Читать книгу Urlaubstrauma Deutschland - Heike Abidi - Страница 11
Die einsame Insel
ОглавлениеKristallklares Meer, kilometerlange Strände und Sonne satt – all das haben wir in diesem Jahr während der Sommerferien nicht erlebt. Meine Familie und ich fliegen üblicherweise in den heißesten Tagen des Jahres nach Ägypten, die Heimat meines Vaters. Da ist es zugegebenermaßen noch heißer und stellenweise unerträglich. Aber ich habe auch dort Familie. Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins. Sie wären überrascht, wie viele Triebe ein ägyptischer Stammbaum besitzen kann. Und da wir uns einen Urlaub mit drei Kindern nur einmal pro Jahr leisten können, kommen wir üblicherweise nicht umhin, die Frage »Wohin fahren wir in diesem Jahr?« mit der immer gleichen Antwort zu würdigen: »Nach Ägypten.«
Die Frage war also eher rhetorischer Natur, doch als ich in diesem Jahr meine Frau auf die Sommerferien ansprach, erhielt ich die verwirrende Antwort, wir könnten doch einmal etwas anderes machen …
Was? Wozu das denn? Die Kinder liebten das Meer. Das Wetter war nie schlecht. Und wir alle sahen nach sechs Wochen Mittelmeer so braun aus, als hätten wir uns für den Karneval geschminkt.
»Wir könnten uns doch einmal etwas anderes ansehen. Einen neuen Ort besuchen.«
»Die Welt besteht aus mehr als Ägypten«, warf meine Frau Henriette nicht ganz zu Unrecht ein. »Wir könnten uns doch einmal etwas anderes ansehen. Einen neuen Ort besuchen.«
Einen neuen Ort. Schon meine Eltern sind mit mir immer nach Ägypten geflogen. Woanders wäre ich fremd. Verloren.
Meine Frau las mir die Gedanken wohl von der Stirn ab, denn sie legte beruhigend ihre Hand auf meine.
»Und wohin fliegen wir dann?«, fragte ich misstrauisch. Als erfahrener Ehemann weiß ich, dass Frauen in Familiendingen ihren Gatten immer einen Schritt voraus sind. Muss eine evolutionäre Sache sein. Egal, ob es die Planung der Einrichtung, der Familienbesuche oder der Karnevalskostüme ist. Frauen sind die heimlichen Entscheiderinnen.
»Wir fliegen gar nicht«, gab Henriette so geheimnisvoll zur Antwort, als hätte sie gerade ein Praktikum bei der Sphinx persönlich gemacht. »Wir bleiben hier.«
Der Plan, den sie mir daraufhin erläuterte, war irgendwie schräg. Wir sollten tatsächlich in Deutschland bleiben. Den Kindern mal zeigen, was es alles vor unserer Haustür gab. Ihnen ein paar Ecken ihres Heimatlandes zeigen, die sie nicht kannten.
Meinen Einwand, dazu hätten wir doch die restlichen knapp zehneinhalb Monate des Jahres Zeit und müssten nicht die Zeit hergeben, die wir eigentlich wegfliegen wollten, wischte Henriette mit einem Tonfall beiseite, der klarmachte, dass die Entscheidung bereits gefallen war. Im Alltag würden wir nie durch Deutschland fahren. Dazu wäre nie Zeit. Nein, wir machten Sommerurlaub daheim. Und damit basta.
Meine Kinder waren im Gegensatz zu mir verzückt. »Dahoam is dahoam«, bajuwarte unser elfjähriger Sohn Karim, der Anführer unserer dreiköpfigen Rasselbande.
Ich fand das unpassend, zumal wir gar nicht nach München fahren würden. Henriette wollte unseren Heimaturlaub nämlich direkt vor der Haustür beginnen. Der Sommer versprach heiß zu werden. Und im angrenzenden Ruhrgebiet gab es Dutzende, ach was, Hunderte Baggerseen. Man könnte meinen, der Pottbewohner hätte einen infantilen Spaß daran, gigantische Löcher in sein Land zu buddeln. Ein wenig wie ich, wenn ich in Ägypten am Strand sitze. Wir kaufen dann immer bunte Plastikschaufeln, die den Kindern in der Regel bereits nach zehn Minuten zu langweilig werden. Also sitze ich dann im Sand und grabe Löcher, als gelte es, Öl zu finden. Dieses Jahr also baden im Baggersee. Ich war begeistert.
