Читать книгу Von Vampiren, Kriegern und Dieben - Heike Möller - Страница 7
Kapitel 4: „Hat Darius dich geschickt?“
ОглавлениеDie Diebin hatte das Gefühl, ihre untere Gesichtshälfte würde in Wasser stecken. Es war feucht, sehr feucht. Und schmerzte.
Sie konnte sich das Stöhnen nicht unterdrücken, als sie den Kopf bewegte und ein neuer Schmerz wie hundert kleine Hammerschläge durch ihren Schädel jagte.
Dann nahm die Diebin den Geruch wahr. Zigarettentabak, erlesen und teuer, würzig und angenehm. Aber trotzdem drehte ihr der Geruch den Magen um, da ihr Kopf sich jetzt immer lautstarker zu Wort meldete.
„Ich weiß, dass du wach bist. Du kannst deine Augen öffnen.“
Der Bass des Mannes erschreckte die Diebin und sie hielt entsetzt die Luft an. Dann fiel ihr ein, was geschehen war.
Das Haus, in dem sie eingebrochen war.
Der Safe, dessen Kombination offensichtlich nicht stimmte.
Der halbnackte Mann, der mit einem sehr wütenden Gesicht vor ihr stand.
Der kurze, aber heftige Kampf.
Die Faust, die auf sie zukam.
Die Diebin biss sich auf die Unterlippe, unterdrückte ein erneutes Stöhnen. Mühsam öffnete sie ein Auge und blinzelte. Sanftes Licht erhellte den Raum. Die Lampe musste wohl irgendwo hinter ihr sein, da sie nicht geblendet wurde. Sie lag, so viel bekam sie mit, denn sie sah aus dieser merkwürdigen Perspektive den Mann von vorhin, der lässig mit überschlagenden Bein in einem Sessel saß und eine Zigarette rauchte. Er hatte nach wie vor lediglich die Pyjamahose an, wirkte aber sichtlich entspannter als zuvor.
Die Diebin wollte mit ihrer Hand durch das Gesicht fahren, aber sie stellte fest, dass die Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Für einen winzigen Moment bekam sie Panik, beruhigte sich dann aber sofort wieder. Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann öffnete sie ihre Augen richtig, hob ein wenig den Kopf. Dadurch fiel etwas von ihrem Kinn herunter und landete auf dem Fußboden. Die Diebin versuchte nachzudenken und kam zu dem Ergebnis, dass der Mann ihr wohl irgendetwas kühlendes auf das malträtierte Kinn gelegt haben musste. Vorsichtig bewegte sie den Kiefer, öffnete den Mund, prüfte mit der Zunge, ob die Zähne noch festsaßen.
„Ich glaube, es ist noch alles dran“, sagte der Mann mit der Bassstimme.
Die Diebin starrte ihn an. Er saß wirklich völlig ruhig und gelassen da, als ob sie beide ein abendliches Plauderstündchen abhalten würden, wie zwei alte Bekannte.
„Darf ich mich aufsetzen?“, fragte sie mit krächzender Stimme, räusperte sich.
Tristan sah die Frau an. Er war jetzt darauf vorbereitet, dass diese Frau sich zu wehren wusste. „Natürlich. Brauchst du Hilfe?“
Der Diebin fiel auf, dass der Mann einen winzigen und weichen Akzent hatte. >Franzose? < „Nein danke. Ich schaffe das, glaube ich, allein.“
Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig und stellte dabei fest, dass ihre Beine an den Knöcheln ebenfalls gefesselt waren. Trotzdem schwang sie ihre Beine geschickt von der Couch, auf der sie offensichtlich lag und richtete sich auf.
Um sofort die Augen zu verschließen und eine Welle der Übelkeit und des Schwindels zu unterdrücken.
„Brauchst du einen Eimer oder so?“ Der Mann klang weder besorgt noch belustigt, sondern kalt und distanziert. Aber höflich.
Die Diebin nahm sich vor, ebenfalls höflich und distanziert zu bleiben. „Nein, danke. Geht schon. Sie haben einen ziemlichen Schlag am Leibe.“
Tristan lächelte freudlos. „Ich habe mich noch gebremst“, informierte er die Frau.
