Читать книгу Küstensturm - Heike Meckelmann - Страница 7
Kapitel 1
ОглавлениеEs sollte eine Reise der Heilung werden und endete in einer Katastrophe.
Stina drehte den Schlüssel im Schloss. Leise öffnete sie die Tür zu Marcels Appartement. Ein sanftes Kribbeln durchströmte ihren Körper, als sie sein unwiderstehliches Lächeln vor sich sah. Er war ihre große Liebe. Zehn Jahre waren sie zusammen. Sie war ein halbes Kind, zurückhaltend und verspielt, als er sie in ihrem Lieblingscafé ansprach, in dem sie mit ihrer besten Freundin oft Zeit verbrachte. Nachdem er am Nebentisch seinen Espresso genippt, sich mit der Hand selbstsicher durch die dunklen Haare gefahren und die Mädchen minutenlang durch gletscherblaue Augen fixiert hatte, kam er zu ihnen und lud sie und ihre Freundin zu einem Kaffee ein. Auf Anhieb hatte der Mann sie beeindruckt, und sie verliebte sich augenblicklich in ihn. Dass er wesentlich älter war, spielte in ihren Augen keine Rolle.
Der 37-jährige erfolgreiche Geschäftsmann verwöhnte sie, bereitete ihr mit jeder Geste und teuren Geschenken ein Leben, von dem andere in ihrem Alter nur träumen konnten. Sie wohnte zu Hause, bis sie mit dem Studium begann, und ihre Eltern beobachteten die Beziehung zuerst mit gewissem Argwohn, der sich schnell auflöste, weil sie ihre Tochter bei Marcel Andresen sicher aufgehoben wähnten. Dennoch baten sie Stina, bis zum Abschluss ihres Studiums in ihrer eigenen Wohnung zu bleiben.
Sie entwickelte sich zu einer attraktiven Frau, weshalb er sie wie einen kostbaren Schatz im Auge behielt. Er war nicht eifersüchtig, er wollte seinen Besitz schützen.
Zu ihrem 27. Geburtstag hielt er den Zeitpunkt für angebracht zu heiraten. Als Zeichen steckte er ihr einen funkelnden Diamantring an den Finger. Das alles klang nach einer fetten Seifenoper.
Heute wollte sie ihn überraschen. Stina hatte sich den Nachmittag freigehalten, obwohl sie für ihre Abschlussarbeit lernen musste. Die zierliche Studentin absolvierte ein Studium in Sport und Politik. Marcel hatte sie gebeten, nicht zu studieren. Er hielt es nicht für angebracht. Sie sollte als Frau an seiner Seite brillieren und brauchte in seinen Augen kein Studium. So schmeichelhaft sie es empfand, so verbissen stritt sie mit ihm um ihre persönliche Freiheit. Marcel war erfolgreicher Startupper und verdiente ein Vermögen mit seiner Marketingfirma im Bankenviertel von Frankfurt. Sie wollte ihm nicht nachstehen und ihre Unabhängigkeit bewahren. Aber heute hatte sie vor, ihn zu verwöhnen.
Lautlos schlich Stina voll Vorfreude in den Flur, zog das Haargummi aus ihren langen weizenblonden Haaren und schüttelte sie. Marcel liebte es, wenn sie ihre Haarpracht offen zur Schau stellte. Er nannte sie dann Rapunzel, was den eigentlichen Stand ihrer Beziehung offenbarte, las man zwischen den Zeilen. Diese Märchenfigur saß in einem Turm gefangen, genau wie sie, nur dass ihrer luxuriös war und sie nicht erkannte, dass er von dort alle Fäden zog.
Ihre blauen Augen strahlten, als sie den weitläufigen, mit schwarzem Marmor gefliesten Flur entlangschritt, um den Wohnbereich zu betreten.
Vor einer halben Stunde hatte sie in Marcels Firma angerufen. Seine Assistentin, die ihn besser kannte als jeder andere, hatte ihr mitgeteilt, dass er zu einem Termin sei und dann direkt nach Hause fahren wollte. Jetzt würde sie ihn überraschen. Ihr Blick wanderte zur modernen, ebenfalls mit schwarzen Fliesen und gleichfarbigen Hochglanzschränken ausgestatteten Küche, um dann beim Panoramablick der Frankfurter Skyline hängenzubleiben. Diese Aussicht würde in naher Zukunft ihr Zuhause sein. Ihr Herz schlug heftig. Sie warf einen Blick auf den funkelnden Verlobungsring, der an ihrem linken Ringfinger sein Feuer versprühte, wie Marcel es ausdrückte. Langsam zog Stina eine Flasche aus ihrer dunkelblauen Ledertasche … Dom Perigon … An diesem Abend wollte sie ihm zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Dazu gehörte nicht nur der Champagner, sondern auch das rote Nichts aus hauchdünner Seide, das mehr zeigte als verhüllte und das sie in ihrer Tasche verwahrte. Marcel hatte nie verlangt, sie in Dessous zu sehen, was sie zur Kenntnis nahm, aber nicht beunruhigte. Er war eben anders als andere Männer. Sie drückte das weiche Leder der Tasche an sich, um diesen besonderen Schatz zu hüten, und bekam rote Wangen. Stina zog am Wasserfallkragen ihrer meerfarbenen Bluse, als hätte sie Atemnot. Sie öffnete den Kühlschrank, um die Flasche kaltzustellen, als sie im Hintergrund leise Musik wahrnahm. Stina blieb stehen und lauschte. Sie legte ihre Tasche auf die Kücheninsel, um nachzusehen, woher sie kam. Marcel hatte sicher vergessen, das Bluetooth-Gerät im Bad auszustellen? Sie wusste, dass dies vorkam, weil er ständig in Eile war. Ein Workaholic. Und zu Hause konnte er nicht sein, das hatte sie von seiner Assistentin erfahren.
