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Die Männer sind nicht immer, was sie scheinen,

allerdings selten etwas Besseres.

(Queen Victoria)

Thanksgiving - Truthahn-Tag.

Während sich der Rest der Familie bereits an dem großen Tisch im Esszimmer versammelt hatte, die Gabeln kampfbereit hielt und die Messer wetzte, zog Molly mit einem angestrengten Ächzen den knusprig gebratenen Riesenvogel aus dem Ofen. Nachdem sich die Dampfschwaden etwas gelegt hatten, musterte sie das Ergebnis ihrer Bemühungen und musste breit grinsen. Genial, einfach genial.

Sie hielt sich ganz bestimmt nicht für eine überragende Köchin, eher für eine mittelmäßige. Aber was ihr an Können fehlte, machte sie durch Einfallsreichtum wett. Und diesmal hatte sie sich selbst übertroffen. Das hier war Food-Tuning vom Feinsten.

Während sie mit einem Ohr der Unterhaltung nebenan lauschte, wo ihre Schwester Brigid gerade ihre Brüder Patrick Junior, Brian und Daniel mit dem gleich anstehenden Kampf um die Keulen aufzog, stach Molly kichernd vorn und hinten eine lange Fleischgabel in den Truthahn und verfrachtete das immer noch brutzelnde Geflügel vorsichtig auf die große Servierplatte. Sie unterdrückte das Lachen, das ihr in der Kehle saß, und bemühte sich krampfhaft um eine ersthafte Miene, bevor sie die Platte ächzend nach nebenan brachte und mitten auf den Tisch stellte.

"So, bitte schön, Daddy. Walte deines Amtes." Patrick Flannagan Senior, bereits bewaffnet mit einem Tranchierbesteck, erschnupperte den verführerischen Duft des Truthahns, warf einen anerkennenden Blick auf die wunderbar braune Haut des Vogels, schnaufte zufrieden auf und wollte gerade zur Tat schreiten, als er stutzte und sich insgeheim fragte, ob ihm seine Augen einen Streich spielten.

Verstohlen warf er einen Blick auf seine Tischnachbarn, die ebenso verblüfft auf den dampfend-heißen Braten starrten. Vier Keulen. Das Vieh hatte vier verdammte Keulen. "Was …?"

"Das ist eine neue Züchtung, Daddy, aus Iowa, glaube ich. Die nennen das Familientruthahn für Keulenliebhaber. Ich dachte mir, das passt doch ganz gut. Wo ihr Jungs, bis auf Martin, doch alle so verrückt danach seid. Dann müsst ihr euch nicht wieder wie die Urmenschen darum streiten, wer von euch vier die zwei Keulen futtern darf."

Mollys mühsam beherrschte, todernste Miene drohte zu entgleisen, als ihre Mutter am anderen Ende des Tisches auf einmal laut kicherte und schließlich in schallendes Gelächter ausbrach. Als Mollys Schwester Brigid und ihr Ehemann Martin ebenfalls laut loslachten, war es vorbei mit ihrer Beherrschung und auch Molly prustete los. Die verdutzten Gesichter ihres Vaters und ihrer drei Brüder waren einfach zu komisch.

"Iowa, nein, sowas aber auch. Das ist einfach göttlich, Mollyschatz, einfach göttlich." Moira Flannagan wischte sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln und versuchte verzweifelt, wieder ernst zu werden. Das brüllende Gelächter rundum machte ihre Bemühungen allerdings schnell zunichte. Erst als ihr der Bauch vor Lachen schmerzte, bekam sie sich langsam wieder unter Kontrolle.

Schniefend und glucksend ging Patrick Senior endlich ans Werk, ließ sich die Teller reichen und verteilte die Fleischbrocken an die hungrigen Mäuler, wobei seine Hand mit der großen Serviergabel mehrfach so stark bebte, dass ihm die Stücke fast von der Gabel gerutscht wären. "Wie hast du das gemacht, Molly? Und erzähl mir nicht nochmal den Quatsch mit Iowa."

"Ich hab die Flügel abmontiert – die will doch eh keiner - und die Extrakeulen dran genäht. Deshalb passt bitte auf, dass ihr nicht aus Versehen das Nähgarn mitesst. Ich hoffe, ihr wisst das zu würdigen. War eine Sauarbeit." Mit einem Kichern nahm sie ihren Teller mit einem Bruststück entgegen. "Aber ganz ehrlich … eure dummen Gesichter zu sehen, das war die Mühe eindeutig wert." Molly ging in Deckung, als ihr vier Stoffservietten an den Kopf flogen.

