem gläsernen Spiegelbild zu imponieren.

Ich sagte mir selbst, dass ich mich ja jetzt noch nicht entscheiden müsse. Zufrieden legte ich den Brief zurück auf den Tisch. Aus purer Verlegenheit stand ich auf, machte mir eine Kanne Pfefferminztee und setzte mich wieder zu meinem Besucher.

Der Duft nach Minze erinnerte mich an die Begebenheit mit dem Kaugummi. Der sich im Haar der kleinen Inge verfangen hatte. Oh, was war das für eine Aufregung gewesen. Damals in der 4c. Weil Paula sich sofort hilfsbereit mit der Schere anbot. Der doppelte Frederik stand ratlos daneben. Der eine, weil der Kaugummi aus seinem Mund stammte. Und der andere, weil er seinen Freund nicht verraten wollte. Weswegen sie die Schuld gemeinsam auf sich nahmen. Das verblüffte dann auch unsere süße Inge. Ein Kaugummi, den beide im Mund gehabt hatten? Bei der Vorstellung vergaß sie vor Ekel glatt jedwede Trauer um ihr gefallenes Haar.


Und da genau lag der schwierigste Teil am Lehrersein. Das Loslassen.

Was wohl aus all diesen Kindern geworden war? Selbstverständlich verfolgte ich die schulische Laufbahn meiner Schüler weiter. Doch mein Fokus richtete sich stets auf neue Schicksale aus. All die Frederiks und Paulas und Inges mussten schließlich ihren eigenen Weg finden. Ohne mich. Und da genau lag der schwierigste Teil am Lehrersein. Das Loslassen. Zumindest empfand ich das so.

Mein Unterbewusstsein registrierte, dass sich etwas verändert hatte. Als ich hochsah, bemerkte ich, dass die kleine Meise verschwunden war. Das Licht der Abenddämmerung hatte sie vertrieben.

Geistesabwesend ging ich in die Küche und richtete mir ein Abendbrot. Da klingelte es Sturm. Sofort huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Denn ich erkannte an der Klingelsprache, wer da draußen vor der Türe stand. Der Nachbarsjunge, Torsten, der das Päckchen für seine Mutter abholen sollte. Ich übergab dem Kind besagten Karton und wollte gerade die Türe schließen, da war es mir, als hörte ich ein helles Kichern im Treppenhaus. Wie das von Thomas Timmert. Oder Tomtim, wie ihn seine Klassenkameraden getauft hatten. Wenn ich ihn nicht ab und zu an den Unterricht erinnerte, dann sah er hinaus und träumte. Anders als Frederik zwei wusste er leider nur selten eine passende Antwort auf meine Zwischenfragen. Böse konnte ich ihm dafür nicht sein. Tomtim wirkte wie ein überdimensionierter Teddybär. Ein unbeholfener Junge mit der Körpermasse eines zierlichen Erwachsenen. Große dunkle Augen und eine wirre Frisur rundeten seine Erscheinung ab. Der Junge ließ sich keinen Tag vermiesen. Mit bemerkenswerter Ruhe und einer schier endlosen Gelassenheit gab er dieses unverwechselbare Kichern von sich. Vor allem, wenn die Frederiks wieder einen ihrer erstklassigen Scherze von sich gaben. Kopfschüttelnd schloss ich meine Eingangstüre und ging zu meinem Abendbrot zurück.

Selbst als ich im Bett lag, wanderten meine Gedanken wieder in die Vergangenheit. Trugen mich fort wie Flügel in eine andere Welt. Als würde sie mich dabei begleiten, erschien plötzlich jemand an meiner Seite und betrachtete mich aus tiefdunklen Augen. Und die erkannte ich sofort. Sie gehörten der reizenden Marlene. Einem sehr liebevollen und doch auch außergewöhnlich burschikosen Mädchen. Sie spielte mit den wildesten Jungs Fußball und kam nicht selten in Gummistiefeln zum Unterricht. Auf meine Nachfrage erklärte sie mir dann, sie müsse ja die Kröten aus dem Teich vor den aufdringlichen Frederiks retten. Mit dem wasserdichten Schuhwerk sei sie jederzeit vorbereitet. Mit solch einer Erklärung pflegte sie mich kurz anzulächeln und sich dann wieder ihren wichtigen Aufgaben zuzuwenden. Ja, diese 4c war tatsächlich eine Klasse für sich gewesen.

Natürlich fühlte ich mich geehrt, ja geradezu geschmeichelt, dass die Kinder, die ja längst keine mehr waren, mich eingeladen hatten. Aber hingehen? Das kam nicht infrage. Sollten die jungen Leute doch mal lieber unter sich bleiben. Mit dieser Überzeugung wurden meine Augen schwer, und ich schlief ein.

Dann kam der Tag des Klassentreffens. Ich hatte keinen Gedanken mehr an die Einladung und die 4c verschwendet. Jedenfalls nicht bewusst.

»Ich gehe nicht«, sagte ich mit einem Blick auf den Kalender, auch wenn die kleinen Gesichter aus meiner Erinnerung im Geiste vor mir erschienen. All die Tomtims, Inges, Paulas und Marlenes. Natürlich auch Rick und Fredl.

Einem Impuls folgend betrachtete ich die alten Jahrbücher in einem meiner gefüllten Bücherregale. Sie reihten sich dort ein in die Klassiker und all die Sachbücher, die ich im Laufe meines Lebens angesammelt hatte. Während ich den Band des Jahrgangs 1990 herauszog, überkam mich schlagartig eine tiefe Sehnsucht. Das Titelbild zeugte von dem maroden Betoncharme der Heinrich–Zille–Grundschule in seiner ganzen Pracht. Zwei kräftige Linden säumten rechts und links die gläsernen Eingangstüren. Beinahe zweihundert Kinder und Lehrer schritten Jahr für Jahr über die breiten Stufen empor. Eingesäumt von stabilen Eisengeländern, die schon Generationen von Schülern beim Verlassen des Gebäudes heruntergerutscht waren. Natürlich heimlich, damit sie die Zeigefinger hebenden Lehrkräfte nicht erwischten.

