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ОглавлениеFürchte den Bock von vorn,
das Pferd von hinten und das Weib von allen Seiten.
(Anton Tschechow)
Zufrieden mit sich und der Welt und überaus erfreut über die Spielsucht eines gewissen Transportunternehmers lehnte sich Luciano Carpetti in seinem bequemen Ledersessel zurück und drapierte seine edel beschuhten Füße auf seinem Schreibtisch.
Gab es etwas Schöneres als einen gelungen geschäftlichen Coup? Naja, vielleicht noch richtig guten Sex – obwohl sich Carpetti da wohl doch eher fürs Geschäft entscheiden würde. Sex bekam man überall problemlos. Eine diskrete und nahezu narrensichere Methode, seine ganz speziellen Waren zu transportieren, jedoch nicht allzu häufig.
Es war eindeutig angebracht, sich neue Wege zu erschließen, da er in letzter Zeit das dringende Gefühl hatte, gewissen geschäftsschädigenden Einflüssen ausgesetzt zu sein. Allzu oft klebten neuerdings ein paar sehr verdächtige Subjekte an seinen Fersen. Seine bisherigen Transportwege wurden beobachtet, was auch seinen Geschäftspartnern nicht verborgen blieb – und die wurden langsam nervös.
Durch die nette kleine Vereinbarung mit dem guten Mr. Jacoby war nun aber alles wieder in Butter. Wer würde schon vermuten, dass ein so qietschsauberer Bürger wie dieser Typ bis zum Hals in krummen Sachen steckte? Carpetti lachte leise in sich hinein. Keiner würde das vermuten. Am wenigsten die Heinis von der ATF, und genau auf die kam es ihm an.
***
Völlig in Gedanken versunken betrat Molly Flannagan Gino’s Pizza, die - wie immer um die Mittagszeit - gut besucht war, was sehr wahrscheinlich weniger an Gino Falcones Kochkunst als vielmehr an den wirklich günstigen Angeboten von 11.00 bis 14.00 Uhr lag. Dankbar registrierte sie die freie Fensternische und ließ sich auf die leicht abgewetzte Sitzfläche der Eckbank fallen. Bei Gino’s gingen alle möglichen Typen ein und aus, die meisten jedoch waren Arbeiter von den Docks am nahe gelegenen Frachthafen. Molly hasste nichts mehr, als zwischen den markigen Typen am Tresen sitzen zu müssen. Auch wenn sich die meisten mit blöden Sprüchen zurückhielten, es gab immer ein paar, die sich für den Nabel der Frauenwelt hielten und dementsprechend alles anbaggerten, was ansatzweise weiblich wirkte. Und das schlug Molly in der Regel gehörig auf den Magen.
"Molly, mein Herzchen, was darf ich dir bringen?" Leicht irritiert, aber auch erfreut hob Molly den Blick von der Speisekarte, in der sie gerade geblättert hatte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre – Molly kannte alle Gerichte, die Gino’s zu bieten hatte, auswendig. Schließlich aß sie hier schon seit mehr als fünf Jahren regelmäßig dreimal die Woche. Aber die Stimme, die heute nach ihren Wünschen fragte, war nicht die von Susie, der jungen Bedienung, die sich normalerweise um die Gäste kümmerte, sondern die Stimme von Gino Falcone höchstselbst.
"Hallo, Onkel Gino … das gibt’s ja nicht! Was hat dich denn von deinen Kochtöpfen weggelockt? Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das schon mal erlebt hätte." Molly klappte die Speisekarte zu und legte sie beiseite. Schmunzelnd betrachtete sie den etwas überfordert wirkenden Besitzer des kleinen Lokals, der einen genervten Blick zur Uhr über der Eingangstür warf.
"Susie musste heute früh was erledigen. Eigentlich sollte sie schon längst wieder da sein. Ich hab keine Ahnung, was da los ist. Wahrscheinlich hat sie unterwegs noch sonst wen getroffen und sich festgequatscht. Und jetzt darf ich hier herumhüpfen, während meine Küche von meinem Hilfskoch auseinander genommen wird. Ich wette, da drin sieht's aus wie auf einem Schlachtfeld. Aber du weißt ja, rechnen kann Lucius noch schlechter als kochen. Und sich die Bestellungen merken schon mal gar nicht. Na egal … was möchtest du essen, mein Lieblingspatenkind?" Molly konnte sich lebhaft vorstellen, welche unguten Gefühle in Ginos Bauch rumorten. Er war – was seine Küche anging – ein absoluter Perfektionist. Wehe, eine Schüssel stand nicht dort, wo sie seiner Meinung nach hingehörte. Der arme Lucius würde heute wahrscheinlich noch einiges zu hören bekommen – genau wie Susie, wenn sie erst mal wieder eingetrudelt war.
