Читать книгу Küstensturm - Heike Meckelmann - Страница 12

Kapitel 5

Оглавление

Der dunkelhaarige Marcel Andresen stand an den Tresen gelehnt, leerte sein Whiskyglas in einem Zug und stellte es zurück auf die Theke. Seine Freunde drängten sich angeheitert um die Bar und vernichteten eine Runde nach der anderen. Sie nannten es After-Work-Party, er wusste, dass sie sich hier mit Frauen für die Nacht verabredeten. Es war ein Spiel. Er steckte eine Hand in die Hosentasche seines teuren Designeranzugs und zog das Handy heraus. Ein kurzer Blick … keine Antwort. Seine Gesichtszüge verhärteten sich. Die Wangenknochen traten hart hervor und seine Haut wirkte bleich. Mit zusammengekniffenen Augen und stechendem Blick beobachtete er die Frauen, die zu laut lachten und um die Männertraube herumstanden, als hätten sie es mit Stars zu tun. Marcel sah sich als Tier in einem Wolfsrudel. Nur, dass er sich heute nicht am Fang der Beute beteiligen wollte.

Frankfurt war das ideale Pflaster für Startupper. Männer und Frauen, die über Geld und Macht verfügten. Sie nahmen sich, was sie wollten. Vorrangig die Wölfe unter ihnen.

Marcel stand als Zuschauer abseits der Horde. Er sah auf seine schwarze Uhr am Handgelenk. Ihn nervte dieser Abend gewaltig. Er wollte nach Hause, aber aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht aufraffen. Marcel wollte nicht in die Wohnung, in der ihn alles an Stina erinnerte. Auf einmal richtete er sich auf. Dass mir das nicht früher eingefallen ist, dachte er, stieß sich vom Tresen ab und verließ, ohne dass jemand es bemerkte, die Kneipe.

Der Unternehmer schlug den Kragen seines Mantels hoch und stiefelte in eleganten Lederschuhen durch den Regen zum Parkplatz. Er drückte auf den Schlüssel in seiner Hand und stieg in den schwarzen Porsche. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Er würde zu Stinas Wohnung fahren und sie zur Rede stellen. Wie kann sie es wagen, meine Anrufe zu ignorieren, wütete er innerlich. Mit starrem Blick drückte er den Schlüssel in seiner Hand, stieg ein und zog die Tür so heftig zu, dass es knallte. Marcel startete den Motor und verließ mit durchdrehenden Reifen das Gelände.

Eine halbe Stunde später hielt er vor dem Haus, in dem seine Verlobte ihr Appartement hatte. Stina wohnte dort seit zwei Jahren und war nicht dazu zu bewegen, bei ihm einzuziehen. Sie wollte zuerst in Ruhe ihr Studium abschließen. Auf eigenen Beinen stehen, hatte sie gesagt. Marcel lächelte verächtlich, als er den Altbau hinauf sah. Es brannte kein Licht in ihrer Wohnung.

Auf der anderen Seite hatte ihre Weigerung ihm neue Möglichkeiten aufgezeigt. So konnte er, wann immer er Lust hatte, willige Frauen in sein Bett holen. Er liebte es, sie zu benutzen, hart mit ihnen umzugehen, und nicht selten verließen die unbedarften Mädchen weinend seine Wohnung. Ihm war es egal. Sie waren austauschbar. So konnte er Neigungen nachgehen, von denen niemand etwas ahnte, Stina schon gar nicht. Sie hatte damit nichts zu tun, und so sollte es bleiben. Sie war sein unschuldiger Engel, die Mutter seiner zukünftigen Kinder. Marcel presste die Zähne aufeinander und stieg aus dem Wagen.

