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Das Monster von Loch Bodensee

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»Was? Friedrichshafen? Ich fahre doch nicht in den Herbstferien an die Nordsee! Wie uncool ist das denn?«

»Bodensee, du Vollhonk. Friedrichshafen liegt in Bayern!« Jan hatte blitzschnell auf seinem Smartphone herumgetippt und sah seinen Bruder Henry genervt an.

»Baden-Württemberg, um genau zu sein«, mischte ich mich korrigierend in die Diskussion unserer beiden 11- und 13-jährigen Söhne ein.


»Wenn es wenigstens Mallorca wäre! Kann ich zu Hause bleiben?«

»Das macht es auch nicht besser! Meine Freunde fliegen nach Amerika oder Kuba. Und wir? Im Sommer waren wir gar nicht weg wegen dem Umzug und jetzt das! Wenn es wenigstens Mallorca wäre! Kann ich zu Hause bleiben?«

Die Reaktion der Kinder auf die Ankündigung unseres diesjährigen Familienurlaubs war sehr verhalten. Um ehrlich zu sein, Henry und Jan waren maßlos enttäuscht. Aber mein Mann Max und ich blieben bei der Entscheidung, wie hartnäckig auch immer sie versuchten, uns den Bodensee auszureden. Vor Jahren hatte ich dort studiert. Und jetzt hatte ich mir vorgenommen, meine Familie von der Schönheit der Region zu überzeugen, auch wenn das ein hartes Stück Arbeit werden sollte. Wenn sie erst mal da wären, so war ich mir sicher, dann würden sie dem Flair des Bodensees schon erliegen. Friedrichshafen lag direkt am See. Die Insel Mainau, die Blumeninsel, war ein absolutes Highlight, ebenso die Städte Meersburg und Ravensburg mit ihren idyllischen Gässchen. Ich erinnerte mich zu gern daran. Max und ich freuten uns auf die Reise in die Vergangenheit, hatte er mich doch oft am Bodensee besucht.

»Wir könnten Andi treffen, der wohnt doch noch in Überlingen, oder?«, fragte er euphorisch.

Meine Laune wurde immer besser. Ich war so aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Die Laune der Kinder hingegen, die eigentlich kurz vor den Ferien auf dem Höhepunkt sein sollte, wurde immer schlechter. Jan hatte bis vor einigen Wochen noch an einen schlechten Scherz geglaubt und wohl fest damit gerechnet, dass ich eines Tages die Tickets nach Mallorca aus der Tasche ziehen und »Überraschung« rufen würde! Als das nicht passierte, zog er sich grummelnd in sein Zimmer zurück und verbrachte noch mehr Zeit an seinem Smartphone als üblich.

Henry, unser Kleiner, hatte immer schon viel Fantasie. Er konstruierte sich seine ganz eigene Urlaubswelt. Zufällig hörte ich eine WhatsApp-Sprachnachricht seines Kumpels: »Krass, Alter! Ihr fliegt nach Brasilien? In den Geburtsort von Neymar? Wie geil ist das denn?« Zum Glück schreiben die Kinder heute keine Postkarten mehr. Sonst hätte Henry ein Problem gehabt.

Die Autofahrt ins tiefste Schwabenländle verlief extrem ruhig. Mein Mann und ich erinnerten uns rührselig an unsere Studienzeit. Henry und Jan, versorgt mit Tablets, Smartphones, Kopfhörern, Softgetränken und Chips, waren mit sich beschäftigt und gaben kaum einen Ton von sich.

»Wir sind da.« Ich konnte kaum an mich halten. Schnell stieg ich in Friedrichshafen aus dem Auto aus und lief über die Straße zur Uferpromenade. Da lag er vor mir: der Bodensee. Tiefblau. Riesig. Wunderschön. Umrahmt von Bergen. Die Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Es war ein traumhaftes Bild. An Holzpfählen vertäute Boote schaukelten sacht im leichten Wind. Ging der Empfang perfekter? Der See würde leichtes Spiel haben. Er würde sie verzaubern, so wie er es auch bei mir getan hatte.

»Doppelt so viele Badetote wie im Vorjahr. Die Zahl der Badeopfer am Bodensee steigt alarmierend, so der Leiter der Wasserschutzpolizei Friedrichshafen.« Jan stand neben mir. Ich hatte ihn gar nicht kommen gehört. Sein Smartphone in der Hand, sah er mich triumphierend an.

»Wie bitte?« Ich musste mich erst einmal sammeln.

»Tote! Immer mehr Tote im See!« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging wieder in Richtung Auto.

»Wow, das ist fett«, hörte ich Henry sagen. Na, wenigstens ein Kind war empfänglich für die Schönheit der Natur. »Neymar hat mehr Länderspieltore als Ronaldo.«

»Lass ihnen Zeit, das wird schon noch«, sagte mein Mann tröstend, nahm meine Hand und gemeinsam genossen wir den unvergleichlichen Ausblick auf den See.

