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Im Korsett der Etikette

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Große Schneeflocken schwebten hinterm Schlossfenster zur Erde herab. Es schneite ohne Unterlass. Die Laute, die von außen in das Gemach der Prinzessin drangen, klangen gedämpft: das Gebell der Hunde, die Rufe der Wachen, das Rollen der Kutschen. Nur die Kirchglocken durchbrachen machtvoll die weiße Stille.

Sophie Dorothea war es, als käme das Läuten aus einer anderen Welt. Das Kerzenlicht der Kandelaber verbreitete ein schummriges Licht in ihrem Schlafgemach. Es hätte die passende Stimmung zum Träumen sein können, aber die Prinzessin langweilte sich nur, weit entfernt, sich von dem Schneien verzaubern zu lassen. Sie wusste, dass die großen, schweren Flocken bald tauten und Schlamm und Schmutz hinterließen. Schlamm und Schmutz.

Es ging bereits auf elf Uhr zu. Sophie Dorothea lag immer noch auf ihrem Bett. Sie gähnte, unschlüssig, was sie mit diesem Februartag anfangen sollte. Eleonore hatte ihr vor einer halben Stunde den neuesten Gesellschaftsklatsch aus dem »Mercure galant« vorgelesen. Das war amüsant, aber nichts, was sie wirklich interessierte.

Anfangs hatte sie sich noch die Freiheit genommen, mit ihrem Edelfräulein durch die Stadt zu flanieren. Aber das sah die Fürstin nicht gern. Die Etikette, die sich am Wiener Vorbild orientierte, gestattete nur Ausfahrten in der vergoldeten, von sechs Pferden gezogenen Staatskarosse. Und solche Kutschfahrten ermüdeten sie. Leer und niedergeschlagen kehrte sie daraufhin immer ins Schloss zurück. So verzichtete sie lieber ganz darauf.

Ein lähmendes Gefühl der Sinnlosigkeit beschlich sie. Wozu aufstehen? Irgendwann würde sie sich ankleiden, pudern und parfümieren lassen, durch die endlosen Gänge schlendern, vorbei an den Porträts der glotzäugigen Vorfahren. Vielleicht einen Brief an ihre Mutter schreiben und sich dann auf das abendliche Essen vorbereiten, das sich mit viel Wein und Bier und schweren Speisen allabendlich stundenlang hinzog und mit langweiligem Kartenspiel ausklang. Sollte das ihr Leben sein? Sie kam sich vor wie eine Mastgans in einem goldenen Käfig.

Bei aller Langeweile war sie immerhin froh, dass sie derzeit in der Nacht von ihrem Mann verschont blieb. Georg Ludwig war ja im Krieg, befehligte die hannoverschen Truppen im Kampf um Wien. Hin und wieder traf sie mit den jüngeren Brüdern ihres Mannes zusammen, die gern mit ihr schäkerten und manchmal auch ein wenig zudringlich wurden. Aber egal. Sie brachten wenigstens ein wenig Frohsinn in diese Welt der strengen Sitten. Am liebsten hatte sie Karl Philipp, der drei Jahre jünger war als sie und sich stets galant verhielt.

Georg Ludwig hatte fünf Brüder und eine Schwester namens Sophie Charlotte. Die pummelige Prinzessin bewunderte ihre zwei Jahre ältere Schwägerin, und Sophie Dorothea genoss die Verehrung.

Auch mit ihrem Schwiegervater verstand sie sich gut. »Warte nur ab, mein Töchterlein«, pflegte der sie zu trösten, wenn er ihren trübsinnigen Gesichtsausdruck bemerkte. »Die grauen Wintertage sind bald vorüber. Dann werden wir einen wunderbaren Sommer in Herrenhausen verbringen und in den Gärten Verstecken spielen. Und wenn du magst, dann kommst du mit mir nach Venedig.«

Venedig – dieses Wort war Sophie Dorothea schon am Celler Hof wie eine Zauberformel für Glück und erfülltes Leben erschienen.

Immer hatte Ernst August ein freundliches Wort für Sophie Dorothea, stets bedachte er sie mit kleinen Geschenken. Ja, der Herzog schätzte die ungezwungene Art seiner schönen Schwiegertochter – ganz im Gegensatz zu seiner Frau.

