Читать книгу SILENCIO - Heike Wolter - Страница 9
6
ОглавлениеManches ist nicht ganz das, was es zu sein scheint
(Redensart)
Seitdem Molly sich um eine neue Arbeitsstelle bemühte, hatte sie gelernt, den täglichen Gang zu ihrem Briefkasten zu hassen. Entweder lag überhaupt nichts darin oder es waren neben den üblichen Rechnungen und Werbezetteln ihre eigenen großen Umschläge enthalten, die sie als Rücksendemöglichkeit ihren Bewerbungsunterlagen beigefügt hatte. Schließlich waren solche Bewerbungsmappen sauteuer und Molly eine sparsame Frau, da lohnte sich doch ein frankierter Rückumschlag allemal.
Als sie nun mit spitzen Fingern die Klappe öffnete, erblickte sie ein kleines rechteckiges Paket darin. Stirnrunzelnd zog sie es heraus. Na, wenigstens war es keine ihrer Bewerbungen, denn erstens war es für die Rücksendung einer Mappe zu klein und zweitens viel zu leicht. Es fehlte die Briefmarke und außerdem stand nicht einmal ihre Adresse drauf, sondern nur ein einziges Wort in ungelenken Großbuchstaben:
SILENCIO
Verwundert hob sie das Päckchen an ihr Ohr und schüttelte es leicht hin und her. Irgendetwas Kleines rutschte von links nach rechts, leise und kaum zu hören. Komisch.
Mit einem arglosen Schulterzucken nahm sie die ominöse Postsendung mit in die Küche, um sich dort den Inhalt näher zu betrachten. Nachdem sie vorsichtig das Klebeband gelöst hatte, klappte sie das Kästchen auf und fuhr erschrocken zurück. In dem kleinen Karton lag ein winziger gelber Kanarienvogel, der offensichtlich nie mehr zwitschern würde, denn er war eindeutig mausetot.
Schnell schlug Molly den Deckel wieder zu und setzte sich erst einmal auf einen ihrer Korbstühle, die um den Esstisch verteilt waren. Mit mildem Entsetzen musterte sie den Karton mit seinem zumindest seltsamen Inhalt.
Was sollte das denn bitte sein? Welcher Perverse versteckte denn tote Kanarienvögel im Briefkasten von allein stehenden jungen Frauen?
Dann musterte sie noch einmal die Buchstaben auf dem nun geschlossenen Karton. Irgendwie wirkte die Schrift kindlich auf sie. Vielleicht hatte der Vogel einem Sprössling aus der Nachbarschaft gehört und war vor kurzem verstorben? Und vielleicht hatte das Kind zwar den Mut gehabt, seinen kleinen Freund in einen Pappsarg zu betten, aber nicht die Möglichkeit, ihn dann auch zu begraben?
Eigentlich eine schlüssige Erklärung, aber wer zum Donner nannte einen Kanarienvogel denn Silencio? Die kleinen gefiederten Exemplare dieser Gattung waren schließlich für ihren ausdauernden und laut zwitschernden Gesang bekannt und nicht für die Verbreitung von Ruhe und Stille.
Seufzend beschloss Molly, ihre Überlegungen zu unterbrechen und die würdevolle Bestattung des kleinen Federviehs in Angriff zu nehmen. Denn schließlich konnte der tote Vogel nicht auf ihrem Küchentisch stehen blieben und ihr konnte es völlig schnuppe sein, wie er zu Lebzeiten genannt worden war. Den kleinen Leichnam mitsamt Karton in den Müllcontainer zu werfen, kam für sie jedenfalls überhaupt nicht in Frage, dazu liebte Molly Tiere viel zu sehr. Nein, der Kleine würde im Garten die letzte Ruhe finden, direkt neben Winston, ihrem vor vier Jahren verstorbenen Kater. Und zwar mit allem Drum und Dran.
Nachdem sie ihre Entscheidung bezüglich des einstmals bestimmt lustigen Sängers getroffen hatte, machte sich Molly gleich frisch ans Werk. Sie nahm den Karton mit ans hintere Ende ihres Grundstücks und hob direkt am Zaun unter dem großen Rhododendron ein einigermaßen tiefes Loch aus, damit sie den Karton nicht aus Versehen beim Umgraben im Frühjahr wieder ausbuddeln würde. Der Minisarg wurde pietätvoll versenkt, sie murmelte das zu solchen Anlässen übliche 'Asche zu Asche' und als gute Katholikin ein kurzes Gebet, häufte schließlich die ausgehobene Erde wieder in das Loch und strich alles wieder glatt. Zufrieden mit ihren Bemühungen klopfte sie sich den Sand von den behandschuhten Händen und ging in ihren Keller, wo sie ihre Gartengeräte und einige andere nützliche Utensilien verwahrte.
Mit sauberen Buchstaben beschriftete sie eines der Plastikschildchen, die sie dort aufbewahrte, eilte dann zurück nach draußen und steckte es ans Kopfende des Grabes, damit der Kleine nicht namenlos beerdigt war. Ganz ähnlich, wie sie es auch für ihren geliebten Winston getan hatte.
