Читать книгу Küstensturm - Heike Meckelmann - Страница 14
Kapitel 7
ОглавлениеDas Boot schlug bei jeder kurzen, harten Welle gnadenlos auf die Wasseroberfläche auf. Er hatte Mühe, den Küstensaum zu erkennen, weil der Regen sich zu einem undurchdringlichen Vorhang verdichtet hatte, der ihm die Sicht erschwerte. Seine Lippen waren zu schmalen Strichen zusammengepresst, als erneut eine wuchtige Welle das GFK Boot gefährlich von der Seite erfasste und Gischt in sein Gesicht peitschte. Er war dankbar, als die letzte Woge, die ihn an den Strand drängte, sich hinter ihm brach. Mit steif gefrorenen Fingern drückte er den roten Knopf, der den Motor des Außenborders zum Schweigen brachte. Die Küstenlinie lag direkt vor ihm. Das etwa sechs Meter lange Boot schob sich mit der letzten Welle Richtung Strand. Er zog den Motor hoch und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, um das Salzwasser aus den Augen zu entfernen. Kaugummi kauend kletterte er aus dem Kunststoffboot. Mit dunkler Regenjacke und Wathose bekleidet, die er im Boot neben einem Anker und mehreren Dosen gefunden hatte, watete er mit unsicheren Schritten durch das knöcheltiefe Wasser. Konzentriert zog er das Schiff an einem Tampen hinter sich her, griff nach dem Anker und warf ihn in die Ostsee. Er musste schließlich irgendwie wieder zurück zum Hafen kommen und wartete, bis sich das Boot in den Wind gelegt hatte. Angespannt zerrte er den Rucksack aus der offenen Schale und schulterte ihn. Mühsam stapfte er an den Strand, um durch den feuchten Sand den Fuß der Steilküste zu erreichen. Er warf einen Blick nach oben und hoffte, dass der Aufstieg nicht zu anstrengend würde. An einer nicht einsehbaren Stelle kletterte er den zum Teil weggebrochenen Hang hinauf, bis er das freie Feld erreichte. Mit schweren Schritten stapfte er an Knicks entlang. Ein missbilligendes Lächeln umspielte den Mund in seinem finster aussehenden Gesicht. Es war sehr viel leichter gewesen, als er für möglich gehalten hatte. Niemand hatte seinen Weg und seine lang ausgegrübelten Pläne bisher durchkreuzt, und so steuerte er unerkannt sein Ziel an. Die Dunkelheit spielte ihm hervorragend in die Karten.
Der Mann setzte seinen Weg Richtung Lichtung fort, zog den Kragen der Watjacke hoch, die ihm um den Körper schlotterte, damit nicht noch mehr Kälte und Feuchtigkeit den Nacken hinunter kriechen konnte. Seine Bewegungen wirkten mechanisch und schleppend, als wäre er angetrunken. Jeder seiner Schritte erzeugte ein glucksendes Geräusch, wenn der Stiefel im morastigen Grund versank. Dann sah er durch den zunehmenden Regen den düsteren Umriss des Waldes. Die kühlen Böen peitschten unentwegt in sein Gesicht. Eine Gänsehaut überzog seinen Körper und er stiefelte weiter. Sein Ziel lag direkt vor ihm, und er würde es zu Ende bringen. Die Gestalt versuchte, die Kälte zu ignorieren, die sich eisig um seinen Körper schloss, und zog den Rucksack fester an sich. Bindfadenartiger Regen rieselte zwischen dunklen Baumstämmen hindurch. Jeder Schritt knatschte. Angespannt erreichte er das eng gedrängte Gestrüpp, das für ungeübte Spaziergänger einen undurchdringbaren Eingang darstellte und durch das er in das Innere des Waldes gelangte. Als wäre der Regen nicht genug Behinderung, dröhnte einsetzendes, fernes Donnergrollen neben der Brandung. Zusammen ergab es eine unheimliche Atmosphäre, die ihm perfekt erschien, um nicht durch Geräusche auf sich aufmerksam zu machen. Niemand würde ihn bei seinem Vorhaben stören.