»Scheiße. So kommst du mir nicht davon«, fluchte er und trat in den Hauseingang. Marcel klingelte mehrmals bei Stina, bis er sich sicher war, dass sie nicht zu Hause war. Dann kam ihm der Gedanke an die Nachbarin und er drückte auf deren Klingel. Der Türsummer brummte, und er eilte die wenigen Stufen hinauf. »Ach, Marcel, du bist es«, murmelte die sportliche Mittzwanzigerin nicht erfreut. Er sah, wie sie mit der Hand durch ihre kurzen dunklen Haare fuhr. Eilig zog sie ihr Höschen zurecht und hielt die Arme verschränkt vor ihre Brüste, über denen sie nur ein durchsichtiges Trägerhemd trug. Sie schien geradewegs aus dem Bett zu kommen. »Dass du dich hier überhaupt noch her traust!« Die Frau funkelte ihn böse an und wollte die Tür zuschlagen. Marcel stellte den Fuß dazwischen. »Wo ist sie? Ich muss sie sprechen. Ist sie hier?« Er sah sie durch verengte Augen an und wurde noch blasser. Die Frau, die halbnackt vor ihm stand, fühlte sich plötzlich unwohl. »Ich werde dir ganz sicher nicht erzählen, wo sie hingefahren sind.« Sie hielt inne und wurde sich augenblicklich ihrer Worte bewusst. Sie wurde rot und biss sich auf die Lippen. Marcel sah sie entgeistert an und schnaubte gefährlich. »Wer ist der Kerl? Rede!«, schrie er so laut, dass Speichel in ihre Richtung spritzte. Mit Wucht stieß er die Tür auf und drängte Hanna Westphal in den Flur ihrer Wohnung. Mit einem derartigen Angriff hatte sie nicht gerechnet. »He, was willst du? Ich weiß nicht, wo sie hin sind.«

»Mit wem ist sie weg? Wie heißt er?«, schrie er noch einmal. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das tue ich nicht! Wenn ich dir das erzähle, spricht sie nie wieder ein Wort mit mir.« Marcels Blick ließ sie erschrocken zusammenfahren. Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er nahm den Arm hoch, legte seine Hand um ihren Hals und würgte sie. Hanna wollte schreien, aber ihre Stimme erstarb. »Wenn du mir nicht augenblicklich verrätst, was ich wissen will, mache ich dich kalt«, flüsterte er eisig und drückte fester zu. Die junge Frau keuchte, versuchte zu atmen und verzweifelt seine Hand von ihrem Hals zu befreien. Ihr Gesicht wurde tiefrot und ihre Augen quollen aus den Augenhöhlen hervor. »Rede!«

»Sie sind ans Meer … ans Meer, eine Insel auf Feh… Fehmarn … lass endlich los.« Marcel lockerte erstaunt den Griff. »Sie machen Urlaub in einer Hütte im Wald«, krächzte sie und versuchte mit letzter Kraft, seine Hand von ihrem Hals zu lösen. Ihr wurde schwindelig und sie hatte Angst, die Besinnung zu verlieren.

Marcel ließ los, holte aus und stieß sie gegen die Wand. »Wer ist sie? Rede!«, schrie er. Sie sackte zusammen. Am Boden kauernd, hielt sie mit der Hand ihren Hals und sog gierig Luft ein. Im Rachen brannte es, als hätte jemand ätzende Flüssigkeit hineingeschüttet. »Mit ihren Freundinnen. Nur mit Freundinnen«, röchelte sie. »Wenn du mich belogen hast, komme ich zurück und … töte dich«, sagte Marcel gefühllos, sah auf sie hinunter, stieß ihr seinen Schuh mehrfach brutal in die Seite und verschwand.

