Читать книгу Die verbannte Prinzessin - Heinrich Thies - Страница 10
Fürstlicher Glanz
und erbärmlicher Gestank
ОглавлениеAuch außerhalb der Schlossmauern fand Sophie Dorothea nur wenig Gefallen an Hannover. Ein schmieriger Film aus Schmutz, Kot und Unrat überzog Straßen und Plätze und verbreitete einen üblen Gestank, der sich mit den Ausdünstungen von Moder und Fäulnis verband. Von einer herrschaftlichen Residenzstadt hatte Hannover in diesen Februartagen wenig. Nass, kalt und grau waren die engen, winkligen Gassen rund um die Kirche St. Georgi et Jacobi (heute Marktkirche), und dem Schloss an der Leine war immer noch anzusehen, dass es einmal ein Kloster gewesen war.
Hohe Mauern, Wälle, Bastionen und Gräben umschlossen die Stadt. Der Zugang war nur durch drei Stadttore möglich, die bei Einbruch der Dunkelheit geschlossen wurden: Aegidientor, Steintor und Leinetor. Hochgestellten Herrschaften öffneten die Torwächter, die ihre Wohnungen über den Toren hatten, selbstverständlich auch nachts.
Jenseits der Leine schloss sich an die Altstadt die Calenberger Neustadt an, wo reiche Kaufleute und Adlige seit Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ihre Häuser hatten bauen lassen. Hier ließen sich auch Angehörige des Hofstaates und der Regierungsbehörden nieder, für die in der übervölkerten Altstadt kein Platz mehr war. Von den 10 000 Einwohnern Hannovers lebten Ende des siebzehnten Jahrhunderts rund 6500 in der Alt- und 3500 in der Neustadt.
Der fürstliche Hof beherrschte das Leben. Zu den drei- bis vierhundert Angehörigen des Hofstaats kamen noch mehrere Hundert Beamte der Zentralbehörden, die mit ihren Familien und Bediensteten fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung bildeten. Und nahezu jeder Handwerker und Händler lebte vom Hof und seinen Bedürfnissen; ebenso die 29 Herbergen, die in jener Zeit in der hannoverschen Altstadt gezählt wurden.
Doch auch der Glanz des Fürstenhofs konnte nicht über den üblen Gestank hinwegtäuschen, der über der Stadt hing. Von einer Kanalisation war Hannover noch weit entfernt. Die menschlichen Ausscheidungen flossen ungeklärt auf die Straßen, mischten sich mit Küchen- und Schlachtabfällen, Müll und Unrat. Der Herzog hatte zwar schon vor einiger Zeit zwei »Dreckwagen« eingeführt, doch einmal abgesehen davon, dass diese Müllabfuhr bei weitem nicht ausreichte, waren die Bürger auch nicht geneigt, Gebrauch davon zu machen. Sie warfen ihren Unrat lieber weiter vor die Tür.
Wer auf sich hielt, vermied es daher nach Möglichkeit, die Stadt zu Fuß zu durchqueren. Da nicht immer eine Kutsche bereit stand, erfreuten sich Tragesänften großer Beliebtheit. Der umtriebige Hofkurier Otto Lochmann schaffte es schließlich sogar, sich von Herzog Ernst August ein »Portechaisenprivileg« ausstellen zu lassen. Die Lochmanns waren somit nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, fünf Sänften mit zehn Trägern in der Zeit von acht Uhr morgens bis Mitternacht vor der Hofküchenstube in der Schlossstraße für das vornehme Publikum bereit zu halten. Die Taxe pro Stunde betrug sechs Mariengroschen, für den Tag einen Taler. Für das gemeine Volk war diese Beförderungsart daher unerschwinglich. Ein Maurermeister zum Beispiel musste einen ganzen Tag lang arbeiten, um sieben Mariengroschen zu verdienen.
Doch ob arm oder reich, Bürger oder Edelmann: Niemand hielt es in jener Zeit für nötig, sich täglich zu waschen, manch einer kam sogar wochenlang ohne Körperreinigung aus. Wer es sich leisten konnte, ersetzte Wasser und Seife einfach durch reichlich Puder und Parfüm – den Luxusartikeln der stinkfeinen Gesellschaft.