Er zog die Augenbrauen hoch, als er weiter in den Wald eindrang. Dann suchte er mit seinen Blicken die Dunkelheit ab. Irgendwo hier musste die verdammte Hütte sein. Ich kann mich nicht so in der Richtung geirrt haben. Erleichtert blieb er stehen, als er einen kaum wahrzunehmenden Lichtschein entdeckte. Der Mann stapfte weiter und hoffte, dass das Licht nicht aus der Hütte kam. Dort konnte, nein, durfte niemand sein. Nicht zu dieser Jahreszeit. Die Erkenntnis, dass er seinem Ziel verdammt nah war, ließ seinen Herzschlag beschleunigen, aber trotz allem ein ungutes Gefühl in ihm aufsteigen und seinen Puls weiter nach oben schießen. Bei jedem seiner Schritte zerbrachen Äste unter seinen Füßen. Die Taschenlampe in seiner Jackentasche ließ er ausgeschaltet. Er wollte unter keinen Umständen gesehen werden und schlich weiter durch die schützende Dunkelheit. In seinen Ohren dröhnte die Brandung, und im zunehmenden Donnergrollen ging das Geräusch seiner Schritte unter. Er liebte die anschwellende Geräuschkulisse, deren Intensität immer mehr zunahm, je länger er sich hier aufhielt.
Das Szenario rief ein Ereignis aus seiner Jugendzeit in ihm wach. Er hatte mit einem Freund in einem Waldstück ein neues Zelt ausprobieren wollen. Es war eine Nacht, an die er sich sein Leben lang erinnern würde. Die Angst hatte ihn und seinen Freund damals fast wahnsinnig werden lassen. Die unheimlichen Geräusche hatten die beiden 14-Jährigen in Angst versetzt und die ganze Nacht wachgehalten. Sie hatten in dem Zelt gekauert und bei jedem unerklärlichen Laut gedacht, dass Monster sie holen würden. Nie wieder würde er im Wald kampieren. Wie konnte ich das vergessen? Er schüttelte sich und sah das fahle Licht direkt vor ihm durch die Bäume schimmern.
Der Schein dieser Lichtquelle beunruhigte ihn. Nur noch wenige Meter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Schlagartig fragte er sich, ob es eine gute Idee gewesen war, ohne Vorbereitungen hier aufgekreuzt zu sein. »Verdammt, ich hätte mich vorab informieren sollen.«
Ein Blitz erhellte den Himmel, und er zuckte zusammen. Hinter einem Baum, direkt vor der Hütte, stoppte er. Sein Hals war ausgetrocknet und er schluckte, während er sich mit der Hand über die von Wasser getränkte Kapuze fuhr.
Dann donnerte es wieder, und ein Blitz folgte. Das Gewitter rückte näher. Er zerrte am Kragen der wattierten Jacke. Ihm wurde heiß, obwohl es eisig kalt war. Er überlegte, wie er sich jetzt, wo er das Ziel direkt vor Augen hatte, verhalten sollte. Was würde er vorfinden? Entschlossen schlich er zur Treppe.
Sein Kiefer knirschte, als er mit zusammengebissenen Zähnen die Treppe hochschlich. Er wandte den Kopf. Alles um ihn herum war dunkel und ruhig, nur eine Krähe flog mit einem unheimlichen Schrei dicht über seinem Schädel hinweg. Er verbarg sich im Dunkeln neben der Tür, lehnte sich gegen die Wand und drehte den Kopf Richtung Fenster. Mit einem Blick erfasste er die Situation im Inneren der Hütte.
Eine Frau saß auf dem Sofa und hatte es sich mit einer Wolldecke und einem Buch gemütlich gemacht. Der kleine Kaminofen brannte, und ein Glas Rotwein stand, halb geleert, auf dem flachen Holztisch vor ihr. Die ist jung, vielleicht Mitte 20. Ihre langen blonden Haare betonten die dunklen blauen Augen. Sie trug einen Jogginganzug. Er schnaubte und riss den Kopf zurück. Ein weiterer Blitz zuckte über den nachtschwarzen Himmel, und unmittelbar darauf hallte ein Donnerschlag. Schnell presste er seinen Körper gegen die Holzfassade und hoffte, dass sie ihn nicht bemerkt hatte. Entschlossen schlich er auf der Veranda um die Hütte. Wut breitete sich in seinem Körper aus. Ihm war kalt. Er hatte sich vorgenommen, seinen Plan umzusetzen. Die Frau, die allein auf dem Sofa saß, hatte ihm einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht. Das war nicht das, was er vorzufinden gehofft hatte.
Er warf einen Blick ins Innere des zweiten Raumes. Niemand hält sich da auf, so viel ist schon mal sicher. Also ist sie offensichtlich alleine. Oder ist noch jemand im Dachgeschoss? Ich muss es riskieren. Vorsichtig fasste er an das marode Sprossenfenster. Leise fluchend rüttelte er daran, als er das Licht einer Taschenlampe auf sich zukommen sah.