"Heute wär mir nach dem großen gemischten Salat, Onkel Gino. Das Wasser hier reicht." Hätte Molly Gott gelästert, wäre Ginos Entsetzen nicht größer gewesen. "Einen Salat? Um Himmels willen, warum das denn? Bist du auf Diät oder auf dem Gesundheitstrip oder sowas? Molly-Schätzchen, du bist genau richtig. Lass dir bloß von keinem was anderes erzählen. Diese ganzen Dürrweiber, das ist doch furchtbar. Eine Frau muss Kurven haben. Schließlich sagt man ja auch Fleischeslust und nicht Knochenlust." Gino redete sich richtig in Rage, wurde immer lauter und zog damit nicht wenig Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich, während Molly auf ihrer Sitzbank immer kleiner wurde und überlegte, ob sich ihr mittlerweile garantiert tomatenrotes Gesicht vielleicht mit ihrer Haarfarbe biss.
Sie räusperte sich und faltete verlegen die Papierserviette in immer kleinere Quadrate. "Ähm … Onkel Gino, ich esse öfters nur einen Salat. Frag Susie, wenn sie wieder da ist. Mom kocht abends immer und zweimal warm essen am Tag ist mir einfach zu viel. Außerdem muss ich ja noch arbeiten und mit vollem Bauch kann ich mich so schlecht konzentrieren. Ich mach keine Diät, garantiert nicht. Ich schwöre hoch und heilig."
Molly legte bestätigend die Hand aufs Herz und hoffte, dass dem guten Gino diese Erklärung ausreichen würde und sie bald ihren Salat bekam. Ganz zufrieden schien er immer noch nicht zu sein, aber er verschwand immerhin mit einem wenig überzeugten, unwilligen "Na gut, wie du willst. Aber gib nicht mir die Schuld, wenn du so dünn bist, dass dich keiner mehr anschaut" in Richtung Küche.
Molly kicherte ein wenig vor sich hin, bis ihr wieder einfiel, was sie schon den ganzen Tag beschäftigt hatte und sie schlagartig ernst wurde. Sie mochte ihre Arbeit als Buchhalterin, sie liebte es geradezu, Frachtbriefe und Rechnungen miteinander abzugleichen und endlose Zahlenreihen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Und sie war verdammt gut in ihrem Job. Deshalb waren ihr die merkwürdigen Frachtbriefe natürlich auch sofort aufgefallen. In all den Jahren, die sie jetzt für die kleine Frachtfirma Jacoby International arbeitete, war ihr so etwas noch nie untergekommen.
Gino kam mit verkniffenem Gesicht, einer großen Schüssel Salat und einem kleinen Brotkorb zurück und beendete damit Mollys Gedankengang. Strahlend dankte sie ihm, was er schließlich doch mit einem versöhnlichen "guten Appetit" quittierte. Zumindest bei Gino Falcone wusste Molly, dass wieder alles im Lot war.
***
Nach seinem stundenlangen Hin- und Herlaufen bildete sich im dicken Teppich seines Büros so langsam ein flachgetretener Wanderweg. Steven war so nervös, dass er bei jedem Geräusch zusammenzuckte. Seine Gedanken rasten, sein Herz schlug wie ein Dampfhammer, seine Hände zitterten. Insgesamt fühlte er sich total beschissen.
Verfluchtes Bakkarat!
Warum konnte er sich nicht einfach wie andere Männer in seinem Alter in eine Kneipe setzen und einen heben? Oder warum konnte er sich nicht einfach bei irgendeinem Sport austoben? Nein, es musste Glückspiel sein, bei dem er sich seine Kicks holte. Verflucht und verdammt, wie war er nur auf den bekloppten Gedanken gekommen, dass er seine Verluste immer wieder wettmachen würde? Jeder halbwegs intelligente Mensch wusste schließlich, dass auf Dauer niemand in einem Casino gewann – außer dem Casino selbst.