"Na warte! Irgendwann, wenn du nicht mehr damit rechnest, kriegst du das zurück. Hundertfach." Die zwischen zwei Happen Truthahnkeule und dem Herauszupfen des Nähfadens ausgesprochene Drohung ihres jüngsten Bruders Daniel ging in der allgemeinen Heiterkeit unter. Patrick Senior und Moira Flannagan warfen sich quer über den langen Tisch einen Blick zu, der all das ausdrückte, was sie in diesem Moment dachten. Glücklich waren sie beide, glücklich, eine solch wundervolle Familie gegründet zu haben, in der Lachen und Fröhlichkeit das manchmal schwierige Leben erträglich machten. Nein, nicht nur erträglich, sondern lebens- und liebenswert.

Nacheinander betrachteten sie ihre Kinder, Patrick Junior, ihren Erstgeborenen, Brian und Daniel und die beiden Mädchen, Brigid und Molly. Alle waren sie wohlgeraten und alle hatten etwas aus sich gemacht und standen auf eigenen Füßen. Und dazu dann noch Martin O’Hara, der mit Brigid seit einem halben Jahr verheiratet war und sie auf Händen trug. Ja, sie hatten eine großartige Familie gegründet und sie waren stolz darauf.

Während ihre ganze Familie immer noch über Mollys Einfall lachte, überlegte die hin und her, wie sie ihre große Neuigkeit am besten an den Mann und die Frau bekam. Wahrscheinlich wäre es doch erheblich besser, wenn sie sich die Verkündung bis nach dem Essen aufhob. Davon abgesehen, dass ihr ohnehin keiner auf Anhieb glauben würde und all die Leckereien kalt wären, bevor sie mit dem Erklären fertig war. Molly seufzte. Vielleicht wär es sogar besser, heute Abend gar nichts zu sagen und das Ganze irgendwann in nächster Zeit in erheblich kleinerem Kreis so am Rande einfließen zu lassen.

Ja, das war ein guter Plan. Ein sehr guter Plan.

Ein paar Tage später lehnte Molly ziemlich verkrampft an der Küchentheke ihrer Mutter und überlegte erneut fieberhaft, wie sie ihren Lieben auf möglichst schonende Art und Weise beibringen könnte, dass sie ihren ganz persönlichen siebenten Himmel gefunden hatte. Nun ja, Himmel war vielleicht etwas übertrieben, aber zumindest ihren Traummann. Sie hatte immer noch keinen Schimmer, wie sie ihrer Sippe klarmachen sollte, dass ausgerechnet sie, die unscheinbare Molly, einen solchen Wahnsinnstypen abgeschossen hatte. Das würde ihr kein Mensch abnehmen, der sie auch nur ansatzweise kannte. Sie war zwar nicht gerade schüchtern, aber - was Männer anging - in der Vergangenheit mehr als zurückhaltend gewesen und Steven war der einzige Interessent auf einen Dauerbeziehungsposten in ihrem bisherigen Leben.

Es war ja nicht so, dass Molly hässlich wäre. Aber wenn man sie mit ihren Geschwistern vergleichen würde, dann war Molly das Erdnussbutter-Sandwich zwischen Sahneschnitten. Sie hatte zwar eine schöne Haut und ihre Augen waren ebenfalls nicht gerade klein und hässlich, aber ihre Gesichtszüge wiesen ihrer Meinung nach keinerlei Besonderheiten auf. Sie war gerade mal mittelgroß, ihre Haare waren ein Mittelding zwischen blond und braun, ihre Augen konnten sich farblich je nach Lichteinfall nicht zwischen braun und grün entscheiden - meist glich die Färbung einem Gemisch von beidem. Nur ihre Figur, die sich mit ihren schlanken Kurven und ihrem durchaus üppigen Busen allemal sehen lassen konnte, empfand sie selbst als recht ansprechend.

Da sie aber im Arbeitsleben als Buchhaltungsmanagerin in Stevens Firma ihre Reize geschickt getarnt in Kostümen mit nicht zu engen Röcken und Jacken oder unter Hosenanzügen der gleichen Machart verschwinden ließ und privat eher ein zu-große-T-Shirts-und-Jeans-Typ war, Shorts - die sie ohnehin nur am Strand trug - prinzipiell frühestens knapp unterm Knie endeten und Bikinis in Mollys Kleiderschrank keinen Platz fanden - sie bevorzugte Einteiler, wie sie auch Hochleistungsschwimmer trugen, die Sorte, bei der eigentlich außer Armen und Beinen nichts zu sehen war - ahnte kaum jemand etwas von den wirklich interessanten Vorzügen, die sie vorzuweisen hatte.