*
Lotta Freimann war nicht anwesend. Zumindest nicht im Geiste. Vertieft in ihren mystischen Thriller hatte sie Raum und Zeit um sich herum vergessen. Draußen prasselte der Regen unaufhörlich gegen das Fenster. Der Wind ließ die Äste eines Baumes an der Scheibe entlang schaben. Es klang wie die passende Untermalung zu ihrem Buch und hörte sich an, als tobte die Ostsee direkt an der Hütte vorbei. Sie empfand keine Angst, als ein Blitz das gemütliche Zimmer der Waldhütte erhellte. Im Gegenteil. Ein wohliger Schauer stellte ihre Nackenhaare auf, der genau zur Stimmung der Handlung in ihrem Buch passte. Eine Frau, die sich vor einem Killer in einem Wald versteckt hatte, beflügelte ihre Fantasie. Sie sah auf und zählte nach dem Blitz die Sekunden, bis zum Einschlag des ersten Donners. Eins, zwei, … das Gewitter muss direkt über der Hütte sein, mutmaßte sie, beugte sich nach vorn und griff zur Rotweinflasche. Langsam füllte sie ihr Glas und hielt es gegen die weichen Lippen, um einen Schluck zu sich zu nehmen. Lotta stellte das Weinglas zurück auf den Holztisch und schlang die rote Wolldecke um ihre Füße, die sie entspannt auf dem Sofa ausgestreckt hatte. Ihre langen, glatten Haare fielen weich auf die Schultern. Die behagliche Wärme des Kaminofens erfüllte all ihre Sinne mit Geborgenheit. Zumal sie genügend Holz im Korb hatte, der ihr Gewissheit verschaffte, zumindest solange in dieser gemütlichen Stimmung verbringen zu können, bis ihre Freundinnen zurückkehrten. Sie räkelte sich unter ihrer Decke. Ein weiterer Blitz erhellte den Raum und sein Inventar. Ihr Blick fiel auf den hüfthohen Tisch aus verwittertem Holz, der das Zentrum der Hütte bildete. Lotta hatte diverses Obst aus ihrer Tasche hervorgezaubert, und nun lag es dekorativ in einer getöpferten Schale und lockte zum Verzehr. Die attraktive Krankenschwester fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, stand auf und huschte zum Tisch. Mit wenigen Schritten erreichte sie den Sisalteppich, der unter dem Holztisch lag, und stolperte, genau wie vorher Stina, über die gesäumte Kante. Jetzt, wo sie allein war, wollte sie selbst ein Auge auf den Holzboden werfen, der beim Abendessen für Gesprächsstoff gesorgt hatte. Sie rückte den Stuhl zur Seite, schlug den Teppich zurück und begutachtete den Boden. »Da ist nichts«, murmelte sie und klopfte mit der Faust gegen die Dielenbretter. Es klang zwar hohl, dennoch konnte Lotta keinerlei Verriegelung entdecken, die auf eine Luke hinwies. »Zu viele Geistergeschichten. Alles nur Einbildung.« Sie schüttelte den Kopf und erhob sich. Sie rollte mit ihrem Fuß den Teppich in seine vorherige Position, griff zur Obstschale und nahm sich einen Apfel heraus. Gutgelaunt begab sie sich zurück auf ihr gemütliches Sofa.
Fortwährend kratzten die Äste der alten Buche wie magere Finger an der Fensterscheibe, als wollten sie sie warnen. Lotta mochte diese gruselige Atmosphäre, die sie nicht mit dem spannendsten Kinoabend hätte tauschen mögen. Was sollte sie im Kino, wenn die Umgebung dieser Waldhütte genügend Raum für Fantasie bot? Leises Knarzen an der Eingangstür ließ sie aufhorchen.
*
Als Marcel auf dem Parkplatz stand, überkam ihn plötzlich bleierne Müdigkeit. Der Alkohol und das Kokain hatten ihn zermürbt. Dennoch ließ er nicht locker.
Niemand würde ihn davon abhalten, sich selbst von der Lage zu überzeugen. Und wenn sie ihn betrog, dann …
Er zog sein Handy aus der Tasche und suchte nach der Tourismusinformation. Die mussten wissen, wo diese verdammte Hütte stand. Tatsächlich befand sich das Büro unweit der Stelle, an der er gerade parkte.
Marcel grinste. »So einfach ist das!«
Zehn Minuten später verließ er zufrieden den Infokiosk. Ein smartes Lächeln, eine freundliche Geste … und er hatte die gewünschte Information in der Hand. Er wusste, wie er seinen Charme einzusetzen hatte.