Jetzt hatte er den Schlamassel. Er konnte nur hoffen, dass ihm keiner auf die Schliche kam. Und dass Carpetti nicht immer mehr fordern würde. Keine Casinos mehr, das schwor sich Steven. Oder zumindest, dass er in Zukunft sofort vom Spieltisch aufstand, wenn seine Barmittel verbraucht waren. Schulden würde er deswegen jedenfalls nicht mehr machen. Wenigstens nicht bei irgendwelchen zwielichtigen Typen … ja, genau, das war ein guter Vorsatz.
Grübelnd blieb Steven schließlich am Fenster seines Büros im fünften Stock des Bürogebäudes von Jacoby International stehen. Er bedauerte zutiefst, dass er seine Firma einem skrupellosen Verbrecher wie Carpetti quasi auf dem Präsentierteller ausgeliefert hatte. Jetzt musste er sich dringend etwas einfallen lassen, um aus der Nummer möglichst ohne Schaden wieder herauszukommen. Nur würde das so schnell nicht klappen. Carpetti würde ihn nie im Leben anstandslos ziehen lassen, selbst wenn er das Geld zusammenbekam und ihn auszahlte. Der ganze Deal lief gerade mal zwei Tage und er steckte mittendrin.
Carpetti hatte ihm bereits einen Zollbeamten genannt, der auf seiner Schmiergeldliste stand und dafür sorgen würde, dass die Container reibungslos verschifft werden konnten. Carpettis Leute würden die zusätzlichen Frachtteile kurz vor dem Verladen verstauen, die Verplombung würde unauffällig erneuert und die Frachtbriefe ergänzt, damit bei der Einfuhr keiner auf die Idee käme, genauer hinzuschauen. Hier würde wahrscheinlich alles glatt laufen – zumindest, solange niemand allzu tief in den Frachtpapieren grub, was aber relativ unwahrscheinlich war, da die Carpetti-Sendungen nach Mexiko oder in irgendein anderes südamerikanisches Land mit sehr laschen Kontrollen geschickt werden sollten.
Nun kam der Haken an der ganzen Sache. Die Frachtpapiere gingen zusammen mit den Rechnungen in die Buchhaltung. Dort wurden sie nochmals überprüft und schließlich entsprechend verbucht. Drei Angestellte teilten sich die Arbeit, drei Frauen, von denen zwei kein Problem darstellten, weil sie noch nicht sehr lange in der Firma waren, einfach nur ihre Aufgaben erledigten und keine Fragen stellten. Doch die dritte könnte möglicherweise zu einem Risiko werden. Molly Flannagan, die Leiterin der Buchhaltung, war schon seit zehn Jahren dabei und erkannte jede noch so kleine Unregelmäßigkeit in den Frachtbögen sofort, da war er sich sicher. Sie war so verflucht ehrlich und peinlich genau.
Natürlich hätte er sie einfach entlassen können, aber die Idee schmeckte ihm so überhaupt nicht. Schließlich er konnte sich hundertprozentig darauf verlassen, dass ihre Abrechnungen bis auf den Cent genau richtig waren - was im Falle einer Buchprüfung jeden Verdacht gegen ihn schon von vornherein ausschließen würde. Nein, entlassen wollte er sie nicht. Es musste eine andere Lösung her. Eine Möglichkeit, sie von den Frachtbriefen fernzuhalten. Bekam sie die als Leiterin der Abteilung überhaupt noch zu sehen? Steven hatte keine Ahnung. Aber er würde es herausfinden.
Mitten in Stevens existenzielle Überlegungen hinein knackte die Gegensprechanlage und er hörte die süßlich-verführerische Stimme seiner Vorzimmerdame. "Mr. Jacoby, Miss Flannagan möchte mit Ihnen reden."
Flannagan - wenn man vom Teufel spricht … Steven musste sich kurz sammeln, bis er seine plötzlich zitternden Knie wieder unter Kontrolle brachte. Sie hatte doch nicht etwa schon …? Schnell ließ er sich in seinen Schreibtischsessel fallen und drückte auf den Antwortknopf "Sicher, kann reinkommen."
Sekunden später öffnete sich seine Bürotür und Miss Überkorrekt Flannagan stapfte auf seinen Schreibtisch zu. Steven betete darum, dass es nur um den Monatsbericht ging, den sie stets persönlich bei im ablieferte. Sein Blick wanderte zum Kalender. Nein, ging es nicht, der Monatsbericht war noch gar nicht fällig. Steven fühlte plötzlich kalten Schweiß auf seiner Stirn.