Selbst in der Namensfindung, die Patrick und Moira ziemlich einfallsreich für ihre Kinder betrieben hatten, war Molly die einzige der Flannagan-Sprösslinge, deren Vorname bestenfalls gewöhnlich war. Ihre Brüder waren allesamt entweder nach frommen oder berühmten Männern benannt worden, ihre Schwester Brigid erhielt ihren Namen nach einer irischen Heiligen, die zwar zu ihrer Zeit einen etwas zweifelhaften Ruf genoss, aber dennoch als "Maria der Iren" verehrt wurde.

Bei Molly waren den Flannagans die gesegneten Frauen ausgegangen, denn sie bekam den Namen ihrer Großmutter väterlicherseits. Die alte Dame bestach zu Lebzeiten durch ihren ausgeprägten Hang zum irischen Whiskey - was aber niemand in der Familie zugegeben hätte - und ihrer Sturheit, die selbst einen Erzengel in den Wahnsinn getrieben hätte. Insofern passte der Name zumindest in einem Fall für Molly allemal, denn sie war ebenfalls zeitweise stur wie ein Maulesel, wie ihre Geschwister und Freunde ihr häufig versicherten. Molly hätte sich trotzdem liebend gerne umtaufen lassen. Was allerdings an ihrer allgemein unauffälligen Art auch nichts geändert hätte, also Schwamm drüber …

Molly seufzte. Sie konnte sich an ihren zehn Fingern abzählen, was die Familie von ihren Heiratsplänen halten würde. Ausgerechnet dieser Steven Jacoby, an dem Molly bis vor ein paar Monaten trotz ihrer heimlichen Verliebtheit selbst noch kaum ein gutes Haar gelassen hatte. Schließlich war sie des Öfteren Zeugin gewesen, wenn er mit diesen Hungerharken-Modelweibchen abgezogen war. Aber das war Schnee von gestern, dessen war sich Molly mittlerweile hundertprozentig sicher. Steven gehörte jetzt - oh Wunder! - ihr und nur ihr allein. Nur wie machte sie das der Familie klar?

"Mom, Dad … ich werde heiraten." So, nun war sie geplatzt, die Bombe - und zwar im schnörkellosen Holzhammerstil. Zwei völlig konsternierte Augenpaare starrten Molly an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen.

"Heiraten? Aber wen denn, Mollyschatz? Ich wusste gar nicht, dass da jemand Besonderes in deinem Leben ist. Du Heimlichtuerin, du. Wann lernen wir den jungen Mann kennen? Erzähl schon, wer ist es? Oh Patrick, ich bin so aufgeregt. Mein zweites Mädchen heiratet. Das ist so …" Moira Flannagan fehlten plötzlich die Worte und die ersten Tränen der Rührung schimmerten in ihren Augen. Patrick Senior räusperte sich umständlich, im Hinterkopf schon die Überlegung, wovon er das Spektakel bezahlen sollte, denn seine Barschaft hatte sich von Brigids Hochzeit noch nicht so recht erholt, die er als Brautvater selbstverständlich ausgerichtet hatte. "Das ist ja … toll." War alles, was ihm im Moment dazu einfiel.

"Nächste Woche, Steven Jacoby - meinen Chef, und mach dir keine Sorgen, Dad, das kostet dich nicht einen Cent. Wir fahren einfach nach Vegas." Der Einfachheit halber beantwortete Molly alle gestellten und ungestellten Fragen gleich in einem und hoffte, damit um weitere Erklärungen herumzukommen. Doch diese Annahme war natürlich völlig illusorisch. So leicht kam sie nicht davon. Ihr Vater hatte den Schock verdaut und kam nun in Fahrt.

"Dein Boss? Aber den konntest du doch nie leiden. Ich kann mich gut erinnern, wie oft du über den und seine Weibergeschichten die Nase gerümpft hast. Ausgerechnet diesen Luftikus willst du heiraten? Hat er dich überhaupt schon gefragt oder hast du dir das ausgedacht? Und wieso Las Vegas? Gefällt dir unsere Kirche nicht?"

Mit einem entsetzten "Patrick!" wollte Mollys Mutter sich einschalten, bevor seine deutlichen Worte einen bleibenden Eindruck hinterließen, doch ihre Tochter kam ihr zuvor. Sie streckte ihre Linke vor, an der unübersehbar ein Brillantring prangte.