Eilig lief er zurück zum Wagen. Der Regen hatte die Jacke in der kurzen Zeit völlig durchnässt. Er zog sie aus und legte sie auf die Rückbank. Gott sei Dank trug er einen dicken Pullover, der ihn zumindest nicht frieren ließ. Marcel sah auf sein Navi und gab die Wegbeschreibung ein. Zwölf Minuten, das ist ja ein Witz. Marcel Andresen startete den Motor und fuhr die Kopfsteinpflasterstraße bis zum Ende. Er folgte den Anweisungen des Navis und befand sich nach der angegebenen Zeit auf einer Privatstraße. Ungeachtet des Fahrverbotes fuhr er weiter. Er ahnte, dass ihn niemand bei diesem Wetter von seinem Vorhaben abhalten würde … und auch nicht könnte. »Sie haben das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der linken Seite.«
Da ist gar nichts. Marcel sah sich um. Sein Kopf dröhnte. Er konnte kaum etwas erkennen, außer dem Waldgebiet, das direkt vor ihm lag. Er parkte den Wagen am Straßenrand, nahm die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und stieg aus. Aus dem Kofferraum holte er seine Steppjacke, die er bei seiner letzten Sauftour durch die Kneipen dort vergessen hatte. Marcel zog die Jacke über, zog die Kapuze des Pullovers über den Kopf und machte sich auf den Weg. Er würde sie zurückholen, so viel war sicher.
*
Erneut zuckte ein Blitz durch die Fenster. »Eins, …«, zählte Lotta, als krachend der Donner folgte, um in der Dunkelheit ohrenbetörend seinen Schrecken zu verbreiten. Sie legte das Buch auf ihren Schoß, zog die Decke bis zum Kinn und warf einen letzten Blick in den Raum, der nur durch das Kaminfeuer und die Deckenlampe erhellt wurde. Dann schüttelte sie den Kopf, leerte ihr Glas und vertiefte sich wieder in ihr Buch. Sekunden später hielt sie die Geschichte erneut gefangen.
Der Regen trommelte unaufhörlich auf das Dach der Hütte, während draußen direkt über ihr das Gewitter tobte. Wie schon an den Tagen zuvor überkam sie auf einmal wieder das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden. Ihre Stimmung kippte, und sie bereute bereits, nicht doch mit den Mädels in die Stadt gefahren zu sein. Lottas Gesichtsausdruck wurde zunehmend ernster. Sie zog sich schützend die Decke über den Körper und wandte sich wieder ihrem Thriller zu, der jetzt weitaus mehr Angst verursachte, als sie abzulenken. Lotta schlug das Buch zu. Sie legte es auf ihren Schoß und lauschte zur Tür, bis … sie aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten auf sich zuspringen sah und zwei eiskalte Hände von hinten ihren Hals packten.
*
Zufrieden verließen sie das Filmtheater in der Altstadt von Burg. Es goss nach wie vor in Strömen. Tilda zog die Kapuze ihres schwarzen Ledermantels über den Kopf und hakte sich bei Stina unter, die vorsorglich einen Schirm in ihre Tasche gesteckt hatte, ihn aufspannte und über sie beide hielt. Tilda grinste. »Das war ein toller Film, aber das Ungetüm in deiner Hand kannst du vergessen«, sagte sie, als plötzlich eine Windböe den Regenschirm erfasste und ihn nach außen stülpte. Stina stemmte sich gegen den Wind und raffte den Schirm, so gut es ging, zusammen. »Der ist hin!« Sie zuckte die Schultern und klemmte das Ungetüm unter ihren Arm. »Aber das Kino in Burg ist auch wirklich superschön. Hab lange nicht mehr so gemütlich gesessen.« Sie stiefelten den Kinogang entlang, der sie wieder auf die Breite Straße führte.