Sie lag mehrere Minuten am Boden und konnte sich nicht bewegen. Schmerzen und Panik erfassten ihren Körper. Die Verletzungen lähmten sie und sie hatte Angst aufzustehen. Sie wusste, dass sie ihre Nachbarin in Gefahr gebracht hatte. Sie musste Stina warnen. Der Typ ist zu allem fähig, dachte sie verzweifelt. Mit schmerzverzerrtem Gesicht quälte sie sich hoch, bis sie auf wackeligen Beinen stand. Sie hielt sich am Türrahmen fest, hangelte sich an der Wand entlang, bis sie in der Küche war. Immer wieder griff sie mit einer Hand an ihren Hals. Sie riss ein gelbes Post-it vom Kühlschrank. Ihr Handy lag auf dem Küchentisch. Sie schleppte sich hin und ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen. Schwer atmend griff sie nach dem Telefon und wählte mit zittrigen Fingern die Nummer, die Stina auf dem Zettel notiert hatte, bevor sie losgefahren war. »Für alle Fälle«, hatte sie gesagt. Hanna wartete. »Dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar … dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar …«

*

Charlotte huschte durchs Wohnzimmer und strich mit dem Finger über den Sockel der Vitrine. »Heiland Mailand. Ich glaube, ich muss mal wieder sauber machen, ist schon eine Weile her.« Sie betrachtete ihre Fingerkuppe und pustete den darauf liegenden Staub herunter. Katrin sah von ihrem Buch auf und blickte ihre Tante fragend an. »Na, dann hast du ja jetzt jede Menge Zeit. Im Januar sind keine Veranstaltungen, die du sprengen könntest, und auch sonst ist es mehr als ruhig auf der Insel, oder?«

»Was soll das heißen?«, sagte Charlotte und stopfte eine Haarsträhne zurück in ihren Zopf. »Ich sprenge schon mal gar nichts, und du könntest mir ja vielleicht beim Saubermachen behilflich sein. Was hältst du davon?«

»Ehrlich gesagt, nichts! Man sieht den Staub doch gar nicht. Es ist dunkel! Ich möchte sehr gern noch einen Moment weiterlesen und später nach Oldenburg fahren. Ich will mich mit Dirk treffen. Wir haben uns seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Ich habe wirklich Sehnsucht nach ihm«, flüsterte sie und schniefte. Charlotte sah Katrin an und erkannte Traurigkeit in ihren Augen. »Weinst du?«

»Nein, ich glaube, mich hat eine Erkältung erwischt. Ich muss mal wieder Ingwertee trinken.«

»Hast du von diesem Virus gehört? Nele hat mir davon erzählt, dass in einer Stadt in China Fälle von schwerer Lungenentzündung aufgetreten sind. Da sind sogar schon Menschen gestorben. Stell dir das mal hier vor«, sagte Charlotte und schüttelte den Kopf.

»Das will ich mir gar nicht vorstellen. Außerdem ist das weit weg«, entgegnete ihre Nichte. »Ich will jetzt auch los.« Katrin legte ihr Buch aus der Hand.

»Hm, hast recht. Ist weit weg. Wuhan, ich weiß nicht mal, wo das ist. Dann hole ich mir mal mein Putzzeug, und du gehst kuscheln«. Ihre Nichte schüttelte den Kopf. »Anstatt sich beim Putzen zu verausgaben, solltest du dich lieber ausruhen. Du siehst irgendwie blass aus, Tantchen. Mach mal halblang.«

Charlotte Hagedorn fühlte sich tatsächlich seit Tagen schlapp. Sie empfand keinerlei Antrieb. Deshalb hatte sie sich aufs Fahrrad geschwungen, um an die frische Luft zu kommen, und war zum Leuchtturm Staberhuk gefahren. Die kühle Brise tat ihr gut und das Zusammentreffen mit den jungen Frauen hatte ihr wieder frischen Auftrieb gegeben. Das ist der Winterblues, dachte sie und machte sich auf den Weg, um ihren Putzeimer aus dem Schrank zu holen.