Stina hielt noch immer die Flasche in der Hand und huschte auf dem Steinboden Richtung Schlafzimmertür, um in das angrenzende Bad zu gelangen.
Als sie die schweren schwarz lackierten Eichentüren aufschob, blieb ihr Herz für einen Augenblick stehen. Das Szenario, das sich ihr bot, ließ sie geschockt im Türrahmen verharren. Innerhalb eines Moments zersprang das Bild einer glücklichen Beziehung in 1000 Scherben. Sie war wie gelähmt und nicht in der Lage, ein einziges Wort herauszubringen. In ihr explodierte das Gefühl, jemand würgte sie und sie müsste sterben. Ihr wurde schwindelig. Ihr Blick war starr auf das Bild vor ihr gerichtet.
Auf dem Kingsizebett lag Marcel … nackt auf dem Rücken. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte erregt. Auf ihm hockte rittlings eine Frau mit schulterlangen, lockigen dunklen Haaren, die sich in Ektase wild mit den Fingern durch die Mähne fuhr. Seine Hände hatten ihre Hüften gepackt und gaben den ruckartigen Takt an. Sie stöhnte aufgegeilt und bewegte sich im vorgegebenen Rhythmus auf Marcels Lenden. Er schnaufte durch die Nase und befahl mit eiskaltem Ton: »Los, gib’s mir. Fick mich! Härter, du Schlampe.« Er rammte die Unbekannte wie einen Amboss auf seinen Schwanz und schien kurz vor dem Höhepunkt zu stehen. Stina sah sein verzerrtes Gesicht, dann glitt ihr Blick zum gläsernen Nachtisch. Dort lag ein Streifen mit weißem Pulver und ein zusammengerolltes Stück Aluminiumpapier. Sie wusste sofort, dass es sich um Kokain handelte.
Tränen stiegen in ihre Augen, als Marcel nach den Brüsten der Frau griff und sie hart durchknetete. In Ekstase schlug er die Augenlider auf.
Sein verzerrter Blick traf ihren. Ruckartig stieß er die stöhnende Person von sich und schnellte hoch. Seine Bettgefährtin landete neben Marcel auf der Matratze und sah ihn fassungslos an. Im gleichen Moment entdeckte sie, warum er sie heruntergestoßen hatte. Sie erfasste die Situation, lehnte sich lasziv auf die Seite und fuhr ihrem Liebhaber besitzergreifend mit den Fingerspitzen über seine nackte Brust. Lächelnd wischte sie mit der anderen Hand Pulverreste von ihren Lippen, um sie genüsslich vom Handrücken zu lecken.
»Stina, es ist nicht, wonach es aussieht«, war Marcels peinlicher Versuch, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, und der erniedrigende Satz, der 1.000-fach in derartigen Situationen benutzt wurde, um zu retten, was nicht mehr zu retten war. Er stieß die Frau erneut von sich, schnellte aus dem Bett, streifte eine am Boden liegende Hose über die Hüften und schoss auf seine Verlobte zu. Seine dunklen Haare hingen ihm vor den Augen. Stina holte aus, schlug Marcel die flache Hand ins Gesicht, drehte sich um und griff nach der auf dem Tresen liegenden Tasche. Sie war im Begriff, fluchtartig die Wohnung zu verlassen, als sie bemerkte, dass sie die Flasche Champagner noch immer in der Hand hielt. Sie holte tief Luft, und drehte sich um. Mit eiskaltem Blick ging sie zurück, sah Marcel mit wutverzerrtem Gesichtsausdruck im Raum stehen und schmetterte den Dom Perigon gegen die Wand über dem Bett. Die Fremde schrie auf und hielt schützend ihre Arme vor die Augen. Die Flasche zersprang in 1.000 Stücke, und die Scherben fielen auf die zerwühlten Seidenlaken. Der Champagner hinterließ einen riesigen Fleck an der Betonwand, der sich Richtung Fußboden ausbreitete. Stina drehte sich um und rannte zur Eingangstür. Sie hörte seinen Schrei durch das Loft hallen, als sie die Tür hinter sich schloss. Dann war ihre Kraft verbraucht.
Sie wollte ihn nie wiedersehen …