Molly bemerkte die Unruhe ihres Gegenübers überhaupt nicht, weil sie mit sich selbst zu tun hatte. Sie schluckte, als sie ihren Boss wieder einmal aus direkter Nähe zu sehen bekam. Hach … Mollymädchen, schau bloß nicht zu genau hin!
Er war einfach ein Hammertyp. Einer von den Männern, um die sich die Frauen reihenweise scharten. Und seine Augen erst – strahlend himmelblau. Molly konnte sie nur als "Steve-McQueen"-Augen beschreiben, etwas anderes fiel ihr dazu nicht ein. Ein Traummann … ihr Traummann.
Über ihre plötzlich Polka tanzenden Hormone leicht verärgert, ließ Molly sich auf dem Sessel vor seinem Schreibtisch nieder, als er ihr Platz anbot, und versuchte energisch, sich auf ihr Anliegen zu konzentrieren.
"Mr. Jacoby, mit diesem Lieferschein hier stimmt etwas nicht. Ist mir schleierhaft, wieso der Zoll das abgezeichnet hat. Da fehlt die Hälfte der Frachtangaben."
Steven fuhr ein heißer Schreck in alle Glieder. Offenbar hatte Carpetti die erste Lieferung schon auf den Weg gebracht. Fieberhaft überlegte Steven, wie er sich aus dieser neuen Klemme herauswinden konnte. Mit diesem Problem hatte er nun wirklich nicht so bald gerechnet. Und weil er keinen Schimmer hatte, wie er das schaffen sollte, sprach er das Erste aus, das ihm in den Sinn kam.
"Sie haben wunderschöne Augen, Miss Flannagan."
Verwirrt blickte Molly ihrem Chef ins Gesicht. "Wie bitte? Äh ... ja, danke. Aber zurück zu …"
"Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon für Jacoby International, Miss Flannagan?"
"Zehn Jahre. Aber eigentlich …"
"Warum ist mir noch nie aufgefallen, wie schön Ihre Augen sind? Ist mir unbegreiflich. Darf ich Sie zum Essen einladen, Molly? Ich darf doch Molly sagen, oder? Ich würde wirklich gerne mit Ihnen essen gehen. Vielleicht italienisch? Jeder mag doch italienisches Essen. Ich stelle mir einen richtig romantischen Abend bei einem exquisiten Italiener vor. Und wir unterhalten uns bei einem guten Rotwein darüber, was ich an Ihnen vielleicht sonst noch übersehen habe. Sagen Sie ja, Molly, bitte."
Jetzt war Molly völlig perplex. Ihr Chef, der attraktive Steven Jacoby, der jede Frau haben konnte, die ihm ins Auge stach, wollte mit ihr, einer völlig unauffälligen und langweiligen Buchhalterin ausgehen? Misstrauisch verengten sich ihre Augen.
"Mr. Jacoby, haben Sie vielleicht …" das 'einen gezwitschert' verkniff sich Molly im letzten Moment. Er würde es bestimmt nicht sonderlich gut aufnehmen, wenn seine Angestellte ihm ein Alkoholproblem unterstellte. Mit einem Räuspern setzte sie noch einmal an. "Ähm … geht es Ihnen nicht gut? Ich meine, also ehrlich, ich weiß nicht, was ich davon halten soll."
"Nennen Sie es doch einfach Interesse, Molly. Ich möchte Sie besser kennenlernen. Und ich denke, ein gemeinsames Essen wäre ein guter Anfang. Vielleicht heute Abend um acht, wenn Sie nichts anderes vorhaben?"
Immer noch ungläubig starrte Molly ihren Chef an. Okay, sie war schon seit Jahren heimlich in ihn verknallt, aber das wusste natürlich niemand. Naja, niemand war vielleicht übertrieben, aber er wusste es garantiert nicht. Langsam sickerte die Erkenntnis in Mollys verwirrtes Hirn, dass er sie offenbar endlich bemerkt hatte. Er wollte mit ihr essen gehen. Italienisch. Und sie musste ihm antworten. Irgendwas.
"Ich … ja, gerne, Mr. Jacoby. Das ist … wirklich überraschend, äh, ich meine reizend. Freut mich sehr, danke. Also dann heute Abend. Fein. Ich werd dann mal wieder … arbeiten, unten in meinem Büro. Ja, genau, das werde ich. Auf Wiedersehen, Mr. Jacoby."