»So, wie ich gelesen habe, ist es eines der schönsten Filmtheater im Norden. So etwas wie ein Kulturzentrum«, erklärte Tilda. »Ne, war okay«, sagte sie und hakte sich bei Stina unter »Wollen wir noch einen trinken?«
»Ach, ich weiß nicht. Ist schon 22.30 Uhr. Ich finde, wir sollten Lotta nicht zu lange alleinlassen.« Sie stieß einen kleinen Stein mit dem Fuß beiseite. »Ich hätte jede Menge Schiss ohne euch in dieser Hütte. Mich gruselt’s schon, wenn ihr bei mir seid. Alleine wäre ich niemals hergekommen. Lass uns heimfahren.«
»Ach, sei kein Frosch. Was soll denn passieren? Ist doch easy und cool in der Hütte.« Tilda grinste ihre Freundin von der Seite an. Tiefe Grübchen zeichneten sich in ihren Wangen. »Okay, wir fahren bald zurück. Aber einen Absacker musst du uns genehmigen. Pack den Schirm ins Auto und dann los.« Stina nickte, wenngleich sie überhaupt keine Lust hatte, sich in eine Kneipe zu setzen. Dennoch wollte sie nicht schon wieder die Spielverderberin sein. Sie lief auf die andere Straßenseite, öffnete das Auto und legte den kaputten Regenschirm auf die Rückbank. »Ich habe da vorhin ein Schild gesehen, nur ein paar Häuser weiter. Ein Gläschen und dann fahren wir sofort zur Hütte.« Wenig später betraten sie eine Diskothek, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, die sich abseits der Hauptstraße in einer Gasse befand. Sie öffneten die Tür, und deutsche Schlager jaulten ihnen unüberhörbarer entgegen. »Oh, mein Gott. Hier ist ja der Hund begraben«, maulte Tilda, als sie sich in der fast leeren Kneipe umsah. Am Tresen saßen zwei Gestalten, die sich augenblicklich umdrehten, als die Mädchen den Raum betraten. Die Philosophiestudentin verzog das Gesicht. »Altersheim hier, oder was meinst du?«, flüsterte sie Stina zu, die erleichtert schien, dass in dieser sogenannten Diskothek nichts los war. »Alles leer, und die Musik ist nicht auszuhalten.«
»Draußen Sauwetter, hier drinnen saublöd«, feixte Tilda. »Lass uns verschwinden. Mir ist der Appetit auf ein Getränk vergangen.« Sie schob ihre Freundin zurück auf den Gehweg. Sie hasteten durch den Regen über die menschenleere Kopfsteinpflasterstraße. Stina öffnete im Näherkommen mit dem Schlüssel das Auto, das auf der anderen Straßenseite parkte. Beide waren froh, als sie endlich im trockenen Wagen saßen. »Ist doch klar. Wir haben Januar. Was erwartest du denn? Die dicken Partys sind längst vorbei. Ich schätze, dass der Laden gerammelt voll ist, wenn Saison ist, wetten?«
»Ja, nur dann haben wir nichts davon. So schnell sieht mich hier keiner mehr.« Tilda starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit, als Stina den Parkplatz verließ und Richtung Staberdorf fuhr. »Zumindest bin ich hier weit weg von … von Marcel«, flüsterte sie, und sofort waren die Traurigkeit und ihre Wut zurück.
*
Lotta schrie auf. Sie schaffte es, sich dem Würgegriff der eisigen Pranken zu entwinden, ließ das Buch fallen und sprang entsetzt vom Sofa auf. Ohne sich umzusehen, schoss sie panisch auf die Tür der Hütte zu. Sie hoffte, dass sie den Angreifer für einen Moment erschreckt hatte und er stehen geblieben war. So blieb ihr ein Vorsprung von wenigen Augenblicken. Panisch riss sie die knarrende Holztür auf und lief, nur in Jogginghose, leichtem Sweatshirt und auf Socken, in die Dunkelheit hinaus. Die Haare wehten ihr ins Gesicht und hingen ihr wenig später in nassen Strähnen vor den Augen. Lotta hörte, dass, wer auch immer sie angegriffen hatte, ihr folgte. Sie vernahm ächzendes Stöhnen unmittelbar hinter sich. Weiter, ich muss weiter. Sie stolperte durch den Wald. Es blitzte, sie erschrak und blieb wie erstarrt stehen. Weiter, Lotta, du musst dich verstecken. Jeder Baum, der genügend Deckung bot, wurde zum Schutz gegen den vermeintlichen Eindringling, der ihr dicht auf den Fersen schien. Ihr Körper zitterte und sie presste die Faust an die Lippen, um ihren keuchenden Atem zu verdecken. Tränen rannen über ihre eiskalten Wangen. Die Brandung und das Donnergrollen, die sie vorhin noch wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte, dröhnten jetzt schmerzhaft in ihren Ohren. Ich muss mich auf näher kommende Geräusche und knackende Äste konzentrieren. Wieder hielt sie die Luft an. Dass es ein Mann war, hatte sie sofort erkannt, auch wenn sie sein Gesicht nicht gesehen hatte. Das tiefe Atmen, die schweren Schritte, der männliche Geruch.
Wie von einem Tier und … diese großen Hände. Alles ging so schnell. Sie hielt den Atem an und lauschte, während ihr Herz bis zum Hals schlug.
In kürzester Zeit war sie komplett durchnässt. Lotta lehnte sich zitternd gegen einen dicken Baumstamm. Hinter ihr brach Holz. Sie hielt den Atem an.