»Willkomma. Ha noi, wie schee! Mir fraiad uns!«


»Ich dachte, das ist hier Deutschland. War das Brasilianisch?«

»Was hat die gesagt, Mama?« Henry zupfte an meinem T-Shirt. »Ich dachte, das ist hier Deutschland. War das Brasilia­nisch?«

»Mir kennad alles außer hochdeidsch, woisch.« Bei diesen Worten bekam die rundliche Vermieterin unserer Ferienwohnung »Haus Seeblick« – Frau Schuler – einen prustenden Lachanfall, sodass ihr gewaltiger Busen wippte. Henry und Jan starrten sie irritiert an. Während sie meinen Mann und mich durch die Ferienwohnung führte, machten es sich die Kinder mit ihren Smartphones demonstrativ gelangweilt auf den Sofas gemütlich. Frau Schulers Blick sagte mehr als tausend schwäbische Worte. Sie schien die Abneigung unserer Söhne gegen den Bodensee sofort zu durchschauen. »Mir zwoi vrschdehad uns, woisch«, sagte sie an mich gewandt, als wir wissende Blicke miteinander austauschten. Es folgte ihr herzhaftes Lachen. »Bisch morga früh zum Frühstück, ihr Süßen!« Sie zwinkerte Jan zum Abschied zu, der zumindest den Anflug eines Lächelns zustande brachte.

Das Abendessen nahmen wir vier in einem kleinen, gemütlichen Fischrestaurant ein – mit Seeblick natürlich. Max, den das ewige Handygezocke erheblich mehr nervte als mich, hatte Smartphone-Verbot erteilt, was dazu führte, dass sich unsere übelgelaunten Söhne nicht an der Konversation beteiligten. Der Abend verlief mehr als zäh.

Als wir wieder bei der Ferienwohnung ankamen, lag vor unserer Haustür ein zerfleddertes Papierheftchen. Henry nahm es hoch: »Die Legende vom Bodensee«, las er laut vor. »Was ist das denn?«

»Man nennt es Papierheftchen. Und es scheint sich um eine Geschichte oder Legende zu handeln«, sagte mein Mann oberlehrerhaft. Jans Hand verschwand instinktiv in seiner Tasche. »Mist, jetzt kann ich das nicht mal googeln.«

»Wie wäre es zur Abwechslung mal mit lesen?!« Max verdrehte die Augen.

»Ich will heute nach Meersburg«, verkündete uns Henry beim Frühstück am nächsten Morgen. »Da geht’s voll ab.«

»Sehr gern. Tolle Idee.« Überrascht lächelte ich meinen Mann an.

»Und was genau geht da ab?«, fragte Jan mürrisch und biss in sein Brötchen.

»Na, das Monster wurde da gesichtet.« Henrys Wangen glühten rot wie schon lange nicht mehr. Er wedelte mit dem Papierheftchen genau vor meiner Nase herum.

»Steht alles hier drin. Fischer berichten davon, dass sie etwas Ungewöhnliches im See gesichtet haben. Genau wie in Loch Ness. Wie ein echtes Monster soll es ausgesehen haben. Ein voll krasser Horrorzombie.« Jan googelte bereits. Das Smartphone-Verbot war wieder aufgehoben.

»Geil, hier gibt’s sogar einen YouTube-Film über die Legende.«

Die Kinder waren begeistert. Endlich passierte mal was Aufregendes. Sie folgten uns bereitwillig nach Meersburg und besichtigten mit uns die Stadt und sogar die Burg. Die zwei Stunden, die Max und ich völlig entspannt mit meinem Studienkollegen Andi in einem Café am See verbrachten, nutzten sie für ihre Zombierecherchen.

Der nächste Tag startete mit Frühnebel, was den See sehr gespenstisch aussehen ließ. Der Blick aus dem Fenster unserer Ferienwohnung bot dicke Nebelschwaden, die die dahinterliegenden Berge völlig verdeckten.

»Des gohd doch uff koi Kuahhaut nedd! Dees isch vielleichd an bleedr Näbl!« Frau Schuler schimpfte vor sich hin wie ein schwäbischer Rohrspatz. Die Kinder nutzten beim Frühstück die Gelegenheit, sie über die Legende vom Bodensee auszufragen. Natürlich war sie es gewesen, die das Heftchen vor unserer Türe platziert hatte. »Mir zwoi vrschdehad uns, woisch.« Diesmal zwinkerte sie mir zu. Sie erzählte den Kindern wahre Horrorgeschichten, die durch ihren rätselhaften Dialekt noch schauriger wirkten. Was auch immer Henry und Jan davon verstanden hatten, sie wollten kurz danach unbedingt auf die Insel Mainau fahren. Mein Mann und ich nutzten die Begeisterung aus und begleiteten die beiden erfreut. Während wir die wunderschöne Blumeninsel erforschten, inspizierten die Kinder die Ufer und Anlegestege der Insel. Abends trafen Max und ich uns dann mit Andi zu einer Weinprobe im Staatsweingut Meersburg.