*

Am gleichen Abend hatte sich das Innere der Hütte in wohlige Atmosphäre verwandelt. Im Ofen knisterte ein behagliches Feuer, und die Stimmung war gelöst. »Wollen wir zusammen kochen? Ich habe einen Bärenhunger«, fragte Stina. »Na, das ist ja mal eine Ansage«, erwiderte Lotta und sprang vom Sofa. Sie hatte sich in eines ihrer mitgebrachten Bücher vertieft. »Jeder macht, was er am besten kann. Ich setze Wasser für Spaghetti auf.«

»Ja, und ich mache die Tomatensoße. Jemand etwas dagegen?« Tilda sah beide unbeeindruckt an. »Und ich sorge dann mal für die Getränke.«

»Nein, du kannst Zwiebeln und Speck würfeln und braten.«

»Jaja, damit meine Tränen fließen, wenn ich diese runden Titanen besiege«, sprach Tilda mit weinerlicher Stimme, hielt eine Zwiebel in ihren Händen und streckte sie zur Decke. »Aber sie werden mitnichten in Edelsteine verwandelt. Das werden die Götter nicht zulassen. Es werden keine Freudentränen sein.«

»Oh Mann, unsere Philosophin«, lachte Lotta. »Okay, dann brauche ich auf jeden Fall einen anständigen Küchenwein. Wer ist dabei?«, grunzte Tilda. Die Frauen nickten. Die Studentin zog eine Rotweinflasche aus ihrem Rucksack und öffnete sie. Sie setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Grinsend stellte sie sie auf den Tisch. »Aber sonst geht’s noch, oder?«, entgegnete Lotta und sah sie fragend an. »Wir sollen doch jetzt wohl nicht alle aus dieser Flasche trinken.«

»Mann, stellt euch nicht so an. Das haben wir früher immer so gehalten, und da hat es niemanden gestört. Und wir haben mehr als eine Pulle genauso leer gemacht.« Tilda zog weitere Zutaten aus der Einkaufstasche. Sie suchte nach einem Brett und fing an, Speck und Zwiebeln mit einem scharfen Küchenmesser zu zerhacken. »Sei nicht beleidigt. Ist alles gut. Und lass den Speck, der ist schon tot«, griente Lotta und griff nach der Rotweinflasche. Sie nahm einen tiefen Schluck, bis sie prustete, weil Tilda mit heraushängender Zunge die Lebensmittel bearbeitete. Sie hielt Stina die Flasche entgegen, die es ihr gleichtat. Und auf einmal gackerten alle drei, bis Lotta zusammenfuhr und ihren Blick abwandte. »Habt ihr das auch gesehen?«, wollte sie wissen und rieb sich die Hände. »Was?«, fragte Stina verunsichert. »Ne, ich dachte, ich hätte einen …« Sie schüttelte den Kopf und lenkte das Gespräch wieder auf das Essen.

Die Frauen alberten herum, bis die Spaghetti in einer großen Emailleschüssel mit Tildas Speck-Zwiebel Gemetzel dampfend auf dem Tisch standen. Die zweite Flasche Wein wurde geköpft, und Stinas Liebeskummer schien für den Moment vergessen. »Nun sagt mal, wir haben es doch hier nett getroffen, oder?«, wollte Lotta wissen. »Ja, du hast recht. Diese Abgeschiedenheit lässt uns entschleunigen. Mir tut das nach den Gesprächen mit unserem Professor wirklich gut.«

»Ja, du bist doch bald fertig mit deinem Studium. Und hast du schon einen Praktikumsplatz?«, wollte Stina wissen. »Ich werde aller Wahrscheinlichkeit nach in den Journalismus gehen. Das interessiert mich am meisten. Da kann ich mich entfalten! Praktikum? Darum kümmere ich mich, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Was hast du da hinten eigentlich für ein Buch liegen?«, fragte Lotta und deutete auf die interessant anmutende Lektüre, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel lag.