Ein weiterer Blitz erhellte die jetzt furchterregende Umgebung. Zweige bogen sich bedrohlich in ihre Richtung, und sie hatte das Gefühl, als würden sie nach ihr greifen wollen. Realität und Fiktion verschmolzen. Sie zitterte so stark, dass ihre Zähne klapperten, und befürchtete, der Verfolger könnte es hören. Ihre Füße waren nass und schmerzten. Sie wagte kaum mehr, Luft zu holen. Was will der? Es gibt nichts, was …
Lotta liefen fortwährend Tränen über die Wangen. Ihre Haut glühte, obwohl sie erbärmlich fror. Ihr Körper zitterte unkontrolliert. Sie musste es bis zur Straße schaffen, um Hilfe zu finden. Hier im Dickicht war sie dem Angreifer schutzlos ausgeliefert. Vorsichtig wandte sie ihren Kopf und sah sich um. Nichts! Es waren keine Schritte mehr zu hören. Vielleicht ist er in die andere Richtung gelaufen? Lotta nahm all ihren Mut zusammen und rannte los. Sie lief um ihr Leben. Die Dunkelheit machte es unmöglich, den Weg zu erkennen, der aus dem Wald herausführte. Sie stolperte immer wieder über dicke Äste, spitze Zweige und Steine bohrten sich in ihre Fußsohlen. Humpelnd hastete sie in die Richtung, in der sie die Straße vermutete. Ich muss hier raus! Lotta streng deinen Kopf an. Weg, ich muss weg!
Als sie den Waldrand erreichte, hatte sie vollständig die Orientierung verloren. Und – es gab keine Straße!
Sie weinte verzweifelt, beugte ihren Oberkörper, um zu verschnaufen. Sie hielt sich die Seite, weil Schmerzen ihr den Atem nahmen. Sie musste einen anderen Weg einschlagen. Sie richtete sich auf und rannte los, als sie plötzlich gegen ein Hindernis prallte. Aufschreiend sprang sie einen Schritt zurück, strauchelte und fiel zu Boden. Hastig versuchte sie, wieder auf die Beine zu kommen. Mit schreckgeweiteten Augen erkannte sie den riesigen dunklen Schatten, der sich vor ihr aufgebaut hatte. Ihr Peiniger war ihr gefolgt und hatte sie eingeholt. Lotta ließ entmutigt die Schultern sinken. Sie wusste, dass sie verloren hatte. »Was wollen Sie?«, flüsterte sie und hielt sich den Handrücken vor ihre Augen, weil das einer Taschenlampe Licht in ihren Augen schmerzte. Ich muss ihn beruhigen, dachte sie. »Ich gebe Ihnen, was sie wollen, und meine Freunde kommen gleich. Bitte, lassen Sie mich gehen!« Sie vermied es, von ihren Freundinnen zu sprechen. Dann würde er sofort wissen, dass er mit ihnen leichtes Spiel hatte. Sie konnte nicht erkennen, wer sie verfolgt hatte. Lotta blieb bewegungslos stehen. Sie hoffte, dass er sich wieder verzog. Aber sie wusste, dass es nicht so sein würde. Sie hatte nur eine Chance. Sie öffnete die Lippen zu einem Schrei, als er mit einer Hand ihren Arm packte und die andere auf ihren Mund presste. Sie schmeckte nach Gummi. Er hat Handschuhe an …
Die dunkle Gestalt hielt inne, Regentropfen krochen seinen Nacken hinunter, als er die zitternde Frau betrachtete. Er neigte den Kopf, sah ihre entsetzt geweiteten Augen. Sie wusste, wenn nicht jemand ihren Schrei gehört hatte, war sie verloren. Sie wand sich unter seinem Arm.
»Pst, ganz ruhig, ich möchte dir nicht wehtun«, warnte er. Er drückte ihre Schultern hinunter, bis sie auf die Knie sank. »Leg dich hin«, befahl er mit ruhigem Ton. Langsam beugte Lotta ihren Oberkörper Richtung Boden. »Dreh dich um«, befahl er. Gebrochene Äste bohrten sich in ihren Rücken. Sie presste die Lippen zusammen, um keinen Laut von sich zu geben. Übelkeit stieg in ihr auf.
Der Unbekannte hielt den Strahl der Lampe auf ihr Gesicht gerichtet, sodass seines im Dunkeln blieb. Er wusste genau, was er tat. In aller Ruhe zerrte er ihr die Hose bis zu den Knien herunter und schob anschließend ihr Shirt hoch. Lotta hörte sein erregtes Schnaufen. Sie fühlte die gierigen Blicke auf ihrem Körper. Sie schämte sich. Die Finger des Angreifers fuhren sanft über ihren Venushügel hinauf bis zu den Knospen ihrer Brüste. Er stöhnte. Dann nahm er die Hand zurück, als schreckte er vor irgendetwas zurück. »Nur ansehen, ich will dich nur ansehen.«
Lotta blieb wie versteinert liegen.