Wahrscheinlich machten sie das heute immer noch. Die Schüler und die Lehrer.

Ich setzte mich in die Küche und schlug das Buch auf. Meine Finger fanden die Doppelseite der 4c wie von allein.

Auf dem Klassenfoto standen Frederik und Frederik natürlich nebeneinander. Im Mittelpunkt der Meute. Das Mädchen darunter erkannte ich zunächst nicht. Stirnrunzelnd nahm ich meine Lupe zur Hand. Schwarze kurze Haare, dunkle Augen hinter einer runden Brille. Der Blick ein bisschen zu ernst für ein Kind ihres Alters. Urplötzlich durchfuhr es mich. Wie konnte ich das Mädchen nur vergessen? Anne aus der Vogesenstraße.

Die Anne war eines von den Kindern, die schon sehr früh lernen mussten, dass es im Leben nicht immer gerecht zuging. Morgens kam sie als Erste und nachmittags ging sie als Letzte. Kein Wunder, dass der Hausmeister sie einmal sogar versehentlich in der Schule eingeschlossen hatte. Sie war ein Schlüsselkind. Zu Hause wartete niemand auf sie. Ich bezweifelte, dass sie ihre Eltern an jedem Tag sah. Ja, die Anne. Sie war der Grund gewesen, warum ich in diesen beiden Jahren regelmäßig meine Korrekturen in der Schule erledigt hatte. Anne machte in der Zwischenzeit ihre Hausaufgaben. So saßen wir tagtäglich schweigend auf unseren Plätzen und konzentrierten uns auf die Arbeit. Ich spürte damals, wie froh sie diese kleine Aufmerksamkeit machte. Und freute mich darüber.


»Und, kommst du?« Es kam mir vor, als hörte ich Paulas helle Stimme.

Ich hoffte inständig, dass sie glücklich geworden war.

»Und, kommst du?« Es kam mir vor, als hörte ich Paulas helle Stimme.

Verlegen klappte ich das Jahrgangsbuch zu. »Ich weiß nicht«, rechtfertigte ich mich mit halblauter Stimme. Der kleine Meisenfreund am Fenster schien kurz innezuhalten und mich kritisch zu beäugen.

»Warum denn nicht?«, hakten die Frederiks im Chor nach.

»Weil …«, setzte ich an, »… weil ich nicht möchte.«

»Ach menno.« Die Kinderstimmen beschwerten sich deutlich hörbar. Aber nicht ohne eine Spur Resignation. Denn eines hatten sie recht schnell gelernt damals. Ein Beschluss war ein Beschluss. Nichts und niemand konnte das ändern.

»Außer dem Schulrat«, flüsterte Paula ehrfürchtig und stahl mir damit wie so oft das letzte Wort.

Das Klopfen der Meise rief mich zurück in die Gegenwart. Lächelnd stand ich auf und ging zu meinem Brotkorb. Ich nahm ein paar Krumen altes Brot heraus und ging zum Fenster. Aufgeregt flatternd suchte das kleine Vögelchen das Weite. Schnell öffnete ich das Fenster und streute das Futter auf das Außenbrett. Als die Scheibe wieder geschlossen war, wartete ich geduldig.

Kurz überlegte ich, ob ich an diesem Abend etwas unternehmen sollte. Nur um mich abzulenken.

Das Klopfen des Meisenschnabels beendete mein stilles Grübeln. Zufrieden beobachtete ich, wie der Vogel die Brotreste aufpickte. Bis er aufschreckte und davonflog.

Irritiert sah ich ihm nach.

Da klingelte es.

Heute hatte ich doch gar kein Paket bekommen.

Seltsam, ich konnte den Klingeltakt keinem meiner Nachbarn zuordnen.

So leise ich es vermochte, schlich ich zur Tür und sah durch den Spion.

Ein stattlicher Mann im mittleren Alter in Begleitung einer hübschen Frau mit schwarzen langen Haaren stand draußen im Flur.

Wer war das?

Aufdringlich fingen sie jetzt auch noch an, mit den Fingern an die Tür zu klopfen. Und ich hörte, wie sie meinen Namen riefen. Ein weiterer Blick durch den Spion zeigte mir, dass hinter den beiden noch mehr Menschen aufgetaucht waren. In mir wuchs eine leise Ahnung, weswegen ich die Türe mit vorgelegter Kette öffnete.

»Bitte?«, fragte ich vorsichtig.

Zwei freundliche Männergesichter erschienen im Spalt. Wie Zwillinge von verschiedenen Müttern.

»Die 4c!«, rutschte es mir heraus.

Im Flur vor meiner kleinen Wohnung stand meine Klasse. All die Gesichter und Namen rauschten durch meinen Verstand. Von den Frederiks bis hin zur Anne.

Selbstredend ergriff Paula das Wort. »Wir dachten uns, Sie haben bestimmt den Tag unseres Klassentreffens vergessen. Da wollten wir Sie kurzerhand abholen. Schließlich sind Sie doch unser Ehrengast.«

Und noch während ich protestieren wollte, schnitt mir ein elegant aussehender Mann das Wort ab. Natürlich mit einem charmanten Lächeln, das ihn sofort als Tomtim entlarvte. »Eine Lehrerin gehört doch zu ihrer Klasse. Oder etwa nicht?«

Was sollte ich sagen? Da hatte er wohl recht. Der Teddybär.

Schlachtfeld Klassentreffen

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