Der Sommer einige Wochen später wurde nicht nur heiß. Er wurde höllisch. Ich glaube, sogar der Asphalt schmolz unter unseren Füßen. Die Klimaanlage unseres Autos wurde mein bester Freund, während ich meine Familie in das Land zwischen Bochum und Bottrop, Dortmund und Duisburg sowie Hagen und Herne kutschierte. Nun, es war ein wenig wie im Ausland. Die Menschen waren sehr nett, es war sehr heiß und im tiefsten Herzen des Ruhrgebiets verstand ich die Sprache gelegentlich nur bruchstückhaft. Den See, den wir am Ende der ersten Ferienwoche ansteuerten, lag idyllisch in der Nähe einer Industrieanlage. Keine Ahnung, was in ihr produziert wird, aber sie war so groß, dass die einzige Möglichkeit, sie nicht zu sehen, darin bestand, die Augen zu schließen.
Das Wasser allerdings, das musste ich zugeben, war sehr verlockend. Azurblau und kalt. Dummerweise sahen das gefühlt alle 5,1 Millionen Einwohner des Ruhrgebiets ähnlich. Sie schienen ebenfalls an diesem See zu sitzen. Es war, als wären wir in einen menschlichen Ameisenhaufen geraten. Körper über Körper, eng aneinandergedrückt. Auf einem Quadratmeter waren alle Hautschattierungen zu erkennen. Von käseweiß über krebsrot bis zu sonnenbankvorgebräunt. Und erst die Bademode! Bei einigen Herren hatte der letzte Badehosenkauf wohl in den Achtzigerjahren stattgefunden. Ich hatte geglaubt, sehr enge und sehr bunte Slips wären etwa mit der Vokuhila-Frisur und dem Manta aus der Mode geraten. Hier erlebten die Badehöschen jedoch ihre Renaissance.
»Wunderbar«, meinte ich sarkastisch. »Und wo finden wir nun einen Platz? Man kann nicht mal erkennen, ob die Leute auf Sand oder Rasen liegen.«
»Sie liegen auf ihren Handtüchern«, gab meine Frau zurück und ging voraus auf der Suche nach einem freien Fleckchen.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin Enge gewöhnt. In Ägypten leben sehr viele Menschen auf sehr wenig Platz. Der schmale Streifen den Nil entlang, der als Lebensraum dient, ist nicht der Rede wert. Und Ägypter lieben es, wenn um sie herum möglichst viel los ist. Alles, was nicht sehr bunt, sehr laut oder sehr süß ist, hat keine Chance, die Aufmerksamkeit eines durchschnittlichen Ägypters zu erregen. Aber hier hätte jeder Nilbewohner erst einmal geschluckt.
Den Duft von frittierten Pommes, auf denen die Mayonnaise schmolz, in der Nase, bahnten wir uns einen Weg zu dem scheinbar einzigen freien Fleck am See.
»Cool«, meinte Karim, entledigte sich seiner Kleidung bis auf die Badehose und rannte gefolgt von seiner siebenjährigen Schwester Antonia und unserem dreijährigen Sohn Lars auf den See zu. Im letzten Moment zog ich zumindest den ganz Kleinen wieder heraus, der seinen mit dem Seepferdchen dekorierten Geschwistern wie ein Lemming gefolgt war und wohl erst zu spät festgestellt hätte, dass er nicht schwimmen konnte. Ich blickte hilfesuchend zu meiner Frau. Sie hatte sich jedoch eine sehr große Sonnenbrille aufgesetzt und sich auf ihr Badehandtuch gelegt. Ich seufzte, zog mich bis auf die Badehose aus und harrte in Griffweite zu Lars am schlammigen Seeufer aus, während eine Gruppe Jugendlicher kaum einen halben Meter neben mir Zigaretten, Smartphones und einen erstaunlich lauten Bluetooth-Lautsprecher auspackte. Oh, so hatte ich mir meinen Urlaub nicht vorgestellt.