»Das ist von Kant Kritik der reinen Vernunft. Ich lese es gerade zum dritten Mal«, erklärte Tilda und sprach weiter, »das ist eines der weltweit meistbeachteten Werke der Philosophie.«

»Und worum geht es?«, wollte Stina wissen. »Kant widmet sich darin einer philosophischen Schlüsselfrage: Was kann ich wissen? Oder anders ausgedrückt: Kann es Urteile unabhängig von Erfahrung geben? Ist sehr aufschlussreich. Sollte jeder gelesen haben.«

»Aber im täglichen Leben hilft es mir nicht unbedingt«, murmelte Lotta. »Mein Fokus ist auf die Pflege und Betreuung kranker Menschen gerichtet und auf die tägliche Unterstützung der Ärzte. Der Wille, zu helfen und Leben zu retten, ist in meinen Augen reine Philosophie.«

»Was habe ich es als Sportstudentin doch leicht«, seufzte Stina und drehte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. »Na ja, als leicht würde ich es nicht bezeichnen, den ganzen Tag Kindern Sportunterricht zu geben. Das erfordert absolute Disziplin. Ich möchte in der heutigen Zeit kein Lehrer sein. Du bekommst nicht unbedingt einen leichten Beruf«, entgegnete Lotta und ließ ihre Gabel sinken. »Na ja, die erste Hürde ist wohl, dass man Freude am Umgang mit Kindern und Jugendlichen haben sollte. Und das ist für mich schon ein riesiger Motivator. Ich liebe Kinder. Ich denke, ich habe genügend Durchsetzungskraft, Geduld und ein sicheres Auftreten. Das braucht man, wenn man auf Lehramt im Sport studiert. Und sportmotorische Vorkenntnisse habe ich auf jeden Fall durch meine eigenen Sportarten. Ich weiß, das ist für mich genau der richtige Beruf … meine Berufung, um es zum Abschluss auch philosophisch auszudrücken.«

»Ich kann nicht mehr.« Tilda folgte ihr und legte ihr Besteck aus der Hand. »Ich bin so satt, ich mag kein Blatt.

Und genau aus diesem Grund lasst uns endlich ankommen, alles Berufliche loslassen und … Party machen. Deshalb sind wir doch hier, oder?« Tilda zog die Schublade auf, nahm ihr Handy heraus, obwohl Lotta gerade Zweifel anmelden wollte, und legte es mitten auf den Esstisch. Sie hatte ihre Playlist angestellt, weil sie wusste, dass sie kein Netz in diesem Wald empfangen konnten, und erhöhte die Lautstärke. Übermütig schob sie den Stuhl beiseite und rief: »Los, Mädels, jetzt wird sich vom Alltag losgelöst. Kommt schon.« Sie zog Stina hoch und forderte Lotta mit eindeutiger Geste auf, sich ebenfalls zu erheben. Tilda zuckte und sprang im Rhythmus der Musik. Sie schüttelte ihre Haare und wirbelte wie im Rausch durch die Hütte. Stina lachte und fing an, im Takt durch den Raum zu tänzeln. Sie griff Lottas Hände, und am Ende sprangen die drei Frauen, wie Hexen ums Feuer, durch das Zimmer. Der Partymix, den sie heruntergeladen hatte, brachte die Freundinnen von ihren negativen Gedanken ab. Vor der Hütte war es dunkel. Ein Reh, das unweit der Holzhütte nach Nahrung suchte, verharrte still und beobachtete das Treiben in der Hütte mit aufgestellten Ohren und starrem Blick aus dem sicheren Versteck.

»Ich muss mich einen Augenblick setzen, ich kann nicht mehr«, prustete Lotta und ließ sich mit hochrotem Kopf auf einen der Stühle sinken. Die beiden anderen kicherten und schleuderten ihre Haare durch die Luft. Die OP-Schwester sah ihnen dabei zu. Sie spürte einen kalten Luftzug im Nacken und hatte den Eindruck, jemand würde ihr etwas zuflüstern. Lotta drehte sich erneut um, weil die Empfindung, beobachtet zu werden, immer intensiver wurde. Allerdings behielt sie ihr Gefühl für sich, um Stina nicht zu ängstigen, die gerade alle Probleme vergessen zu haben schien. Sie stand auf und trat ans Fenster.

