Читать книгу Schlachtfeld Klassentreffen - Heike Abidi - Страница 9

14 Damen und ein Gemüsehut

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»Sag mal, Hubert, du hast doch einen Fotoapparat, oder etwa nicht?« Meine Mutter setzte kurz den Telefonhörer ab und sah mich erwartungsvoll an.

Mir blieben nur Sekundenbruchteile, um zu reagieren. Jede Antwort konnte mich ins Verderben stürzen.

»Er hat«, schlussfolgerte Mutter prompt ins Telefon.

Ich kannte sie schon mein ganzes Leben lang. Sie tat ja wirklich alles für mich, ihren einzigen Sohn und Dauerhausgenossen. So verstand es sich von selbst, dass ich ihre Signale lesen konnte. Der schielende Blick über ihre verbogene Brille verhieß nichts Gutes. Dazu musste man keine 22 Jahre Erfahrung im Verwaltungsdienst haben, so wie ich.

»Mit wem hast du da gesprochen?«, fragte ich, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Mit Elsbeth«, entgegnete meine Mutter, »meiner guten, alten Freundin aus der Grundschule.«

Ach herrje. Das musste ja ewig her sein.

»Wie, kennst du die Elsbeth nicht mehr?«, schoss sie hinterher.

»Aber klar doch«, versuchte ich, mich zu retten. Nur klang das dann wohl doch eine Spur zu unsicher.

Und so kam das Unausweichliche: »Das sieht dir wieder mal ähnlich, Hubert.«

Mein schuldbewusster Augenaufschlag konnte die mütterliche Tirade nicht mehr stoppen: Mein Sohn hört niemals zu. Was habe ich nicht alles für ihn getan. Kopfschütteln. Jetzt ruft meine beste Freundin an, Elsbeth, und will mit mir zum Klassentreffen. Wieder Kopfschütteln, diesmal stärker. Das wäre ja wirklich wundervoll, wenn mein undankbarer Sohn nicht wieder so miesepetrig wäre. Nur, weil er ein paar Fotos machen soll von mir und meinen Schulfreundinnen. Das Kopfschütteln ließ ihr beinahe die Brille runterrutschen. Genau genommen von mir und meiner besten Freundin. Elsbeth. Die in den vierzig Jahren, seit es diesen Sohn gibt, niemals auch nur Erwähnung gefunden hatte.

Kopfschütteln eingestellt.

Markanter Augenaufschlag.

Tiefer Seufzer.

Dann das vernichtende Urteil: »Typisch.«

Endlich machte sie eine Sprechpause, und ich schenkte ihr das pflichtschuldige »’tschuldigung, Mama. Klar, mach ich die Fotos.« Ich trollte mich in mein Zimmer. In solchen Augenblicken fragte ich mich, wie es wohl anders wäre. Mit einer Partnerin. In einer eigenen Wohnung. Dieses Mal seufzte ich laut und deutlich.

Dann kramte ich, einem Instinkt folgend, noch schnell mein Ladegerät heraus und steckte den Akku meiner Digitalkamera hinein. Sicher war sicher.

Wer konnte schon ahnen, dass dieses Mumientreffen schon zwei Tage später stattfinden würde? Also ich jedenfalls nicht.

Deshalb staunte ich nicht schlecht, als diese bunte alte Dame vor unserer Wohnungstür erschien und mich selig lächelnd begrüßte. Sie sah ein bisschen so aus, als wäre das knallige Rouge das Einzige, was sie noch zusammenhielt. Allerdings passte es hervorragend zu ihrem kanarienvogelmäßigen Outfit. Wie die Faust aufs Auge. Die Augen wirkten übrigens, umrandet von neongrüner Schminke, echt furchterregend. Während ich wie erstarrt in der Tür stand, kniff sie mir in die Wange. »Du bist bestimmt der Hubert!«

Ich nickte stumm und kam mir vor wie ein Dreikäsehoch.

Ehe ich mich versah, huschte Mutters Freundin schon an mir vorbei, als würde sie sich bei uns auskennen, stürmte allerdings ins Klo statt ins Wohnzimmer.

»Die Elsbeth«, hörte ich die säuselnde Stimme meiner Mutter, die besagte Dame wie ein akustisches Navigationssignal durch unsere Wohnung lotste. Vor der Kulisse des Wiedersehenslärms wollte ich mich gerade in mein Zimmer schleichen. Was meiner Mutter leider nicht entging.