Auch der nächste Morgen empfing uns mit Frühnebel. Der Anblick des Sees hatte heute aber etwas Märchenhaftes an sich. Die Sonne versuchte sich ihren Weg zu bahnen und blitzte hier und da durch die Nebelwand hindurch.

Max schlug vor, dass wir uns dieses Naturschauspiel aus der Nähe anschauen sollten. Also wanderten wir mit den Kindern zum See hinunter. Und da plötzlich passierte es!

»Der Zombie!« Henry brüllte aus Leibeskräften. »Das Monster vom Bodensee. Es lebt …«

Dann bemerkten auch wir anderen es. Ein undefinierbares Wesen erhob sich urplötzlich aus den Tiefen des nebelverhangenen Sees. Es sah furchtbar aus. Der Begriff Zombie kam ihm schon sehr nahe. Blutunterlaufene Augen. Menschlicher Körper, aber Flügel am Rücken. »Was zur Hölle ist das?«


Jan filmte alles mit seinem Smartphone, während Henry immer weiter schrie: »Das Monster lebt!«

Max antwortete mir nicht, sondern drückte nur fest meine Hand. Jan filmte alles mit seinem Smartphone, während Henry immer weiter schrie: »Das Monster lebt!«

Genauso plötzlich, wie es aus dem Nichts erschienen war, verschwand es wieder im See.

»Das war krass geil, das muss ich online stellen.« Jan lief aufgeregt zur Ferienwohnung. Henry folgte ihm. Die beiden waren für die nächsten Stunden weder zu sehen noch zu hören. Max versicherte mir, dass alles in Ordnung sei, und flanierte mit mir gemütlich über die Uferpromenade. Der Nebel hatte sich aufgelöst und die Sonne hatte sich vollends durchgesetzt. Als wir die Kinder abends wieder trafen, hatten sie Erstaunliches zu berichten. Sie hatten einen YouTube-Channel mit dem Titel »Das Monster von Loch Bodensee – Zombies are alive« eröffnet. Hier gab es den Mega-Clip mit dem Zombie, aber auch sämtliche Hintergrundinfos, die die Kinder in den letzten Tagen zusammengetragen hatten. Plus, als Extra-Bonbon, ein Interview mit Frau Schuler, der Zombie-Expertin. Natürlich auf Schwäbisch. Innerhalb weniger Stunden hatten sie damit so hohe Zugriffszahlen erreicht, dass sie bereits von der Schwabenzeitung angesprochen und um ein Interview gebeten worden waren.

»Meine Freunde wollen jetzt auch unbedingt an den Bodensee.« Henry strahlte stolz. Wie er den Dreh von Brasilien zum Bodensee hingekriegt hatte, war mir ein Rätsel. Auch Jan war sehr zufrieden mit sich.

»Also wegen mir können wir auch noch ’ne Woche länger hierbleiben. Ich muss noch jede Menge Interviews geben.« Mein Mutterherz schwoll an vor Glück. Ich hatte die Kinder mit dem Bodensee versöhnt.

»Ich muss euch etwas sagen.« Max knibbelte nervös an seiner Unterlippe. Ich konnte mir bereits denken, was jetzt kam, denn er hatte mich kurz zuvor eingeweiht. Die Kinder starrten ihn erwartungsvoll an. »Also, erstens, ich bin unglaublich stolz auf euch. Wie ihr das alles gemacht habt. Der Wahnsinn! Ihr seid richtige Internetstars. Und zweitens …« Er zögerte. »Also, das mit dem Zombie, das waren Andi und ich. Ich hatte ja keine Ahnung, was das für Ausmaße annehmen würde. Wir wollten euch nur den Urlaub verschönern.« Die Kinder blickten erst sich und dann Max an, der sehr zerknirscht aussah. Dann begannen Henry und Jan schallend zu lachen.

»Ach, Papa! Hast du geglaubt, wir sind völlig krank?« Jan nahm den verdutzt dreinblickenden Max in den Arm. »Wir haben doch von Anfang an gewusst, dass das alles Fake war. Wer glaubt denn schon an Legenden und Horrorzombies? Aber es war verdammt cool! Und für das Internet ist es doch völlig egal, ob die Geschichte wahr ist oder nicht, Hauptsache, die Likes stimmen. Das war der geilste Urlaub ever!«

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