Im Wald war es stockdunkel. Das Licht aus dem Raum erhellte nur eine kleine Fläche vor dem Haus. Sie riss sich zusammen und gesellte sich zurück zu den Freundinnen. In Gesellschaft war ihr eindeutig wohler.

»Ist hier schon ein bisschen unheimlich mitten im Wald«, hauchte sie Tilda ins Ohr, die verschwitzt um sie herumtanzte. Die Philosophiestudentin warf einen Blick zum Sprossenfenster und rief, als hätte Lotta sie aufgefordert: »Geisterstunde! Was hat die Alte erzählt? Hier gibt es jede Menge Geschichten über den Wald und den Staberhof. Hat sie doch gesagt, oder?« Stina blieb augenblicklich stehen, sah sie an und nestelte nervös an ihren Haaren herum. »Lass das Thema endlich mal ruhen. Wir sind hier, und alles ist bestens. Mach mir nicht immer Angst.«

»Das ist doch um einiges besser, als über deinen Kerl zu reden, oder?« Lotta ging entschlossen zum Tisch und drückte auf das Handy, bis die Musik verstummte. Sie wollte sich lieber setzen, um sich weiter zu unterhalten. »Hey, was soll das?«, rief Tilda und blieb verschwitzt stehen.

»Dann eben Geisterstunde. Was haltet ihr von Gläserrücken? Ich finde, wir sollten die Stimmung nutzen, um ein bisschen Spaß zu verbreiten«, sagte Tilda und änderte ihre Meinung so schnell, wie Lotta das Handy ausgeschaltet hatte. »Brauch ich nicht, auf keinen Fall«, erwiderte Stina, setzte sich und zog ihre Füße auf die Stuhlkante, als hätte sie Angst, etwas könnte um ihre Beine schleichen. »Schisser!«, tönte die quirlige Freundin.

»Bin ich überhaupt nicht.« Sie nagte auf ihrer Unterlippe. »Dann machen wir das eben. Ich will hier nicht immer als Spielverderber dastehen. Ist doch sowieso alles nur fauler Zauber.« Stina rollte mit den Augen und täuschte Gleichgültigkeit vor. Sie stand auf, stapelte die Teller aufeinander und machte Anstalten, sie in die Spüle stellen. Dabei stolperte sie über die Kante des Sisalteppichs, der unter dem Küchentisch ausgelegt war, und ließ sich zurück auf ihren Stuhl fallen, bevor ihr die Teller aus den Händen gleiten konnten. Tilda zog die Augenbrauen hoch, als sie ein Stück wesentlich helleren Holzboden unter dem Teppich entdeckte. Sie sprang zum Tisch und sank davor auf die Knie. Sie hatten vielleicht einen geheimnisvollen Platz aufgespürt. Tilda zerrte am Teppich und schlug ihn zurück, soweit es möglich war. Begeistert stellte sie fest, dass der Holzboden darunter anders aussah als im Rest des Raumes. Sie klopfte gegen das Holz und sah die Mädchen an. »Klingt das nicht merkwürdig hohl?« Tilda presste das Ohr auf den Boden und lauschte den Geräuschen, die sie selbst verursachte. Lotta sah Stina kopfschüttelnd an.

»Was vermutest du denn unter dem Tisch?«, fragte sie ihre Freundin.

»Vielleicht ist darunter ein Keller. Und da liegen Schätze vergraben«, flüsterte Tilda verschwörerisch. »Wir sind hier in einer Hütte, tief im Wald.

Da könnte sich wer weiß was befinden …«

»Was sollte jemand in dieser Waldhütte mit einem Keller? Völlig unpraktisch«, entgegnete Lotta und zog das Haargummi aus ihren Haaren. »Es klingt aber hohl. Hört ihr das nicht? Vielleicht gibt es da tatsächlich einen Keller oder ein Verlies, und da unten liegt eine Leiche … uahh …« Lotta lachte, und Stina zog die Beine noch enger an ihren Körper. Ihre Miene verfinsterte sich immer mehr.

