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Kapitel 4

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Der Tag gefiel ihr. Es war genau diese Art von Stimmung, die sie mit ihrer Kamera einfangen wollte.

Das Wetter war kühl, neblig und wirkte geheimnisvoll. Charlotte Hagedorn trällerte, als sie, mit ihrem Rucksack auf den Schultern und in ihren dicken Wollmantel eingepackt, ihr Fahrrad über den Sandweg Richtung Staberhuk dirigierte. Sie kratzte sich mit einer Hand unter ihrer mit Delfinen bestickten Mütze. Die Künstlerin wusste aus Erfahrung, dass sie bei dem Wetter fast eine Stunde unterwegs sein würde, bis sie ihr Ziel erreichte. Sie kannte sich aus. Sie liebte es, auf der Insel Fotos zu machen, wenn keine Sonne schien. Sie inspizierte selbst Orte, die Insulaner nie vorher aufgesucht hatten. Unheimliche Orte, an denen Geheimnisvolles aufzuspüren war. Nicht umsonst nannte man sie die Miss Marple der Insel. Durch ihre manchmal etwas eigenwillige Art, Ereignissen nachzugehen, hatte sie den Kommissaren Dirk Westermann und Thomas Hartwig von der Mordkommission Oldenburg das eine oder andere Mal bei der Aufklärung einiger Mordfälle auf Fehmarn helfen können. Selbst wenn ihre Hilfe nicht immer erwünscht gewesen war.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast 9 Uhr, als sie die Spitze des Leuchtturms Staberhuk in weiter Ferne wahrnahm. Ihr Herz klopfte, und eine frische Röte überzog ihr Gesicht. Ob dies an der Vorfreude auf ihre Fotosafari im Nebel lag oder der fast 16 Kilometer langen Strecke geschuldet war? Wild entschlossen trat sie in die Pedale ihres roten Fahrrades und hatte nach weniger als zehn Minuten ihr Ziel erreicht.

Ein Leuchten trat in ihre Augen. Pfeifend fuhr sie den schmalen Sandweg entlang, bis sie nicht mehr weiter konnte. Die kleine Teerstraße, die den Radweg kreuzte, stoppte ihren Übereifer, und sie bremste quietschend den fast 20 Jahre alten Drahtesel aus. Sie sprang übermütig vom Rad und rückte ihren Rucksack zurecht. Der Blick nahm ihr wie immer den Atem.

Der 1903 massiv erbaute, jüngste Leuchtturm im Südosten der Insel, hatte es ihr von Anfang an angetan.

Der Turm thronte direkt an der Steilküste und lieferte nach wie vor eine strategisch wichtige Befeuerung der Seestraße. Charlotte Hagedorn kannte viele Geschichten um diesen Leuchtturm. Sie stellte ihr Fahrrad an einem wilden Rosenstrauch ab, der direkt am Hang gewachsen war und von dessen Blüten sie jedes Jahr wunderbar duftende Rosenmarmelade einkochte. Erleichtert kraxelte sie, das Ziel am Fuß der Steilküste im Auge, zwischen dem Buschwerk den Abhang hinunter, um für einen Moment an ihrem Geheimstrand auszuruhen. Sie wollte sich das Leuchtfeuer aus genau der Perspektive anschauen und Fotos schießen.

Charlotte strahlte, als sie den Turm hinaufblickte, der von den wenigen Sonnenstrahlen ausgeleuchtet wurde. Sie setzte sich auf einen der großen Findlinge und stellte das Objektiv ein. Dann richtete sie die Kamera auf das verschwommen wirkende Meer, das spiegelglatt und in Nebel getaucht vor ihr lag. Sie roch den Seetang, der sich zwischen den Steinen aufgehäuft hatte, und drückte ab.

Auf einmal hörte sie Gelächter und sprang auf. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und sie fühlte sich gestört in diesem Moment der Stille.