Sie öffnete die Augen und sah sich langsam um. Offensichtlich war das hier das Wohnzimmer. Sie saß auf einer Dreisitzer-Couch, vor ihr war ein Couchtisch. Auf der rechten Seite stand noch eine Zweisitzer-Couch und links stand der Sessel, in dem der Mann saß und seine Zigarette rauchte. Jetzt drückte er sie ruhig in dem Aschenbecher auf der Sessellehne aus, in der schon drei Zigarettenstummel lagen. Den Aschenbecher stellte er behutsam auf den Tisch.
„Kopfschmerzen?“, fragte er und sah sie prüfend an.
„Aushaltbar.“
Tristan hob kurz die Augenbraue. „Möchtest du etwas Wasser trinken?“
Die Diebin schluckte. Warum war der Mann so freundlich? Und wo war die Polizei? „Ähm …. Ja, bitte.“
Tristan hatte zwischendurch ein Glas und eine Flasche Wasser geholt, goss jetzt etwas Wasser in das Glas. Er stand auf und setzte das Glas an die Lippen der Frau, die vorsichtig und in kleinen Schlucken trank.
Er konnte ihre Verwirrung, ihr Misstrauen förmlich riechen.
Und er roch noch etwas Anderes, was ihm vorher nicht aufgefallen war. Er schüttelte den Impuls schnell von sich, verdrängte ihn.
„Ich finde, wir sollten uns ein wenig unterhalten“, sagte er ruhig, stellte das Glas auf den Tisch und setzte sich wieder.
Die Frau sah ihn ebenfalls ruhig an. „Ich wüsste nicht, was ich Ihnen erzählen könnte.“
Tristan lachte leise, aber das Lachen erreichte nicht seine Augen.
>Ach herrje! Dieser Mann ist gefährlich! < Die Diebin wusste nicht, woher sie das wusste, aber sie vertraute ihrem Instinkt.
„Fangen wir doch damit an, was du hier gesucht hast. Du bist wie ein Profi durch das einzige Fenster eingestiegen, dass in diesem Haus nicht alarmgesichert ist. Ich hatte auch zugegebenermaßen nicht damit gerechnet, dass sich ein erwachsener Mensch durch dieses schmale Fenster zwängen könnte, aber …“ Er betrachtete ausgiebig den Körper der Frau. „Ich habe mich wohl geirrt.“
Die Diebin schluckte. Sie mochte es nicht, wenn ein Mann sie so ansah. „Ich … habe das Haus gesehen und dachte, hier ist bestimmt was zu holen.“
Tristan schürzte missbilligend die Lippen. „Lüge. Du bist gezielt in das Arbeitszimmer gegangen, wusstest, wo der Safe ist. Was hast du gesucht?“
Die Diebin biss sich auf die Unterlippe. „Hören Sie, rufen Sie die Polizei, übergeben Sie mich denen und gut ist. Ist eben mein Berufsrisiko, erwischt zu werden und Sie haben mich erwischt. Ende der Geschichte.“
Tristan schüttelte den Kopf. „Wer sagt, dass ich die Polizei nicht schon gerufen habe?“
Die Diebin sah auf den Aschenbecher und das nasse Küchenhandtuch am Boden. „Die Polizei ist zwar manchmal langsam, aber auch die brauchen bei einem Anruf, bei dem ein Einbrecher auf frischer Tat ertappt wurde, keine halbe Stunde.“
„Wie kommst du darauf, dass es eine halbe Stunde her ist?“ Tristan war neugierig. Es war tatsächlich jetzt 36 Minuten her, seit er die Frau überrascht hatte.