Weit weg von Hip-Hop-Musik, Gekreische und Tabakqualm war es sicher ruhig und friedlich.
Als meine Sprösslinge irgendwann blau gefroren dem eiskalten See entstiegen, beschloss ich, dem Menschengewirr zu entfliehen. Lars quengelte, dass er nun zum Spielplatz wollte. Doch ein Blick zu dem von schreienden Kindern bevölkerten Areal reichte aus und ich entschied, dass ich genug Lärm abbekommen hatte. Über den See schaukelten einige Tretboote. Weit weg von Hip-Hop-Musik, Gekreische und Tabakqualm war es sicher ruhig und friedlich. Überraschend viele Jugendliche teilten offenbar mein Faible für Frieden. Bei genauerem Hinsehen aber erkannte ich, dass die Boote wohl der bevorzugte Ort fürs Knutschen waren. Nun, mir egal. Ich wollte auf den See. Weg vom Lärm.
Meine Kinder hatten, wie zu erwarten war, wenig Interesse an meinem Vorschlag und vertieften sich stattdessen in ihre mitgebrachten Zeitschriften und Bilderbücher. Henriette nickte nur kurz, während ich ankündigte, ein wenig auf den See zu fahren, und ich bestieg eines der Boote. Es hatte Farbe und Form eines Flamingos und die Miete war der pure Nepp. Doch das war mir egal. Ich klemmte mir die Pedale unter die Füße und floh.
Leider war es auch auf dem See ziemlich laut. Und voll. Zu viele Boote hielten sich in Ufernähe auf. Ich kollidierte so oft, dass ich das Gefühl hatte, in eine Art maritimen Autoscooter geraten zu sein. Außerdem wollte ich mich in Ruhe langlegen. Ging aber in dem kleinen Boot nicht. Dann jedoch erkannte ich einen Ausweg. Eine kleine Insel. Sie erhob sich recht weit draußen auf dem See. Und sie schien verlassen. Ich setzte den Kurs und trat. Eine Viertelstunde später kam ich japsend ans Ziel. Noch während ich das Boot fachmännisch ein wenig auf das flache Ufer zog, fragte ich mich, weshalb niemand hier war. Ich fühlte mich wie Robinson Crusoe. Fast hätte ich meinen können, der erste Mensch zu sein, der auf diese Erde seinen Fuß setzte. Ich beschloss, ein paar wundervoll ruhige Schritte über mein kleines Königreich zu machen. Es gab einiges zu entdecken. Zum Beispiel die Hinterlassenschaften vorheriger Besucher. Das vergessene Bikinioberteil und ein paar andere eindeutige Dinge zeigten, dass die Insel offenbar schon vorher Besucher gehabt und als Platz für das ein oder andere Schäferstündchen gedient hatte. Nun, ich war in diesem Moment allein hier und suchte mir ein hübsches Örtchen für mein Sonnenbad. Die Mulde am Inselufer, die dem Badestrand abgewandt war, erschien mir ideal. Ich ließ mich fallen und schloss die Augen. Der Wind wisperte leise in mein Ohr. Die Sonne streichelte meine Haut. Es kribbelte angenehm. Das Kribbeln wurde langsam stärker. Irritierend stark. Ich riss die Augen wieder auf. Im ersten Moment tanzten Punkte vor meinen Augen. Dummerweise blieben sie auch dann, als sich meine Augen beruhigt hatten. Die Punkte waren rot und liefen über meinen Körper. Himmel, Ameisen! Und sie wirkten nicht glücklich über meine Anwesenheit. Ich sprang auf und sah an mir hinunter. Die verdammten Viecher kamen sogar aus meiner Badehose. Ich musste auf ihrem Bau gelegen haben. In einer fließenden Bewegung riss ich die Hose herunter und warf sie weg. Sie verfing sich in den Ästen eines Baums über mir. Ich aber sprang in den See und ertränkte die rote Brut. Ihre Verwandten hatten mich einmal beim Umgraben meines Gartens in den Fuß gebissen. Die Schwellung hatte zwei Wochen angehalten. Mein Interesse an einem neuerlichen Kontakt mit diesen Tieren war entsprechend gering.