Unwirsch reckte sie ihren Kopf erneut. Die Neugier war größer als ein unheimlich anmutendes Foto. Sonst wäre sie nicht Charlotte Hagedorn. In dem Moment nahm sie eine Person auf dem vorgelagerten Portal des Leuchtturmgeländes wahr. Sie sammelte ihren Rucksack vom Boden, steckte die Kamera hinein und begab sich auf den Rückweg. »Warte«, grummelte sie und kraxelte den Weg zurück, den sie vor Kurzem erst heruntergeklettert war. Charlotte Hagedorn klopfte ihren Mantel ab, auf dem sich Sand und Äste verfangen hatten. »Na warte«, murmelte sie erneut und marschierte energisch auf den Eingangsbereich des Leuchtturms zu. Sie wusste, dass niemand sich auf dem Gelände aufhalten durfte, der keine ausdrückliche Berechtigung dazu hatte. Das Tor war verschlossen. Eigenartig, dachte sie und rüttelte daran, ohne dass es sich nur einen Zentimeter öffnen ließ. Wie war da jemand rein gekommen? Entschlossen rückte sie ihre Mütze zurecht, sah sich um, und kletterte mühelos über das Geländer. Eilig huschte sie am rot-gelben Leuchtturm vorbei, der sich wenige Meter hinter dem Tor emporstreckte, und verbarg sich hinter einer Hecke, die zur vorgelagerten Freifläche führte. Von dort schienen die Geräusche zu kommen. Zuerst vernahm sie leises Gekicher, dann wurde der Tonfall mit einem Mal ernst und angsterfüllt. Sie unterschied drei Stimmen. Charlotte lugte hinter dem Busch hervor und erfasste augenblicklich die Situation. Eines der Mädchen ruderte wild mit den Armen und drohte den Abhang hinunterzustürzen. Zwei andere standen regungslos vor der alten Bank. Charlotte setzte zum Sprung an.

Sie griff, ohne zu zögern, nach dem Arm des Mädchens und riss es von der bröckelnden Kante zurück. Beide fielen zu Boden. Tildas Beine hingen weit über dem Abhang und sie versuchte krampfhaft, sich mit ihren Fingern an der Hand der fremden Frau festzukrallen, um nicht wegzurutschen. Eine falsche Bewegung, sie würde den Halt verlieren und in die Tiefe stürzen. Mit der anderen grub sie sich immer wieder in den losen Sand, der keinen Halt gab. Charlotte hielt das Handgelenk des Mädchens so fest umschlungen, wie sie konnte. »Helft uns endlich!«, schrie sie wutentbrannt mit hochrotem Kopf den beiden anderen Mädchen zu. »Ich kann sie nicht mehr lange halten!«

*

Der Beifahrer stieg aus dem Führerhaus des Lkws.

Er hatte die Insel seiner Begierden erreicht. An Fehmarn hatte er viele Erinnerungen, die gerade in seinem Gedächtnis nach oben geschwemmt wurden.

Mit einem kurzen Gruß verabschiedete er sich von dem Fahrer. Es war Mittag, als er an der Ausfahrt Richtung Burg stand. Da er kaum Geld in der Tasche hatte, musste er sich zu Fuß auf den Weg zu seinem Ziel aufmachen. Er stöhnte. Der Fußmarsch würde ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Mit zwei Stunden rechnete er mindestens. Als er die Hauptstraße entlang stapfte, entdeckte er auf der rechten Seite eine Fastfood-Kette. Er schluckte und wollte sich einen Burger und ein Getränk leisten, weil sein Magen seit Stunden knurrte. 27 Euro 50 Cent waren nicht viel. Wo er schlafen konnte, wusste er. Das würde ihn nichts kosten. Er lächelte verhalten, kaufte drei Burger für je einen Euro und einen großen Becher Kaffee und machte sich wieder auf den Weg. Morgen würde die Welt ganz anders aussehen.

Burg ist echt tot zu dieser Zeit, überlegte er und wollte schon Richtung Sahrensdorf laufen, als ihm eine bessere Idee kam. Obwohl er ahnte, dass sich auf Fehmarn einiges verändert hatte, wusste er doch, dass im Hafen von Burgstaaken immer Boote im Wasser liegen blieben, die meist Anglern gehörten, die auch im Winter fischten, oder Seglern, die zu träge waren, ihre Schiffe einzuwintern. Er würde mit einem der Boote dorthin fahren, wo er sich verstecken konnte. Dieses Wissen entlockte ihm ein verächtliches Grinsen. Mit finsterer Entschlossenheit lief er den Staakensweg hinunter, um wenig später ins Hafengelände zu gelangen. Die Enttäuschung war allerdings groß, als er das fast leere Hafenbecken erblickte. Kaum ein seetüchtiges Wasserfahrzeug, das er für sich nutzen konnte. Drei einsame Segelboote, ein GFK Boot und ein Angelkutter. Otto, wer nannte sein Schiff Otto? Er strich mit der Hand über seinen Bart, betrat den Steg und begutachtete die offene Kunststoffschale, die am Ende des Bootsstegs lag. Vielleicht ein bisschen auffällig … aber es war ja bald dunkel. Alles gut, wenn genügend Sprit im Tank ist. Aber der Weg war nicht ohne, und wenn das Benzin ausging, hatte er im Dunkeln die Arschkarte gezogen. Er lief zurück zum Angelschiff mit dem merkwürdigen Namen. Der Aufwand, um in die abgeschlossene Kajüte zu gelangen, war für ihn ein Leichtes. Nur, wie kam er an den Strand? Dieses Boot konnte er nicht ans Land ziehen. Viel zu groß. Und zu dieser Jahreszeit vor Anker zu liegen und ins eiskalte Wasser zu müssen, um an den Strand zu kommen, war absolut keine gute Idee.