„Ich nehme an, dass in dem Handtuch Eis war, so kalt, wie sich meine Haut anfühlt. Das Eis ist geschmolzen. In dem Ascher sind vier Zigarettenstummel. Selbst als Kettenraucher brauchen Sie ungefähr fünf Minuten für eine Kippe. Sie haben mich gefesselt, wahrscheinlich noch den Safe überprüft, haben die kaputte Scheibe der Vorratskammer entdeckt und wirken relativ entspannt. Deshalb behaupte ich, dass es eine halbe Stunde her ist.“
Tristan nickte anerkennend mit dem Kopf. „Es sind jetzt 37 Minuten her. Und nur zu deiner Information: normalerweise schlage ich keine Frauen.“
Die Diebin schluckte. „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Es war Notwehr. Ich hätte an Ihrer Stelle genauso gehandelt.“
Tristan fixierte die Augen der Frau. Etwas stimmte damit nicht. „Trägst du Kontaktlinsen?“
Sie sah ihn Stirn runzelnd an. „Ja. Warum?“
„Farbige?“
„Ja.“
„Weshalb?“
Die Diebin hatte schon gemerkt, dass die Linse des einen Auges etwas verrutscht war. Es begann allmählich unangenehm zu drücken. „Ich bin bisher noch nie erwischt worden. Und da meine Originalaugenfarbe sehr … ungewöhnlich ist, habe ich es mir angewöhnt, bei meinen … Gängen farbige Kontaktlinsen zu tragen. So hätte man nur einen schlanken drahtigen Mann mit braunen Augen gesehen.“
Tristan bemerkte, dass das eine Auge sich langsam rötete. „Du solltest die Linsen rausnehmen.“
Die Frau grinste sarkastisch. „Mir sind leider, im wahrsten Sinne des Wortes, die Hände gebunden.“
Einem ersten Impuls folgend wollte Tristan die Fesseln lösen, aber er besann sich. „Tut mir leid, aber ich vertraue dir nicht.“
„Was ich nachvollziehen kann. Sie erlauben?“
Ehe Tristan nachfragen konnte stand die Frau auf, schob ihren Po und die Hüfte durch die Arme der gefesselten Hände auf den Rücken, sodass die Hände in den Kniekehlen landeten. Dann schob sie ihre gefesselten Beine geschickt hindurch und hatte die Hände nun vor dem Körper. Bevor Tristan auch nur etwas sagen konnte nahm die Diebin die Kontaktlinsen aus den Augen und steckte sie in die kleine Brusttasche ihrer Jacke. Dann sah sie den Mann an.
Jadegrüne Augen mit bronzenen Strahlenkränzen um die Pupille sahen ihm entgegen. Tristan hob anerkennend die Brauen. „Simplement incroyablement (Einfach unglaublich). Ich muss zugeben, dass du mich überraschst.“
>Also doch Franzose. < „Merci.“
Aus irgendeinen unerfindlichen Grund fragte Tristan sich plötzlich, wie die Beweglichkeit der Frau wohl im Bett war. Erschrocken über diesen Gedanken holte er schnell tief Luft. „Du bist mir noch eine Antwort schuldig. Eine von vielen.“
Die Diebin seufzte. „Na gut. Ich wollte das Fabergé-Ei stehlen, das in Ihrem Safe liegt.“
Tristan sah die Frau verdutzt an. „Ein Fabergé-Ei? Ich besitze zwar eins, aber das ist nicht hier in Berlin, sondern in einer Vitrine in meinem Stammsitz in Lothringen. Und das weiß jeder, da mein Stammsitz gleichzeitig ein öffentliches Museum für Gegenstände des Mittelalters ist.“
Die Diebin wurde blass um die Nase. „Aber ein Fabergé-Ei stammt schließlich nicht aus dem Mittelalter. Die sind Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden.“
Tristan kniff die Augen zusammen. „Vielen Dank für die Belehrung, aber das weiß ich.“
Die Diebin schluckte. „Verzeihung, ich wollte Sie nicht verärgern.“
„Das hast du schon mit deinem Einbruch, aber lassen wir das erstmal. Wie kommst du auf die Idee, dass ich ein Fabergé-Ei in meinem Safe habe?“
Die Diebin begann zu zittern. Schnell atmete sie ein paar Mal durch. „Tut mir leid, das kann ich Ihnen nicht sagen. Bitte, rufen Sie jetzt die Polizei.“
Tristan schüttelte den Kopf. „Nein. Noch nicht. Ich brauche noch Antworten.“
Die Diebin starrte den Mann ängstlich an. Mit der Gelassenheit einer Raubkatze, die sich ihrer Beute sicher war, musterte der Mann sie. Seine grünen Augen standen leicht schräg, gaben ihm noch zusätzlich etwas Gefährliches. Unwillkürlich presste sie ihre Schenkel zusammen und schob die Schultern nach vorn, versuchte, ihren ohnehin relativ flachen Busen, der auch noch gebunden war, zu verstecken.
Tristan bemerkte die Geste, dachte aber nicht daran, die Frau aufzuklären, dass es ihm fernlag, ihr Gewalt anzutun. Das war nicht sein Stil. „Wie heißt du?“, fragte er leise.
Die Diebin schnappte in paar Mal nach Luft.
„Bitte, lüge mich nicht an. Ich würde es merken.“
„Leilani Fischer“, sagte die Frau und konnte das Zittern plötzlich nicht mehr verbergen. Sie sprach das `ei´ wie `äi´ aus.