*
Ungefähr zur selben Zeit fuhren die Freundinnen mit laufendem Scheibenwischer den schmalen Feldweg hoch, der vor dem Wald endete. Tilda knipste die kleine Taschenlampe an, die sie in der Schublade der Küchenkommode entdeckt und vorsorglich mitgenommen hatte. »Für alle Fälle«, kicherte sie. Ein schmaler Lichtschein erhellte die Baumkronen, als Tilda den Lichtstrahl in die Höhe lenkte. »Lass das, das sieht unheimlich aus«, wisperte Stina, und ihre Laune kippte von einer Sekunde auf die andere. »Ich glaube, wir sollten uns sputen, wenn wir nicht komplett nass werden wollen«, murmelte Tilda und schloss den obersten Knopf ihres Mantels. Schlecht gelaunt zog sie die Kapuze wieder über den Kopf. Stina nickte und sie setzten sich in Bewegung, so schnell es ihnen im dichten Unterholz möglich war. Im Wald regnete es zwar nicht so heftig wie vorhin auf der Straße, dennoch fielen dicke Tropfen von den Blättern auf ihre Köpfe, was die Sache nicht angenehmer machte. Tilda fuchtelte mit dem Lichtstrahl ihrer Lampe unkonzentriert durch den Wald. »Da vorn … gleich sind wir da.« Erleichtert stapften sie durch das dunkle Gestrüpp. »Wenigstens das Gewitter hat aufgehört«, stellte Stina fest. Hinter ihr knackte es. Erschrocken fuhr sie zusammen und blieb regungslos stehen. Tilda hielt ebenfalls inne und lauschte. »Ist da wer?«, fragte sie in die Dunkelheit. Dann sah sie einen Hasen zwischen den Baumstämmen davonlaufen. Sie schüttelte beruhigend den Kopf, zog Stina am Jackenärmel und sie marschierten weiter. »Los, komm, Angsthase.« Endlich erreichten sie die Hütte. »Sieht aus, als wäre sie schon schlafen gegangen. Alles ist dunkel«, sagte die Sportstudentin und wollte klopfen, während sie zeitgleich die Klinke herunterdrückte. Mit ungutem Gefühl bemerkte sie, dass die Tür nicht verschlossen, sondern nur angelehnt war. »Die ist nicht abgesperrt?« Ihre Augenlider flatterten ängstlich, und sie warf Tilda einen fragenden Blick zu. »Die hat sie für uns aufgelassen, du Dummerchen. Wie hätten wir ohne Schlüssel reinkommen sollen?«
»Aber nicht einfach so. Das ist doch verrückt!«
Tilda schob sich an der Freundin vorbei, trat als Erste in die Hütte und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. »Irgendetwas stimmt hier nicht. Der Ofen brennt, und Lottas Buch liegt am Boden«, wisperte Stina, während sie sich hinter Tilda verschanzte.
»Die schläft längst, wetten? Der ist der Thriller aus der Hand gefallen, das hat sie geweckt, und sie ist todmüde auf die Matratze«, grinste Tilda und öffnete die Tür zum Bad. Alles war dunkel. »Ich schau oben nach. Die liegt längst in den Federn.« Die dunkelhaarige Studentin knöpfte ihren Mantel auf, streifte ihn ab und legte ihn über die Stuhllehne. Sie schlüpfte aus ihren Stiefeln, ließ sie achtlos am Boden liegen und stieg die knarrenden Stufen der Dachgeschossleiter hoch. Stina verharrte stocksteif in Jacke und Mütze, als müsste sie die Hütte gleich wieder verlassen. »Komisch, sie ist nicht da!«
»Vielleicht ist sie in dem Schlafzimmer unten, damit sie ihre Ruhe hat. Ich sehe mal nach«, stotterte Stina, wickelte den Schal vom Hals und war im Begriff, die Zimmertür zu öffnen, als Tilda sie mit gedämpfter Stimme zurückhielt. »Dann lass sie schlafen. Vielleicht möchte sie einfach nur ihre Ruhe haben und war deshalb nicht mit. Wollen wir die zusammen leer machen?« Sie blieb neben der Leiter stehen und deutete auf die halb volle Flasche, die noch immer auf dem Tisch stand. »Ne, ich möchte eigentlich auch zu Bett, ich bin todmüde.« Sie hielt sich demonstrativ die Hand vor den Mund, um zu gähnen. Als sie die Klinke erneut herunterdrücken wollte, um sich zu vergewissern, dass Lotta wirklich im Bett lag, fauchte Tilda: »Untersteh dich. Lass sie in Ruhe«, Stina zog die Hand zurück.
Eine halbe Stunde später lagen sie unter warmen Decken und schliefen beide tief und fest.