"Kaum zu glauben, aber er hat mich tatsächlich gefragt, Dad, und ich hab ja gesagt. Ich hab mich verliebt, er ist nämlich ganz anders, als ich dachte. Und du weißt ganz genau, dass ich dieses ganze Brimborium mit allem Drum und Dran nicht mag. Außerdem kann mich Pfarrer Green sowieso nicht mehr leiden, seit ich damals vor meiner Firmung gebeichtet hab, dass wir ihm zwei Flaschen Messwein geklaut und sie ausgetrunken haben. Ich hab heute noch seine Strafpredigten im Ohr, von wegen Teufel Alkohol und so."

"Das ist wohl wahr." Mollys Vater musste sich ein Grinsen verbeißen. Drei Wochen lang hatte Pfarrer Green jede seiner Predigten genutzt, um die jugendlichen Übeltäter zur Socke zu machen. Und sich erst wieder beruhigt, als Patrick Senior ihm eine ganze Kiste Rotwein der gehobenen Preisklasse vor die Kirchenhintertür gestellt hatte. "Also gut, führ uns deinen jungen Mann vor. Und dann schauen wir mal, was draus wird."

***

"Irgendwelche Besonderheiten?"

"Nein, Boss … alles läuft wie am Schnürchen."

"Perfekt."

Zufrieden lehnte Luciano Carpetti sich in das Polster seiner Poolliege zurück und genoss entspannt die kalifornische Sonne.

***

Die ersten sechs nahezu vollkommenen Ehemonate schienen Mollys Eindruck zu bestätigen. Molly und ihr Steven turtelten sich verliebt von Tag zu Tag. Natürlich holte der Alltag beide schon bald wieder ein. Die Flitterwochen - eine Woche in einem kleinen Hotel am Rande des Grand Canyon - dauerten ja nun mal nicht ewig. Aber das Zusammenleben war irgendwie schön, fand zumindest Molly. Steven sah das Ganze eher von der praktischen Seite.

Schnell hatte er es verstanden, sich die buchhalterischen Talente seiner jungen Gattin zukünftig sozusagen kostenlos zu sichern, indem er ihr erklärte, dass die Firma ja nun ihnen beiden gehörte. Völlig im Widerspruch zu ihrer sonstigen praktischen und eher misstrauischen Art machte Molly sich mit ihrem liebesrosa gefärbten Verstand kaum Gedanken darüber, dass sie von ihrem Mann für ihre Arbeit kein Gehalt mehr bezog, sondern quasi für das eine oder andere flüchtige Küsschen nach dem gemeinsamen Mittagessen und ein üppigeres Taschengeld arbeitete. Den praktischen Schritt zur Übertragung von Firmenanteilen unterließ er natürlich.

Wie das so ist in jungen Ehen, stellt sich bald eine gewisse Routine ein. Die erste Leidenschaft war verflogen, heiße Küsse wurden zu einem lauwarmen kurzen Aufeinandertreffen von zwei Lippenpaaren, die alltäglichen Liebeserklärungen entwickelten einen gewissen Automatismus. Für Molly schien das völlig normal zu sein.

Die Kurzreisen, die ihr Ehemann seit einiger Zeit mehr oder weniger regelmäßig ohne sie antrat, wurden mit dem Knüpfen von Geschäftskontakten schlüssig erklärt. Nicht einmal im Traum wären Molly Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser Aussage gekommen. Genauso wenig zweifelte sie allerdings dann auch daran, dass ihr Gatte sie mit seiner Sekretärin betrog.

Als Molly nämlich eines schönen Tages zu ungewohnter Zeit das Büro ihres Angetrauten aufsuchte, um ihm einen angeforderten Zwischenbericht zur wirtschaftlichen Lage der Firma zu übergeben, war das Vorzimmer leer, die Tür zu seinem Büro verschlossen. Arglos zückte Molly den Generalschlüssel, den sowohl sie als auch ihr Gatte, die Putzfrau und der Hausmeister besaßen, öffnete die Tür und bekam angesichts der unzweideutigen Szene große Augen:

Attraktive, blonde Sekretärin mit hochgeschlagenem Rock und nackten Beinen seitlich über die Schreibtischkante gebeugt. Ihr Slip baumelte um ihren rechten Knöchel. Mollys angetrauter Ehemann stand mit heruntergelassenen Hosen dahinter, beide Gesichter mit entsetzter Miene ihr zugewandt.