Tristan stutzte. „Das kommt aus dem polynesischen Raum. Leilani bedeutet `Himmelsblume´, nicht wahr?“
Die Frau nickte verstört. „Mei … meine Mutter war Polynesierin, mein Vater Deutscher.“
Tristan wurde immer neugieriger auf die Frau, versuchte es aber zu verbergen. „Also, Leilani. Wer ist dein Auftraggeber?“
Sie kniff die Lippen zusammen. „Das kann ich nicht sagen“, stieß sie hervor.
„Also gibt es einen Auftraggeber. Schön. Kannst du mir wenigstens sagen, warum ausgerechnet ich ausgewählt wurde?“
Leilani biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie zu bluten begann. Tristan sah das Blut und reagierte instinktiv. Er schoss zu der Couch und beugte sich über Leilani, die einen kleinen, verängstigten Schrei ausstieß. Sie sah in zwei dunkelgrüne Augen, deren Iris von einem goldenen Kranz umschlossen wurde. Irgendwie sah dieser Mann sie … begehrlich an.
„Bitte nicht!“, stammelte sie.
Das ernüchterte Tristan auf der Stelle. Das Blut der Frau, selbst dieser kleine Tropfen, hatte eine unglaubliche Wirkung auf ihn und plötzlich wusste er, was der Duft bedeutete, den er die ganze Zeit wahrnahm.
Leilani Fischer war eine Jungfrau!
„Entschuldige, ich … ich wollte dir keine Angst einjagen“, sagte er leise und zog sich augenblicklich wieder auf seinen Sessel zurück. Rasch drehte er sich eine Zigarette, steckte sie an und betäubte seinen Geruchssinn mit dem Tabak.
Erstaunt sah sie den großen Mann an. Damit hatte Leilani nicht gerechnet. Irgendetwas schien diesen Mann zu verwirren, zu verunsichern. „Ich hatte lediglich den Auftrag, das Ei zu stehlen. Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie machen. Und warum mein Auftraggeber ausgerechnet Ihr Fabergé-Ei haben will. Wirklich, das ist die Wahrheit.“
Tristan sah sie durch den Rauch seiner Zigarette an. Dann kam ihm auf einmal ein unglaublicher Gedanke, ein Verdacht. >Großer Gott, das kann doch nicht sein. <
„Hat Darius dich geschickt?“
Leilani sah ihn ratlos an. „Darius? Ich … ich kenne keinen Darius. Wirklich nicht. Ich meine, ich kenne den Namen nur aus Geschichtsbüchern. Perserkönig. Kämpfte gegen Alex…“
„Danke, Leilani. Ich brauche keinen Geschichtsunterricht“, murmelte Tristan geistesabwesend. Nur ein Vampir, der einen anderem Vampir eine Falle stellen wollte, würde ihm eine Jungfrau schicken. „Wie alt bist du?“
Verdutzt blickte sie dem Mann in die Augen. Waren die heller geworden? Mehr Braun als Grün? „Vierundzwanzig. Warum?“
Er konnte ihr kaum unter die Nase reiben, dass er wusste, dass sie eine Jungfrau war. „Du sagst, du kennst deinen Auftraggeber nicht. Wie bekommst du deine Aufträge?“
Leilani schluckte. Was hatte sie jetzt noch zu verlieren? „Bitte, liefern Sie mich der Polizei aus.“
Tristan sah die junge Frau lange und grübelnd an. Sie war mutig, aber im Moment hatte sie Angst. Nicht davor, in den Knast zu gehen. Auch nicht davor, ihre Geheimnisse zu verraten, dass roch er.
Sie hatte Angst, dass er es sich nochmal überlegen würde und ihr vielleicht doch zu Nahe trat.
>Verdammt, so tief bin ich nicht gesunken. Ich …. Merde! <
Tristan drückte die Zigarette aus und ergriff das Küchenmesser, dass auf dem Couchtisch lag. Leilani sah es und ihre Augen wurden riesengroß.
„Nein!“, hauchte sie und ging in Abwehrposition.
„Ruhig, Leilani. Ich will nur deine Fesseln durchschneiden. Bleibe einfach still sitzen.“ Tristan schnitt ihr zuerst die Fußfesseln durch, dann die Handfesseln. Ungläubig sah sie ihn an.