Augenaufschlag.

Seufzer.

Das Urteil fiel wie gewohnt aus: »Typisch.«

Mit hängenden Schultern trottete ich ins Bad und machte mich fertig. Als ich wieder herauskam, schaute Elsbeth demonstrativ auf die Uhr.

Ich präsentierte ein taktisches Lächeln und schnappte mir den Autoschlüssel.

Auf der Schwelle blieb Mutter noch einmal stehen und sah mich ermahnend an. »Hubert. Geht dein Fotoapparat auch?«

»Na klar.« Siegessicher schaltete ich den Apparat an. Das heißt, ich drückte auf den Knopf. Die Kamera aber spielte toter Mann. »Der Akku!«, stammelte ich und raste noch einmal zurück. Die Blicke meiner Begleiterinnen ignorierte ich gekonnt kraft der Coolness, die ich jahrelang in vergleichbaren Situationen im Bürgerbüro gesammelt hatte.

Während der Fahrt sprach ich kein Wort. Wozu auch? Die beiden Damen auf dem Rücksitz quasselten ohnehin für zehn und hätten mir bestimmt nicht zugehört.

»Hubert! Du musst da vorne rechts«, wies mich meine Mutter unvermittelt an und riss mich aus meiner Gedankenwelt.

»Aber Mama«, entgegnete ich ruhig, »zum Frühlingshof geht es doch geradeaus.«

»Da hat er recht, dein Hubert«, warf die Freundin mit dem bunt bemalten Gesicht ein.

»Du musst da vorne rechts«, widersprach meine Mutter energisch.

»Nein, Ilse«, sagte Elsbeth bestimmt. »Ich weiß genau, dass es geradeaus zum Frühlingshof geht. Da ging es schon immer lang.«

So diskutierten die beiden weiter, bis die Kreuzung in Windeseile an uns vorüberzog. Und ich fuhr unschlüssig geradeaus. Mutter sagte nichts, als wir an der Abzweigung vorüberfuhren. Im Rückspiegel konnte ich jedoch deutlich ihr Augenrollen erkennen. Natürlich gefolgt vom anklagenden Seufzer.

Ohnehin war ich viel zu beschäftigt damit, eine Vollbremsung hinzulegen, weil vor uns eine Baustellenampel gerade auf Rot schaltete.

»Siehste?«, meinte da meine Mutter spitz und lächelte zufrieden. »Rechts wäre nämlich eine Abkürzung gewesen. Es dauert ewig, bis diese Ampel umschaltet. Aber du wolltest es ja so, Hubertchen.«


Mir blieb also fahrtechnisch die einfache Wahl zwischen falsch und falsch.

Während der restlichen Fahrt tauschten sich meine Passagiere unüberhörbar über meine mangelhaften Fahrerqualitäten aus. »Und du bist schuld, wenn wir die Letzten sind«, schmetterte meine Mutter. Auch Elsbeth hatte es nun richtig eilig und ließ keine Gelegenheit ungenutzt, mich anzutreiben. Mütterlicherseits bekam ich dagegen das mir wohlbekannte »Fahr nicht so schnell, Hubert« verpasst. Mir blieb also fahrtechnisch die einfache Wahl zwischen falsch und falsch.

Endlich erreichten wir unser Ziel, und ich parkte ein. Natürlich nicht ohne weitere kritische Kommentare von der Rückbank bezüglich meiner Parklückenwahl.

Zu groß, zu klein.

Zu weit, zu nah.

Zu sonnig, zu schattig.

Als wir ausstiegen, verwandelten sich die beiden Streithennen unvermittelt in zwei kichernde Schulmädchen, die mich erfreulicherweise links liegen ließen. Misstrauisch schlich ich unauffällig hinter den beiden her ins Innere des Frühlingshofes. Eine Horde bunter Vögel empfing uns dort mit regem Geplapper. »Da hast du’s«, maulte meine Mutter und strafte mich mit ihrem Blick. »Wir sind die Letzten.«

Elsbeth vergaß die Schmach sofort, denn für sie gab es wohl Wichtigeres zu tun. »Es sind ja gar keine Herren da!«, stellte sie enttäuscht fest.

Tatsächlich. Zum sechzigjährigen Jubiläum der Klasse waren nur Damen gekommen. Einschließlich meiner beiden Passagiere 14 an der Zahl. Der böse Kommentar auf meinen Lippen erfror geradezu, als ich eine Frau mit grellrotem Kleid und einem eigenwilligen Hut auf dem Kopf auf uns zuschweben sah.