Er entschied sich für die einfachere Lösung der offenen Version, die höchstens sieben Meter lang war und sich bis an den Strand bringen ließ. Diese kleine offene Nussschale war genau das, was er suchte. Es dämmerte. Der Wind hatte aufgefrischt. Prüfend sah er sich um. Kein Mensch weit und breit. Lächelnd stieg er in das Kunststoffboot und hoffte, dass der Motor ansprang. Er öffnet den Benzinhahn, zog den Choke, dann das Zugband mit hartem Ruck. Kurzes Brummen, nichts. Vorsichtig sah er sich erneut um. Noch einmal griff er den Knauf, zog ihn ruckartig heraus, und endlich fing der Motor an zu blubbern. Erleichtert hob er den Tampen vom Holzpflock und fuhr an. Er guckte sich noch einmal um und stellte fest, dass niemand ihn bei der Aktion beobachtet hatte. Als er die Hafeneinfahrt hinter sich gelassen hatte, steuerte er Richtung Staberhuk. Der Wind kam aus Ost und blies ihm eiskalt ins Gesicht. Jetzt konnte ihn nichts mehr aufhalten. Ein paar Dosen rollten auf dem Boden des Bootes von einem Ende zum anderen. Es störte ihn nicht. Der einsetzende Regen umgab ihn wie ein unsichtbarer Mantel.

*

Aus ihrer Schockstarre gerissen, warf Lotta sich auf den Boden, um ebenfalls nach Tildas Hand zu greifen. Sie hing nach wie vor wie ein Sack mit den Beinen über dem Abgrund. Charlotte versuchte mit eiserner Kraft, sie zu halten. Stina rutschte auf Knien zur Kante und zerrte am Hosenbund der Freundin. Mit gebündelter Kraft zogen sie die schlanke Frau von der Felskante. Schweißgebadet saßen sie wenig später alle erschöpft nebeneinander auf dem kalten Boden und starrten sich an. »Was hast du dir dabei gedacht, junge Dame«, schalt Charlotte Hagedorn das schwarz gekleidete Mädchen, dem sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Lotta und Stina schauten verschämt zu Boden. »Und was habt ihr im Sinn gehabt, hier herumzulungern? Ihr wisst wohl, dass das Privatgelände ist und Zutritt strengstens verboten?«

»Und Sie, wohnen Sie etwa hier?«

Charlotte erhob sich. »Nein, aber ich kenne mich hier aus. Dies ist Privatgrund, auf dem niemand, außer dem Besitzer des Hauses am Eingang und dem Pächter des Leuchtturmwärterhäuschens, etwas zu suchen hat. Da hier zurzeit keine Menschenseele urlaubt, gehe ich davon aus, dass ihr hier eingestiegen seid, oder sehe ich das falsch?«

»Sie wohnen doch auch nicht hier, oder irre ich mich?« Tilda, die ihre Selbstsicherheit wiedergefunden hatte, stellte sich auf die Beine.

»Nein, ich wohne hier nicht und wollte euch nur vor gewaltigem Ärger bewahren. Glaubt es mir. Wenn die Eigentümer kommen, gibt es richtig Ärger.«

»Und was machen Sie dann hier?«, wollte Stina wissen und stand ebenfalls auf. »Ich hatte vor, Nebelfotos zu schießen. Das Licht war perfekt, und dieser Ort hat etwas Geheimnisvolles.«

»Das ist ja interessant«, entgegnete Lotta. »Dann können Sie mir vielleicht ein paar Tipps geben. Sind Sie denn Fotografin? Ich möchte unbedingt eine Fotoreihe erstellen und bin auf der Suche nach den passenden Motiven.« Charlotte sah die attraktive Blondine an und neigte den Kopf. »Haben Sie denn eine anständige Kamera dabei?«

»Ja, meine Nikon und … ich denke schon.«

»Ja, dann könnte das was werden. Aber nicht mehr heute. Mir ist die Lust für den Moment vergangen. Ich brauch erst mal ein Likörchen.«

»Oh, dann kommen Sie doch mit uns. Wir haben jede Menge in der Hütte. Das beruhigt unseren Geist«, murmelte Tilda versöhnlich.