"Die blöden Grübchen in seinem Hintern sind mir eigentlich noch nie so richtig aufgefallen."

Nach diesem ketzerischen Gedanken und einigen ausgedehnten Sekunden der Paralyse aller Beteiligten schritt Molly äußerlich ungerührt zu dem zweckentfremdeten Schreibtisch, legte den Ordner mit dem gewünschten Bericht direkt vor das Gesicht der immerhin schamhaft erröteten Vorzimmerdame, warf einen arktisch unterkühlten Blick auf ihren konsternierten und ziemlich aus dem erotischen Takt gebrachten Gatten und schied schließlich mit den Worten: "Du hörst von meinem Anwalt."

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, brach die zur Schau gestellte Gleichmütigkeit allerdings zusammen. Das im Büro hinter der Tür erschallende laute Fluchen nahm sie schon nicht mehr wahr, als sie mit vor den Mund gepresster Faust zurück zum Aufzug hastete, der mit geöffneten Türen dankenswerterweise auf sie zu warten schien.

Bis ins Innerste erschüttert lehnte sie auf der Fahrt nach unten an der Kabinenwand und versuchte, das eben Gesehene zu verarbeiten. Die ersten Tränen der Wut und Enttäuschung sammelten sich in ihren Augenwinkeln, ihre Hände und Beine zitterten vor Aufregung. Im Nachhinein erschien ihr der unerwartete Anblick immer grotesker, immer unwirklicher und doch so klar in seiner Bedeutung, dass sie diese geistige Rückschau ihre gute Erziehung völlig vergessen ließ.

"Dieser verdammte und tausendfach verfluchte Drecksack!"

Die Wut in Mollys Bauch brannte lichterloh, ihre Finger krümmten sich rhythmisch in dem Verlangen, entweder diesem blonden Miststück oder ihrem untreuen Ehemann die Haare vom Kopf zu reißen. Bis das der Tod euch scheidet, pah! Schnelle Bilder einer blutigen Rache schossen durch ihren Kopf und versandeten wieder.

Mollys angeborener Realismus übernahm die Führung und sorgte für eine abrupte Abkühlung ihrer hitzigen Rage. Pragmatisch stellte sie für sich selbst fest, dass sie von nun an wenigstens nicht mehr nach der Arbeit kochen musste, wenn sie zurück in das Haus ihrer Eltern zog - allerdings nur vorübergehend, das schwor sie sich. Denn allzu lange hielt sie weder die ständige Gegenwart ihrer Erzeuger noch die Anwesenheit ihres jüngsten Bruders, der immer noch zu Hause wohnte, aus.

Dann strafften sich ihre Schultern an der Fahrstuhlwand: Hallo, Moment mal!

Warum wollte sie eigentlich ausziehen? Das war ja schließlich ihr Haus, das sie von ihrer Großmutter und Namensgeberin geerbt hatte. Nein, sie würde keinesfalls ausziehen. ER würde ausziehen … und zwar - ohne es zu ahnen - innerhalb der nächsten zwei Stunden. Jawohl!

Der Fahrstuhl hielt im ersten Stock, eine nunmehr zu allem entschlossene Molly verließ die Kabine und eilte zu ihrem Büro. Schnell waren ihre Siebensachen in der großen Handtasche verschwunden, die sie stets mit sich herumschleppte, ebenso schnell die beiden Buchhaltungskräfte über Mollys verfrühten Feierabend informiert. Schon zehn Minuten nach dem bizarren Erlebnis im fünften Stockwerk betrat Molly mit energischem Schritt die Tiefgarage, stieg in ihre alte Rostlaube und fuhr zu ihrem Haus, wo sie sofort resolut ans Werk ging.

Der erste Weg führte sie zum Telefonbuch. Schlüsseldienste gab es zuhauf, in der Nähe ihres Hauses nur drei. Da Molly nicht vorhatte, auch noch unnötig Geld für einen langen Anfahrtsweg des Handwerkers auszugeben, hoffte sie auf einen der Schlosser in ihrer Nähe. Sie hatte Glück. Schon der Erste, den sie kontaktierte, versicherte, dass er innerhalb einer Stunde die Schlösser ausgetauscht haben würde. Punkt eins auf ihrer gedanklichen To-do-Liste war erledigt.