»Na, die Maria übertreibt wieder mal«, zischte meine Mutter feindselig. »Typisch.«

Und Elsbeth nickte dazu bekräftigend. Ich dagegen starrte fast schon ängstlich auf den Kopfschmuck dieser Maria, der wie ein umgekippter Korb voller Blumenkohl und Tomaten aussah.

Die Gemüsehutträgerin ignorierte die negativen Schwingungen, die von Mutter und Elsbeth ausgingen, begrüßte uns alle freundlich und nahm sogar von mir Notiz. »Die jungen Leute versammeln sich alle im Schankraum«, hörte ich zu meiner Erleichterung.


Jedem Einzelnen stand das Schicksal ins Gesicht geschrieben. Mutteropfer.

Der Schankraum wirkte auf den ersten Blick ziemlich leer. Ein paar wenige Männer und Frauen saßen an einem runden Tisch. Die pflichtbewussten Söhne und Töchter. Jedem Einzelnen stand das Schicksal ins Gesicht geschrieben. Mutteropfer.

»Hallo, ich bin Hubert«, sagte ich in die Runde und nahm Platz.

»Hallo. Ich bin Tine«, entgegnete die nette Brünette neben mir und hob ihr Glas. Mein Herz begann, unkontrolliert zu pochen, und ich brachte im ersten Moment kein Wort heraus. Auch sie errötete leicht hinter ihrem schützenden Brillengestell.

Noch ehe ich etwas halbwegs Intelligentes erwidern konnte, hörte ich schon, wie mein Name gerufen wurde. Selten erklang die Stimme meiner Mutter unpassender als in diesem Moment. Mit einem entschuldigenden Blick ging ich nach draußen.

»Wir wollen ein Klassenfoto machen«, schmetterte mir Mutter entgegen.

Schnell präsentierte ich ein Na–klar–Lächeln, während das Organ hinter meiner Stirn fieberhaft anfing zu arbeiten. Wo war noch gleich die Digicam?

»Bin gleich wieder da«, nuschelte ich. Dann eilte ich rasch zu meinem Wagen.

Bitte, lass dieses Ding im Auto sein, betete ich insgeheim, während ich die Fahrertür öffnete. Irgendwo im Hintergrund begannen die alten Damen, sich zu sammeln. Ich spürte genau, wie sich Mutters und Elsbeths finstere Blicke regelrecht in meinen Rücken bohrten.

In mir machte sich Panik breit, denn ich konnte diesen verdammten Fotoapparat einfach nicht finden.

Mist.

Mutter registrierte trotz der Entfernung sofort, was los war.

Augenaufschlag.

Seufzer.

»Typisch!«

Erst als ich Schritte hörte, unterbrach ich meine erfolglosen Anstrengungen und schaute schuldbewusst auf.

In Tines lächelndes Gesicht. »Du hast deine Fototasche über der Stuhllehne hängen lassen. Hast du sie schon gesucht?«

»Du bist ein Engel«, platzte es aus mir heraus.

Ein strenges »Hubert!« beendete schlagartig meine Glückseligkeit. Meine Retterin warf mir einen mitleidsvollen Blick zu, ehe ich genervt auf die Gruppe der betagten Schülerinnen zuging.

»Verzeihung, die Damen«, versuchte ich, die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Niemand beachtete mich. Ich probierte es lauter: »Wenn die Damen sich bitte in zwei Reihen aufstellen könnten?«

Vielleicht lag es an dem einen oder anderen defekten Hörgerät, doch keine der Seniorinnen reagierte auf meine Anweisung. Das konnte doch nicht wahr sein! Lediglich Elsbeth positionierte sich mit erhobenem Haupt in der Bildmitte. Der Rest dieser bunten Vögel plapperte und wuselte wild durcheinander.

»Bitte, bilden Sie zwei Reihen!«, wiederholte ich energisch. Worauf ich mir wieder einen strengen Mutterblick einfing.

Nach zehn weiteren Minuten intensiven Geduldstrainings schaffte ich es tatsächlich, aus dem Gewimmel so etwas wie eine Aufstellung zu formen.

»Danke sehr«, bemühte ich mich um Fassung. »Noch besser wäre es, wenn nur die großen Damen nach hinten gingen?« Und nicht nur die, die sich dafür halten, ergänzte ich im Geiste.