»Wo seid ihr denn untergekommen?«, wollte die Fotografin wissen. »In der kleinen Holzhütte im Wald«, sagte Lotta und deutete hinter sich. Die Mädchen kletterten über den Zaun und verließen das Grundstück. Charlotte tat es ihnen gleich und quälte sich über das Geländer. Sie nickte zustimmend, als sie wieder festen Boden unter ihren Stiefeln hatte: »Das Angebot nehme ich gerne an. Ich muss nur mein Fahrrad holen.«

Sie eilte zurück zum Knick und holte ihr Vehikel. Gemeinsam spazierten sie Richtung Waldhütte.

»Oh, das ist ja gemütlich«, offenbarte Charlotte ihre Verwunderung, als sie eine halbe Stunde später in die Hütte eintrat. »Ich dachte immer, die steht längst leer.«

»Na ja, wir haben gebettelt, damit wir sie bekommen. Die Besitzer wollten sie über den Winter eigentlich gar nicht mehr vermieten, und wie ich die Besitzerin verstanden habe, im kommenden Sommer abreißen. Sieht ja nicht unbedingt nach Luxusresort aus. Aber wir haben es dringend gemacht und schwupp – hatten wir das Knusperhäuschen. Gerochen hat es hier drinnen auf jeden Fall, als wenn es ewig nicht mehr vermietet wurde. Voll modrig«, lachte Tilda und rümpfte die Nase.

»Wir mussten jedenfalls lange lüften, und der Geruch vom Holz im Ofen und der frischen Waldluft hat den Rest aus der Hütte verscheucht.«

»Es stank hier drinnen merkwürdig«, warf Stina ein und kräuselte die Nase.

»So nach Gruft. Eine Gruft an der Küste … Küstengruft. Wäre ein guter Titel für einen Thriller«, überlegte Tilda und zog eine Flasche aus ihrem Rucksack. »Schnaps?«

Charlotte lächelte wissend und nickte. »Warum lächeln Sie so eigentümlich?«, wollte Stina wissen. »Zum einen heißt es bei uns nicht einfach Schnaps, sondern Likörchen. Zumindest bei meinen Freundinnen und mir. Und zum anderen, wisst ihr um diesen Wald und das dazugehörige Gut? Hier gibt es jede Menge alte Schauergeschichten, die immer wieder gern erzählt werden.« Sie hielt inne. Tilda stellte ein kleines Glas vor Charlotte auf den Tisch und goss ihr von dem klaren Schnaps ein. »Oh, sehr interessant. Erzählen Sie.«

Die Künstlerin winkte ab und leerte ihr Glas. »Da gibt es die Geschichte der weißen Frau, die sich die Leute hier seit Jahrhunderten erzählen und die einem noch heute eine Gänsehaut über den Rücken laufen lässt. Sie handelt von einer jungen Frau, die im Kindsbett verstorben ist und noch heute als Geist ihr Kind auf dem Hof sucht. Immer wenn dort ein Kind geboren wurde, hat man alle Spiegel im Haus verhängt. Es hieß, man sollte nachts immer ein Licht im Haus brennen lassen, damit die weiße Frau das Kind nicht holt. Gesehen hat sie allerdings noch niemand. In den 50er Jahren ist dort sogar mal ein Kind im Teich vom Staberhof ertrunken. Aber ich denke, ihr sollt ein paar schöne Tage erleben und dürft euch die Laune nicht von Spukgeschichten vermiesen lassen.« Sie schüttelte ihre graue Mähne die, seit sie die Mütze vom Kopf genommen hatte, statisch aufgeladen um das Gesicht herum stand. »Wie – Spukgeschichten?«, fragte Tilda und klatschte begeistert in die Hände. »Dass dich das interessiert, hätte ich mir ja denken können«, griente Lotta. Charlotte Hagedorn betrachtete die schlanke, hoch gewachsene Studentin, deren Gesichtsfarbe selbst einer Geistererscheinung glich. »So, wie du daherkommst, könntest du die Rolle der Weißen Frau vom Staberhof sofort übernehmen.«

Die Künstlerin erhob sich. »Ein andermal. Ich muss wirklich los.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel. »Es wird dämmerig. Ist ziemlich früh dunkel und ich habe einen langen Heimweg. Wir sehen uns bestimmt noch einmal. Dann können wir darüber ausgiebig plaudern und dir kann ich einige Tipps für gute Fotos geben. Ich weiß ja jetzt, wo ihr untergekommen seid. Wie lange bleibt ihr?«

»Eine ganze Woche!«

»Na, dann ist jede Menge Zeit für Geistergeschichten!«

Küstensturm

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