Bevor sie noch mehr Schwachsinn von sich geben konnte, sprang Molly auf und verließ im Eilschritt den Raum. Ihre Gedanken kreisten nur noch um die Verabredung, vergessen war der merkwürdige Lieferschein. Steven beobachtete erleichtert ihren schnellen Rückzug. Uff, das war gerade nochmal gut gegangen.
Jetzt musste er nur noch den Abend mit seiner langweiligen Buchhalterin durchstehen und sie endgültig von ihrem Verdacht ablenken.
***
"Brigid, ich brauch dich. Ich hab heut Abend ein Date und keine Ahnung, was ich anziehen soll. Ja, ein Date. Nein, kein Witz." Molly lauschte den intensiven Nachfragen ihrer Schwester, die aus dem Telefonhörer in ihr Ohr waberten. "Meine Güte, so ungewöhnlich ist das doch nun auch nicht, oder? Ist es? Oh … na, egal. Kannst du nachher bei mir vorbeischauen? Ja? Du bist ein Schatz, danke dir, Schwesterchen."
So, die erste Klippe war umschifft. Molly, der Modemuffel, hatte sich Unterstützung gesichert. Es war ja nicht so, dass sie keine Klamotten im Schrank hätte. Aber so auf Anhieb fiel ihr einfach kein passendes Outfit ein, das ihren Boss in irgendeiner Weise auf ihre irgendwo bestimmt vorhandenen Vorzüge aufmerksam machen könnte. Vielleicht war das ja auch gar nicht nötig, ihre schönen Augen hatte er schließlich auch von selbst entdeckt. Allerdings konnte ein wenig optische Hilfestellung keinesfalls schaden.
Drei Stunden später begann Molly ihren Anruf bei Brigid so langsam zu verfluchen. In ihrem Schlafzimmer stapelten sich alle möglichen Kleidungsstücke auf dem Bett, vom permanenten umziehen kam sie langsam ins Schwitzen und Ergebnisse gab's bisher auch noch keine. An allem hatte ihre Schwester etwas auszusetzen.
Die Sachen seien alle viel zu brav. Warum hatte Molly keine Accessoires? Wenigstens ein bunter Seidenschal wär ja schon hilfreich. Die Schuhe seien allesamt ein Albtraum, nicht ein anständiges Paar Pumps zum Ausgehen war da. Das Ganze gipfelte in der Drohung, gleich die nächsten Tage gemeinsam einen ausgedehnten Einkaufsbummel zu unternehmen. Hier zog Molly nun aber eine strikte Grenze.
"Kein Einkaufsmarathon – wozu auch? Entweder, er nimmt, was er kriegt, oder er kann mit der nächsten losziehen. Ich bin nun mal kein Modepüppchen."
Brigid schnaubte unfein. "Auf die Idee würde der Mann auch garantiert nicht kommen. Nicht mit dem Kram hier. Ganz ehrlich, du brauchst unbedingt ein paar neue Sachen. Was ich hier sehe, passt überhaupt nicht zu dir, sondern eher zu einer Nonne. Alles ist so weit geschnitten, dass kein Mensch deine Figur sehen kann – die, unter uns gesagt, gar nicht so übel ist. Du hast keine einzige Bluse mit Ausschnitt, sondern nur hochgeschlossene Shirts. Das Einzige in diesem Schrank hier, was auch nur ansatzweise sexy aussieht, ist dein Morgenmantel, den ich dir übrigens geschenkt habe. Und auch der nur, wenn du nichts drunter hast und ihn offen lässt. Aber den kannst du ja wohl kaum heuten Abend anziehen. Obwohl …"
"Niemals im Leben! Schlag dir das sofort aus dem Kopf - und zwar pronto. Ich zieh diese Hose hier an." Molly griff blind nach einer ihrer schwarzen Stoffhosen. "Und dazu diesen Pulli." Ein hellblauer dünner Pullover landete auf der Hose. "Und noch … irgendwelche Schuhe. So – erledigt."
Brigids Missbilligung leuchtete regelrecht aus ihrer verkniffenen Miene, als sie die beiden Kleidungsstücke in die Hand nahm und auf den großen Stapel in der Bettmitte warf. "So wahr ich hier stehe, Molly Flannagan: Mit diesen Klamotten gehst du nicht zu einem Date! Den Rock hier ziehst du an, diese Bluse und dazu meinen Schal. Ich würde dir ja meine Schuhe leihen, aber die sind dir zu groß und wahrscheinlich würdest du dir beim Laufen auch noch beide Knöchel brechen. Also nimm die schwarzen Ballerinas, das geht wenigstens noch ansatzweise in eine passable Richtung. Und lass die obersten Knöpfe der Bluse offen."