»Blödsinn! Ein Keller in einer Hütte im Wald.« Lotta schüttelte erneut den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Du mit deiner Fantasie. Da ist nichts als Erde unter dem Holz. Du spinnst!« Tilda klopfte, lauschte und untersuchte den Boden auf einen Verschluss. Sie verzog das Gesicht, schmollte und sah ein, dass die Freundin recht hatte. Ernüchtert zuckte sie die Schultern und zog den Teppich wieder zurück. »Dann eben nicht. Lass uns endlich mit dem Gläserrücken anfangen«, murrte sie.

Lotta folgte einem Instinkt, bewegte sich zur Tür und trat nach draußen. Sie nahm leise Geräusche wahr, die sich im Gehölz verbreiteten. Äste knackten, und ein undefinierbares Pfeifen tönte zwischen den Bäumen. Angestrengt blinzelte sie in die Dunkelheit und hatte erneut das Gefühl, als würde sie beobachtet werden. Schnell drehte sie sich auf dem Absatz um und schloss die Tür.

Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken.

*

Marcel raste mit über 200 Stundenkilometern über die Autobahn Richtung Fehmarn. Er hatte sich, als er Stinas Nachbarin aufgesucht hatte, auf den Weg machen wollen, um sie zu suchen. Allerdings hatte sein anschließender Alkohol- und Kokainkonsum ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er touchierte mit seinem Porsche einen Baum und war nach Hause gefahren, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf zu finden. Heute, drei Aspirin und zwei Liter Wasser später, klärte sich das Chaos in seinem Kopf. Mit dem Restalkohol im Blut setzte er sich frisch geduscht hinter das Steuer des schwarzen Wagens. Der Startupper wunderte sich über die Beule auf der Beifahrerseite. Es war nicht das erste Mal, und morgen würde er den Wagen in die Werkstatt bringen. Aber jetzt musste er handeln. Er würde seinen Charme einsetzen. Das hatte bei Stina bisher immer gewirkt. Er lächelte, und im nächsten Moment erstarrte sein Blick. Und wenn sie nicht funktioniert, wird sie mich kennenlernen, dachte er verbissen. Seine Hände umkrampften das Lenkrad. Die Knöchel traten bleich hervor. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihm sein wutverzerrtes Gesicht. Die Anspannung steigerte sich mit jedem Kilometer. Was bildete die sich ein? Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mit der rechten Hand öffnete er das Handschuhfach und wühlte sich durch Pfefferminzbonbonpapier und missachtete Strafzettel. Dann ertastete er mit seinen Fingerspitzen ein kleines silbernes Päckchen. Er brauchte jetzt etwas, um herunterzukommen. Marcel öffnete das gefaltete Silberpapier mit zwei Fingern, während er sich weiter auf die Fahrbahn konzentrierte. Weißes Pulver kam zum Vorschein. Marcel warf einen Blick darauf, lächelte und hielt sich das Kokain unter die Nase. Dann sog er den Staub tief in seine Nasenlöcher. Die Geschwindigkeit des Wagens behielt er bei. Das Papier fiel achtlos zu Boden. Marcel zog noch einmal gierig Luft durch die Nasenflügel und schloss für den Bruchteil einer Sekunde die Augen. Dann drehte er die Musik im Radio auf und hielt weiterhin das Gaspedal bis zur Bodenplatte durchgedrückt. So raste er dahin. Die Lichter der Autos zogen rote Fäden und verschwammen vor seinen Augen.