*
Der schlanke Mann betrachtete die hilflos am Boden liegende Frau, die sich zitternd die Jogginghose hochzog und das Shirt über die Brust zerrte. Er setzte sich rittlings auf Lottas Schoß. Befriedigt streichelte er mit behandschuhten Händen ihren nackten Bauch, während sein Gewicht ihr den Atem nahm. Wimmernd liefen Tränen über ihr Gesicht, als die Pranke des Angreifers sich bleischwer auf ihren Mund legte. »Pst, nicht weinen. Ich tue dir nicht weh.« Er griff mit seiner anderen Hand in die feuchte Jackentasche. Ihr Peiniger schwitzte und wischte sich Schweißperlen von der Stirn. Langsam zog er ein Tuch heraus. Mit Daumen und Zeigefinger zwang er Lottas Lippen auseinander, die weiter mit schwindender Kraft versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien.
Er lächelte. »Pssst …« Langsam schob er ihr das Stück Stoff in den Rachen, das er in der Tasche der Watjacke gefunden hatte. Es roch nach Öl und Motorschmiere. Ihre angstgeweiteten Augen starrten in seine Richtung und sie stieß einen erstickten Schrei aus. Lotta würgte. Der Wind hatte den Himmel an einigen Stellen aufgerissen und nur wenig Mondlicht erhellte die Gegend unwirklich. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war gefangen in einem menschlichen Schraubstock. Die Schockstarre und der unsägliche Schmerz im Hals bissen sich in ihr fest. Ihr Peiniger beugte sich zu ihr herunter, anscheinend wollte er ihr angsterfülltes Gesicht besser sehen. Dann hob er den Kopf wieder und sah sie verächtlich lächelnd an. »Geile Sau … schade, dich nicht gefickt zu haben. Aber das wäre nicht klug … sehr schade.« Bedächtig legte er beide Hände um ihren Schädel und führte eine schnelle ruckartige Bewegung aus …
Der regungslose Körper der jungen Frau lag mit weit aufgerissenen Augen vor ihm.
Seine Erregung stieg erneut. Er schob das Shirt wieder hoch und stöhnte. Dabei massierte er seine Hosenwölbung lange und hart, bis er in seiner Hose zum Orgasmus kam. Zufrieden zog er das Stoffknäuel aus ihrem Mund und verstaute es in seiner Jackentasche. Dann stand er auf, zerrte ihren Körper in die Höhe und wuchtete ihn auf seine linke Schulter. Befriedigt stapfte er über freies Feld, bis er die Klippe erreicht hatte. Ein kurzer Blick Richtung Strand, dann hob er sie mit beiden Händen und einer erstaunlichen Leichtigkeit in die Höhe. Wie eine Puppe warf er sie den Abhang hinunter. Ein dumpfes Geräusch zeigte ihm, dass sie etwa vier Meter unterhalb am Fuß der Klippe aufgeschlagen war. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er zufrieden den Weg zurück zur Hütte antrat.
*
Nico Weiland zog seinen Sohn außer Sichtweite und forderte ihn auf, sich in den kalten, feuchten Sand zu setzen. Der Junge war geschockt. »Du bleibst hier sitzen, und ich schau nach, ob sie nicht vielleicht noch lebt. Verstanden?« Der schlaksige Jonas nickte und zitterte am ganzen Körper. Der einen Meter 70 große Vater fuhr sich durch die kurz geschnittenen blonden Haare, öffnete seine dunkle Jacke, weil er anfing zu schwitzen, und eilte zurück zu dem Platz, an dem die vermeintliche Tote lag. Doch schon, als er sich der Stelle näherte, wusste er, dass ihr nicht mehr zu helfen war. Der gebrochene Blick hatte sich nicht verändert und er sah sofort, dass er hier nichts mehr tun konnte. Einige Ungereimtheiten störten ihn: Warum liegt sie mit dünner Kleidung und nur in Socken am Fuß der Steilküste? Er kniete sich neben die Frau und tastete nach ihrer Halsschlagader, um festzustellen, ob vielleicht doch noch ein schwacher Puls tastbar war. Doch sie fühlte sich ebenso kalt an wie der Sand unter seinen Knien. Sie muss schon länger hier liegen, vermutete er und erhob sich. Was für eine hübsche Frau, stellte er fest, betrachtete sie und verspürte einen dicken Kloß im Hals. Ihre schlanke Figur, ihr hüftlanges hellblondes Haar und ihre grünen Augen. Er schüttelte sich und eilte zurück zu seinem Sohn, der vor Angst und Aufregung schlotterte. »Papa, ich will nicht mehr ditschen, ich will nach Hause«, schluchzte der Achtjährige.