Der zweite Weg führte sie auf den Speicher, auf dem noch eine gute Zahl von leeren Kartons auf die Vernichtung wartete, seit sie nach Mollys Einzug in Grannys Haus ausgepackt worden waren. Eigentlich hätten diese Überreste schon längst im Müll sein sollen, aber da oben hatten sie niemanden gestört - am allerwenigsten Molly. Nun war sie froh über ihre Faulheit. Offenbar hatte ihr Vater recht, der eigentlich alles aufhob: Wegschmeißen konnte man sehr schnell, aber manche Dinge würde man garantiert noch einmal gut gebrauchen können - seine Devise.

Noch während sie die leeren Kartons die Dachbodenleiter hinabrutschen und gegen die Wand im Flur poltern ließ, klingelte unten an der Haustür der Schlüssel-Mann mit der Werkzeugkiste, für den Molly ihre Sammelaktion liebend gerne kurz unterbrach, um ihm die beiden auszutauschenden Schlösser zu zeigen. Ausreichend instruiert ging der Gute auch sofort ans Werk und versprach, schon etwa eine halbe Stunde später mit seiner Aufgabe fertig zu sein.

Während er schraubte, ausbaute und einsetzte, beschäftigte sich Molly im Schlafzimmer damit, ihren Schrank in eine männergarderobenfreie Zone zu verwandeln. Ohne sich damit aufzuhalten, alles ordentlich zu verpacken, schmiss sie die diversen Anzüge ihres treulosen Gatten willkürlich in die Kisten, stopfte nach, wo nichts mehr hineinzupassen schien, und krönte den ganzen Wollhaufen schließlich mit dem Rest seiner Habe: Hemden, Socken, Unterhemden, Freizeitkleidung, Krawatten … Molly grübelte kurz und beendete schließlich mit unendlicher Befriedigung und Akkuratesse ihr Werk. Immer drei Krawatten mit einem festen Knoten verbunden, die dadurch entstehenden Falten in der empfindlichen Seide – herrlich! Ein bisschen Rache musste erlaubt sein.

Der Schlüsselmeister meldete Vollzug, übergab ihr jeweils drei neue identische Schlüssel für die Vorder- und Hintertür und kassierte 120 Dollar für seinen Einsatz, von denen Molly nicht mal einem müden Cent hinterherweinen würde. Als sie dann auch noch die gepackten Kisten säuberlich am Rand der Auffahrt aufgereiht hatte - sie legte sogar noch eine farbbespritzte Plastikplane von der letzten Renovierungsaktion darüber, denn es sah nach Regen aus - bereitete sich Molly eine Tasse Kaffee und ließ sich mehr oder weniger zufrieden in ihren geliebten Ohrensessel sinken.

Nicht einmal zwei Stunden, nachdem sie ihn erwischt hatte, war Steven Jacoby draußen ... war Geschichte - finito - raus - erledigt ... nicht mehr der Familie zugehörig. Die Trennung war, zumindest von Mollys stolzer irischer Seite aus, vollzogen.

Die Ruhe und der Kaffee schafften schließlich, was die Arbeitswut unterdrückt hatte. Der Katzenjammer über ihre verpatzte Beziehung brach mit der Wucht eines Tornados über Molly herein. Die Tränen kullerten, das Schluchzen wurde immer lauter und wütender, die Erkenntnis, dass sie von nun an wieder die unscheinbare, allein lebende Molly sein würde, die kaum einer zweimal ansah, gab ihr den Rest. Nicht einmal die Erwartung der bestimmt sehenswerten Szene, wenn ihr Noch-Ehemann seine Habseligkeiten in der Auffahrt finden würde, konnte sie trösten. Das würde nur eine schaffen. Molly brauchte ihre Mom, um sich aufrichten zu lassen.

Sie verließ ihren bequemen Sessel, die Tasse klapperte auf den Tisch. Nach einem kurzen Erfrischungsstopp im Bad schnappte sie sich ihre Tasche und einen der neuen Schlüssel. Nur am Rande registrierte sie, dass das gerade eingesetzte Schloss nicht annähernd so viele Zicken machte wie das alte. Im Gegenteil, der Mechanismus funktionierte wie geschmiert.

An den gepackten Kisten vorbei steuerte sie ihr altes Auto rückwärts auf die um diese Zeit nahezu unbelebte Straße und machte sich auf den Weg zum Haus ihrer Eltern fünf Straßen weiter. Insgeheim hoffte sie, dass ihr Bruder Daniel im Dienst und nicht zu Hause sein würde, denn der hätte zu der ganzen Sache nur eins zu bemerken: Ich hab's Dir ja gleich gesagt!

Und darauf konnte Molly im Moment nun wirklich gut verzichten.

SILENCIO

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