Es war schrecklich still. Ich glaubte, vom Rest der Welt abgeschnitten worden zu sein.
Nackt, aber unbeschadet entstieg ich dem See. Meine Lust auf Ruhe und Frieden war dahin. Ich wollte zu meiner Familie. An meine Hose kam ich nicht mehr heran. Verdammt, die Tatsache, dass ich unbekleidet war, machte alles ein wenig kompliziert. Aber ein Problem nach dem nächsten, sagte ich mir. Erst mal zurück zum See. Dann würde ich weitersehen. Ich ging zu der Stelle, an der ich meinen Flamingo zurückgelassen hatte. Dummerweise fehlte von ihm jede Spur. Hatte ihn jemand gestohlen? Ich blickte mich um. Und entdeckte das Untier erschreckend weit draußen auf dem See einsam vor sich hinschaukelnd. Offenbar hatte ich es doch nicht ganz so fachmännisch aufs Ufer gezogen. Einem Impuls folgend, sprang ich in den See, um zu meinem Flamingo zu schwimmen. Und sprang genauso schnell wieder ans Ufer. Verflixt, das Wasser war ja wirklich eiskalt. Der Ameisenschock hatte mich das nicht so deutlich spüren lassen. Himmel, ich war gefangen. Nackt. Verloren. Wie Robinson Crusoe. Die Insel war zum Rufen zu weit entfernt vom Ufer oder den Booten. Nun, irgendwann würde meine Familie nach mir suchen. Vor meinem geistigen Auge sah ich schon ein Suchboot der Feuerwehr. Menschen am Seeufer, die lachend mit dem Finger auf mich zeigten, während ich eskortiert von prustenden Rettern zurückgebracht wurde. Ich wartete und schloss irgendwann die Augen. Es war schrecklich still. Ich glaubte, vom Rest der Welt abgeschnitten worden zu sein.
»Hömma, wat machste da eigentlich?«
Ich schrak aus meiner Pein. Vor mir erkannte ich einen weißen, überdimensionierten Schwan. Und zwischen seinen Flügeln einen Mann. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: »Im Tretboot in Seenot.« Sehr passend. Es war der Verleiher. Nie habe ich mich mehr gefreut, jemanden zu sehen.
»Hat deine Olle dich sitzenlassen, oder wat? Bist nicht der Erste, der hergekommen ist für, na, du weißt schon.« Er zwinkerte mir anzüglich zu. »Aber dat Boot musste schon besser festmachen. Hab’s da draußen treiben sehen. Komm, ich nehm dich mit. Wollste dir noch wat anziehen?«
Ich verzichtete auf eine Erklärung und meinte nur, dass meine Badehose einem Unfall zum Opfer gefallen war.
»Na ja«, meinte der Verleiher. »Ist nicht das Verrückteste, was ich hier erlebt habe.« Er zog sich das Tretboot-in-Seenot-Shirt aus und gab es mir. Gott sei Dank war Horst, wie mein Retter hieß, ein wenig größer als ich, sodass ich mir den Stoff ausreichend weit hinunterziehen konnte. Dann fuhren wir los. Wir fingen den verfluchten Flamingo wieder ein, nahmen ihn in Schlepp und kehrten zurück. Unsere Boote waren zwar nicht für eine unauffällige Heimkehr geschaffen. Dennoch gelang es mir beinahe unbemerkt, zu meiner Familie zurückzukehren. Meine Frau döste unter ihrer Riesensonnenbrille und die Kinder chillten, wie man das heutzutage nennt. Ich trug eine Ersatzhose, die Horst mir netterweise zugesteckt hatte. Rasch zog ich mich um, brachte Horst die rettende Kleidung und kehrte zurück. Als meine Frau die Augen öffnete, frage sie: »Willst du nicht mehr schwimmen? Genug Frieden gehabt?«
»O ja«, meinte ich und sah zum Klettergerüst. Dort war es laut. Und überfüllt. Ganz anders als auf der ameisenverseuchten Insel. Einfach wunderbar. »Und jetzt gehe ich mit Lars zum Spielplatz. Ein bisschen Spaß haben. Hier ist es ja furchtbar langweilig.«