Durch diese mehr oder weniger würdevolle Zeremonie hatte sich ihr Schrecken und die Verwunderung über den gruseligen Fund verflüchtigt, die Sache war ordentlich erledigt und damit abgehakt und - sie hatte den Vogel schließlich nicht persönlich gekannt - vergessen.
Molly ging wieder zum Tagesgeschäft über, die Zeitung mit den Stellenangeboten wartete im Wohnzimmer auf sie und außerdem hatte sie noch einen großen Korb mit Bügelwäsche, die garantiert nicht von alleine glatt wurde.
Erst zwei Wochen später dachte sie wieder an den toten Vogel mit dem merkwürdigen Namen, als sie in der abgelegenen Ecke ihres Gartens Unkraut zupfte. Aber auch zu diesem Zeitpunkt regte sich in ihr nicht der Funken von Argwohn, dass diese Begebenheit eventuell mehr gewesen sein könnte als das, was sie darin gesehen hatte:
Ein kleiner toter Kanarienvogel mit Namen Silencio.
***
Rollo Bionda erstattete nun zum zehnten Mal Bericht über die Beobachtungen, die er seit dem zufälligen Zusammentreffen seines Chefs mit dieser niedlichen Kleinen im Büro dieses Baumaschinenfrachtfritzen alle zwei Tage bei seinem Boss abliefern musste. Verlegen trat er dabei von einem stämmigen Bein auf das andere. Es kostete ihn jedes Mal eine Heidenüberwindung, wenn er mündlich den Tagesablauf der Lady mit der tollen Figur schildern musste. Nach ausgedehntem Räuspern, den Blick stur auf seine Schuhspitzen gerichtet, teilte er das Ergebnis seiner Überwachungstätigkeit mit.
"Tja, Boss, war alles wie inner letzten Zeit immer. Se geht morgens früh aus 'm Haus zur Arbeit und kommt nachmittags so gegen fünf wieder zurück. Auf dem Heimweg war se heute einkaufen, Lebensmittel und so 'n Zeug. Ganz schön viel, hat mächtig geschleppt, bis alles im Haus war. Dann hat se noch im Garten gewurschtelt und dann war's auch ganz schnell dunkel bei ihr. Nix Auffälliges, gar nix. Kriegt nich ma Besuch weiter, außer von ihren Leuten. Drei Kerle kommen öfter mal vorbei, sind aber ihre Brüder. Sehen ihr mächtig ähnlich."
Luciano Carpetti lauschte, mit geschlossenen Augen entspannt auf seiner Poolliege ausgestreckt, den Aussagen seines Spions. Alles wies darauf hin, dass die Kleine die Warnung verstanden hatte: Sei still und rede nicht … dann bleibst du gesund.
Das und nichts anderes sagte die Botschaft aus, die er ihr durch den toten Kanarienvogel auf gute alte Mafiaart hatte zukommen lassen. Seine lässige Haltung änderte sich aber schlagartig, als sein Berichterstatter, eifrig und genau, wie er nun mal arbeitete, die verbale Bombe platzen ließ.
"Aber eigentlich, Boss, muss die gar nicht zur Polizei gehen. Die hat se schließlich dauernd im Haus. Das is ne richtige Bullenfamilie, die Flannagans, das kann ich Ihnen sagen. Hab mich nämlich mal 'n bisschen umgehört. Der Alte und auch zwei Brüder sind bei den Blauen, und der andere Bruder is 'n Schlipsträger beim FBI. Wenn die reden will, muss se nich mal vor die Haustür."
Aus war's mit der Ruhe am Nachmittag … Carpetti saß kerzengerade und wie auf einem Nagelbrett, in das sich das superdicke Polster seiner Liege plötzlich gefühlsmäßig verwandelte.
"Was hast du da gerade gesagt? Ihre Brüder und ihr Vater sind bei der Polizei? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Warum haben wir das nicht schon früher gewusst?" Sein eisiger Blick richtete sich auf den unglücklichen Überbringer der schlechten Nachrichten.
Rollo wand sich, die Schweißperlen sammelten sich auf seiner flachen breiten Stirn und liefen ihm schließlich bachartig übers ganze Gesicht. Sein weißes Hemd klebte, plötzlich ohne Fremdeinwirkung nass geworden, an seiner tonnenartigen Gestalt, als er sich dem Tadel seines Brötchengebers und Herrn über Leben und Tod ausgesetzt sah.
"Naja, Se ham schließlich nix davon gesagt, dass ich da aufpassen soll. Außerdem hat se ja nich geredet, sonst wär 'n die Blauen doch schon da. Und was soll se denn reden, die hat doch nix mitgekriegt. Se ham doch gesagt, es war alles schon erledigt, als se reingeplatzt is."
'Primitiv ist er … aber wo er Recht hat, da hat er Recht.' Luciano Carpetti ließ sich wieder zurückfallen in den weichen Pfuhl des üppigen Polsters. Er musste dringend die Lage überdenken. Unwirsch gab er mit einer Handbewegung seinem Laufburschen zu verstehen, dass er sich zurückziehen durfte. "Aber mach weiter wie gehabt."
Schon fast wieder im Haus verschwunden nickte Rollo Bionda heftig mit dem breiten Schädel, froh darüber, dass er ohne Blessuren entlassen worden war.