Sofort kassierte ich eine geballte Ladung finsterer Blicke. Hatte ich den Nachsatz etwa doch laut ausgesprochen?


Aus der zweiten Reihe vernahm ich das Stichwort »Krampfadern« und hatte Mühe, das Kopfkino zu stoppen.

Aus der zweiten Reihe vernahm ich das Stichwort »Krampfadern« und hatte Mühe, das Kopfkino zu stoppen. Letztendlich half nur noch die Flucht nach vorn. »Sie dort drüben in diesem …« (Mein Hirn suchte verzweifelt nach einem freundlich klingenden Adjektiv) »… unübersehbaren Katzenkleid. Würden Sie sich bitte mehr in Richtung Rand begeben?«

Die reizende oder aufreizende Dame fasste dies allerdings als Majestätsbeleidigung auf, wie ihre blitzenden Augen verrieten.

»Ach, Hubert?«, mischte sich Mutter ein. »Findest du nicht, dass ich zu weit rechts stehe?«

Aus meiner Sicht stand sie hervorragend an der Seite ihrer besten Freundin Elsbeth, die noch immer in der Bildmitte thronte wie eine Königin. Der unzufriedenen Tonlage nach sollte ich jedoch lieber auf meine holde Erzieherin eingehen.

»Ja, geh doch bitte ein klein wenig nach links«, gab ich deshalb bestätigend zurück.

»Nein«, keifte die Königin der Kanarienvögel dazwischen, »du stehst genau richtig.«

Ich fürchtete, gleich durchzudrehen.

Während ich Maria – die Dame mit dem Gemüsehut – in die erste Reihe holte, entbrannte zwischen meinen beiden Passagieren eine Flüsterdebatte, die sich anhörte wie das Duell zweier Kobras. Nicht nur Mutter und Elsbeth wurden immer lauter, sondern der Geräuschpegel der gesamten Gruppe steigerte sich allmählich. Ich musste handeln.

Kurzentschlossen drückte ich auf den Auslöser. »Bitte recht freundlich«, kommandierte ich ungehört. Und schoss Bild um Bild. In der verzweifelten Hoffnung, dass doch irgendetwas dabei sein möge, was man verwenden könnte.

Seufzend schloss ich das Fotoshooting, als sich die Reihen meiner Models auflösten und in kleine Diskussionsrunden zersplitterten. Unauffällig schlich ich mich wieder in den Frühlingshof. Tine erwartete mich bereits.

Auf dem Heimweg sprach meine Mutter kein Wort. Elsbeth hatte sich ein Taxi genommen. War wohl nicht so gut gelaufen zwischen den alten Freundinnen. Für mich hatte sich dieses Klassentreffen aber durchaus ausgezahlt. Ich fand Tine äußerst reizend, und seit ich in meiner Jackentasche einen Bierdeckel mit ihrer Nummer gefunden hatte, schwebte ich auf Wolke sieben. Dass sie die Tochter der Gemüsehut–Maria war, entlockte mir lediglich ein Schmunzeln.

Endlich zu Hause machte ich mich gleich daran, die Bilder der Fotosession auf meinem Notebook zu begutachten. Das hatte nichts mit Übereifer zu tun, sondern lag schlichtweg daran, dass ich im Verlauf des Abends noch ein paar Schnappschüsse von Tine gemacht hatte.

»Hubert, zeig mal die Bilder von der Klasse. Ich habe versprochen, dass wir jeder einen Abzug schicken«, unterbrach mich Mutter.

Rasch ließ ich Tine mit einem Mausklick vom Bildschirm verschwinden und zeigte ihr eine Auswahl meiner Aufnahmen. Von geschlossenen Augen bis hin zu unfreiwilligen Grimassen war alles dabei, was das Herz eines Hobbyfotografen unfreiwillig beschleunigte.

»Das gefällt mir gut«, sagte meine Mutter mit einem Mal.

»Das?«, fragte ich überrascht. »Aber die Elsbeth ist ja gar nicht drauf.« Denn hinter dem Gemüsehut von Tines Mutter konnte man die Kanarienvogel–Freundin nur erahnen.

Mein Muttchen zuckte mit den Schultern, ehe sie mir ihren gewohnten Augenaufschlag zeigte und dazu seufzte. »Aber Marias Hut kommt doch schön zur Geltung, oder?«

Schlachtfeld Klassentreffen

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