*

Eine halbe Stunde später saßen die Freundinnen um den hölzernen Couchtisch. Tilda breitete einen Bogen Papier aus, den sie aus einer alten Einkaufstüte gebastelt hatte, und kritzelte mit einem Kugelschreiber sonderbare Zeichen, Buchstaben und Zahlen darauf. In der Mitte des Papierbogens stand ein umgestülptes Wasserglas. Sie sah sich um und entdeckte auf dem Fenstersims eine Kerze. Lächelnd stellte sie die auf den Tisch zu den anderen Sachen. »Die ist zwar halb heruntergebrannt, aber das dürfte reichen.« Sie entzündete sie. »Stinchen, mach bitte das Fenster auf.«

»Und wozu soll das gut sein?«, wollte sie wissen und biss sich auf die Lippen. Ihre Hände schwitzten, und ihr Mut hatte sie längst verlassen. Sie hatte keine Lust mehr, Gläser zu verrücken, traute sich aber nicht, dies kundzutun. »Damit die Seelen der Verstorbenen, falls wir welche erreichen, auch wieder raus können.« Tilda holte einen Salzstreuer vom Regal und fing an, einen Salzkreis auf den Tisch streuen. »Was soll das denn werden?«, wollte Lotta wissen. »Um bösartige Geister fernzuhalten, die es nicht unbedingt gut mit uns meinen«, antwortete sie. »Und die weiße Kerze?«, fragte Stina mit glasigem Blick. »Damit wir nur Kontakt zu positiven Wesen bekommen«, flüsterte sie mit ernster Miene. »Und – nicht lachen. Das ist respektlos. Passt auf, dass das Glas nicht umkippt.« Die Mädchen sahen Tilda schweigend an. Lotta spürte erneut einen kalten Luftzug ihren Nacken streifen und war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob dies alles hier eine gute Idee war. Jetzt hat sie mich mit ihrem Gerede über Geister völlig eingelullt. »Is was?«, wollte Tilda wissen. Lotta antwortete nicht und schüttelte nur den Kopf.

»So, es kann losgehen. Und bitte bleibt ganz cool, egal, was passiert.« Die Krankenschwester glaubte weder, dass man Geister rufen konnte, noch an den Hokuspokus, den Tilda gerade veranstaltete. Aber sie war schon zu betrunken, um energisch einzuschreiten. Die ganze Veranstaltung ging ihr gehörig gegen den Strich.

Stina schien ebenso angetrunken zu sein wie sie selbst. Sie saß gleichmütig auf ihrem Stuhl und folgte dem Spektakel ohne einen Anflug von Angst. Stinas Blick wirkte abwesend. Tilda löschte das Licht der Deckenlampe und setzte sich zu ihren Freundinnen.

»Gebt mir eure Hände«, flüsterte die dunkelhaarige Studentin und reichte den Mädchen die Hände. Die drei schlossen einen Kreis. »Bist du da? Ist irgendjemand hier?«, fragte Tilda mit ernster Miene, während Lotta sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Die Einzige, die angetrunken versuchte, der Vorstellung zu folgen, war Stina. »Ist jemand hier? Geist, wenn du da bist, melde dich«, murmelte Tilda mit lallender Stimme. Ihre Augenlider verengten sich, und sie schüttelte vielsagend den Kopf.

Es folgte Schweigen. Lotta zog einige Minuten später ihre Hand zurück, lächelte und wollte aufstehen. »Das darfst du nicht. Du sollst den Kreis nicht unterbrechen.« Tilda sah sie wütend an. »Ach, du mit deinem Hokuspokus«, sagte Lotta und stand auf. Sie zog ihre Jogginghose hoch und trollte sich Richtung Badezimmer. Sie drehte sich um und murmelte: »Lass uns endlich schlafen gehen. Der Unfug hier nervt, und ich habe keine Lust mehr. Morgen können wir weiter auf Geisterjagd gehen. Sieh dir Stinchen an. Sie ist grottenmüde, und wir sind alle drei ziemlich betrunken, wenn du mich fragst.« Sie öffnete die Tür zum Badezimmer, als mit lautem Knall das Fenster zuschlug.

»Da siehst du, was du angerichtet hast«, rief Tilda und wurde bleich.

Küstensturm

Подняться наверх