"Aber dann seh ich aus wie eine Stewardess." Molly war mittlerweile schon fast verzweifelt, doch Brigid ließ sich nicht erweichen. "Was hast du gegen Stewardessen? Die sind bei Männern sehr beliebt und in der Regel ziemlich attraktiv. Also hab dich nicht so, sondern geh lieber duschen. Ich überleg mir derweil was für deine Haare, denn so kann das bestimmt nicht bleiben." Unwillkürlich griff sich Molly in ihre dicken Locken. "Du wirst sie doch nicht abschneiden, oder? Brigid? Wehe, wenn du mir die Haare abschneidest! Das würde ich dir sehr, sehr übel nehmen, das wär eine Kriegserklärung. Ich würde nie wieder ein Wort mit dir reden. Nie wieder, verstanden?"
"Abschneiden? Warum sollte ich? Ich bin doch keine Friseuse. So ein Quatsch. Frisieren werde ich dich – irgendwie. Damit man überhaupt etwas von deinem Gesicht sehen kann, du Schaf. In der ganzen Wolle gehst du ja völlig verloren. So, nun aber husch, ab ins Bad. Mach schnell, sonst bist du nicht fertig, wenn er dich abholt. Du hast nur noch eine dreiviertel Stunde."
***
Verstohlen musterte Steven Jacoby immer wieder seine Begleiterin. Eigentlich sah sie gar nicht so übel aus, wenn man sie genauer betrachtete. Naja, die Kleidung war nichts Besonderes und die Frisur erinnerte ihn irgendwie an ein ziemlich flauschiges Vogelnest. Aber sie war hübsch, ihre Figur war ganz okay und sie hatte Humor. Der Abend könnte weitaus unangenehmer sein.
Stevens Überlegungen wurden vom Kellner unterbrochen, der den exquisiten Hauptgang ihres Menüs servierte. Mollys Gesichtsausdruck wechselte von neugierig zu komisch verzweifelt. "Jetzt weiß ich, warum die meisten wirklich reichen Leute dünn sind." Murmelte sie leise vor sich hin, als sie die winzige Portion auf ihrem Teller begutachtete. Das fantasievoll angerichtete und garantiert unglaublich leckere Saltimbocca würde tatsächlich nur einen einzigen Gabelhüpfer benötigen, um in ihrem Mund zu verschwinden. Steven presste sich die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. Und auch der Kellner sah aus, als müsste er sich das Lachen verbeißen.
Kaum war er wieder verschwunden, flüsterte Molly verschwörerisch in Stevens Richtung. "Allein für den Preis einer Vorspeise hätten wir beide bei Gino’s Pizza am Hafen so viel essen können, dass wir fast geplatzt wären. Ganz ehrlich, Mr. Jacoby, das Restaurant ist toll. Und es ehrt mich sehr, dass Sie mich hierher eingeladen haben. Aber ich fürchte, ich werde heute Abend noch irgendwas Handfestes essen müssen, sonst kann ich vor Magenknurren nicht schlafen."
Damit war's um Stevens Beherrschung geschehen. Er lachte laut auf, so laut, dass einige der anderen Gäste irritiert in seine Richtung schauten. Doch das war ihm völlig egal. Er genoss es tatsächlich aus vollen Zügen, mit Molly Flannagan zusammen zu sein. So viel gelacht hatte er seit Jahren nicht. Sie war so unglaublich erfrischend und absolut ehrlich, so ohne einen Funken Gemeinheit oder Berechnung, dass er sich vollkommen entspannen konnte. Ein Wunder bei den Problemen, die ihn im Moment beschäftigten. Und noch verwunderlicher, da er ja eigentlich nur mit ihr ausgegangen war, um sie von dem falschen Frachtbrief abzulenken. Offenbar hatte er etwas entdeckt, das er gar nicht gesucht hatte. Steven wurde unvermittelt klar, dass er dieses Etwas gerne behalten würde.
Drei Wochen und sechzehn Treffen mit Molly später nahm er all seinen Mut zusammen und machte ihr einen Heiratsantrag. Und Molly sagte Ja, bevor er sich's anders überlegen konnte.
Nachdem sich die Frachtbriefe ohne genauere Angaben häuften, aber immer vom Zoll abgezeichnet wurden, machte sich Molly auch darum keine Gedanken mehr.