„Du kannst gehen. Fürs erste.“
„Sie lassen mich gehen?“
Er nickte. „Ich bring dich zur Tür. Komm.“ Er nahm ihren Ellenbogen und zog sie hoch. Wie betäubt ließ sich die junge Frau zur Eingangstür ziehen. „Schaffst du es, allein zu gehen?“
Leilani verstand die Wendung nicht. Sie hatte mit dem Schlimmsten, wirklich Allerschlimmsten gerechnet. Aber nicht mit einer höflichen Fürsorglichkeit. Sie nickte stumm, zitterte immer noch.
Tristan gab den Code in die Alarmanlage, der die Alarmbereitschaft aufhob. Dann öffnete er die Tür. Die Nachtluft war nicht wirklich kühl, aber es kam Tristan auf einmal sehr kalt vor. Erinnerungen kamen in ihm hoch. Erinnerungen und ein Verdacht.
„Geh. Und traue niemanden.“ Das verwirrte Gesicht der jungen Frau begleitete ihn noch, als er die Alarmanlage wieder scharf gemacht hatte und in sein Arbeitszimmer ging. Nachdenklich öffnete er den Safe und holte eine dicke Akte heraus, in Pappe gebunden. Er schloss den Safe, löschte das Licht, entsorgte noch die durchschnittene Kordel, das Handtuch und das Küchenmesser und ging in sein Schlafzimmer. Dort machte er das Licht an, setzte sich auf das Bett und legte die Akte vorsichtig vor sich hin. Beinahe ängstlich holte er tief Luft und klappte sie auf.
Die Fotografie eines Ölgemäldes, das in einem kleinen Museum in Bulgarien hängt, lag ganz oben. Es zeigte einen Mann Mitte bis Ende 30, der ein edel geschnittenes Gesicht hatte und einen Backenbart trug. Die Augen waren wahrscheinlich dunkelblau, so genau konnte man das auf der Fotografie nicht erkennen. Das Gemälde stammte aus dem späten 15. Jahrhundert und war das einzige Bild, das Tristan von diesem Mann hatte.
Darius.
Seinem Schöpfer.
Seinem Erzfeind.
Den Mann, den er abgrundtief hasste.
Aber war er nicht tot?
Das letzte, was Tristan von ihm hörte war, dass er während des Ersten Weltkrieges bei Verdun zu Tode gekommen sein sollte. Aber es gab schon öfter Berichte über den Tod des Mannes und Tristan hatte auch diesem letzten Bericht nie wirklich geglaubt.
Darius war ein Krieger, wie Tristan. Ist Tristan jedoch ein Mann, dem ein ehrenvoller Kampf mit gleichen Bedingungen für alle Parteien am liebsten war, war Darius das genaue Gegenteil. Er arbeitete mit schmutzigen Tricks, Bauernopfer und scheute sich auch nicht davor, Frauen und Kinder vor Kanonen zu spannen.
Tristan fror plötzlich, wickelte sich in seine Decke.
Das, was heute Nacht geschehen war, würde zu Darius passen. Ein teuflischer Plan, von langer Hand erdacht.
Eine Jungfrau, ausgenutzt, nicht wissend, dass sie in ein Verderben geschickt wird.
Wäre Tristan nicht der beherrschte Stratege, der er nun einmal war, hätte er sich von dem Duft des jungfräulichen Blutes verleiten lassen. Er hätte sie gebissen und ausgesaugt, wahrscheinlich getötet. Oder in der Gier ihr noch gewaltsam die Jungfräulichkeit geraubt.
Aber Tristan hatte noch nie eine Frau mit Gewalt genommen. Die Jungfrauen, die er vor seiner Bekanntschaft mit Rowena hatte, hatten sich ihm freiwillig und ohne jegliche Beeinflussung hingegeben. Er musste ihnen lediglich hinterher die Erinnerung an den Vampir in ihm nehmen, das war alles.
>Das Mädchen ist in Gefahr, ich spüre das. Aber was kann ich tun? Vielleicht irre ich mich ja auch, verrenne mich in meinem alten Hass. Herr im Himmel, hilf’ mir! <
Tristan blätterte die Akte Seite für Seite durch, las jede Zeile gründlich. Vieles war handgeschrieben. Es gab einige alte Zeitungsartikel aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, deren Inhalte Tristan Darius zugeordnet hatte.
„Ich muss mit Rashid reden“, murmelte Tristan müde und rieb sich die Hand über die Stoppeln an seinem Kinn.