Sophie verwandte unterdessen große Mühe darauf, die richtigen Ehepartner für ihre Kinder zu finden. Und »richtig« bedeutete »Erfolg versprechend«. Jetzt ging es um Sophie Charlotte, die sie im Einvernehmen mit ihrem Gemahl ganz bewusst konfessionslos erzogen hatte. So war zumindest die »falsche« Konfession einer interessanten Verbindung nicht hinderlich. In etlichen Briefen hatte Sophie ihre Tochter bereits als Braut des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel ins Spiel gebracht. Aber dann hatte sich der Kaiser in Wien eingeschaltet und die Pläne platzen lassen.

Neue Hoffnungen leiteten sich im Sommer des Jahres 1683 aus zwei spektakulären Todesfällen ab. Am 7. Juli verstarb Elisabeth Henriette, Kurfürstin von Brandenburg, im Alter von 21 Jahren an den Pocken. Sie hinterließ eine dreijährige Tochter und einen tief betrübten Ehemann: Friedrich von Brandenburg, Sohn und Erbe des Großen Kurfürsten.

Und nur wenige Tage später starb völlig unerwartet in Versailles Maria Theresia, die Frau des französischen Königs Ludwig XIV.

Sophie war entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen. Am liebsten hätte sie ihre fünfzehnjährige Tochter mit dem 49 Jahre alten König von Frankreich vermählt, dem mächtigsten Monarchen des Abendlandes. Doch ihre Nichte Liselotte, die bereits mit einem Bruder Ludwigs XIV. verheiratet war, machte ihr keine großen Hoffnungen. Mit Anspielung auf die mollige Figur Charlottes schrieb sie der Tante, es habe den Anschein, »westfälischer Schinken sei nicht das geeignete Fleisch für Leckermäuler«.

So konzentrierte Sophie ihre Bemühungen auf den Witwer in Brandenburg. Schon in ihrem Kondolenzschreiben lud sie Friedrich nach Hannover ein und deutete an, dass er »hier etwas finden könnte, um sich damit zu trösten«.

Doch mehr als ein Jahr ging ins Land, bis alle Bedenken ausgeräumt waren. Am 8. Oktober 1684 schließlich fand die prunkvolle Hochzeit in Herrenhausen statt – wenig später bereitete der Große Kurfürst seiner Schwiegertochter einen triumphalen Empfang in Berlin.

Große Sorgen dagegen machte der Herzogin Sophie ein familiärer Konflikt um das Erbrecht. Herzog Ernst August nämlich hatte seinen erstgeborenen Sohn Georg Ludwig als Universalerben für das gesamte Herzogtum eingesetzt, und der zweitälteste Sohn Friedrich August sah sich um seine Rechte betrogen. »Gustchen«, wie seine Mutter ihn nannte, rebellierte gegen den Vater. Der seinerseits reagierte mit Strenge. Der Herzog, der als jüngerer Bruder einst selbst nur durch den Verzicht Georg Wilhelms nach oben gelangt war, verwies den ungehorsamen Knaben des Landes und forderte ihn auf, künftig allein für seinen Unterhalt zu sorgen. Friedrich August trat daraufhin in die Dienste der kaiserlichen Armee.

Sophie war tief bekümmert. Sie liebte Friedrich August mehr als den Erstgeborenen und litt unter der Unnachgiebigkeit ihres Mannes. Einem Vertrauten schrieb sie: »Arm Gustchen wird ganz verstoßen. Sein Vater will ihm gar keinen Unterhalt mehr geben. Wenn ich tagsüber auch lache, so muss ich in den Nächten doch viel weinen. Denn ein Kind ist mir ebenso lieb als das andere; ich habe sie alle unter meinem Herzen getragen, und die unglücklich sind, jammern einen am meisten.«

Doch Sophie, Nachfahrin Maria Stuarts, hatte gelernt, dass es sinnlos war, gegen das Unvermeidliche aufzubegehren. Sie wusste, dass wahre Größe darin bestand, auch die Unannehmlichkeiten des Lebens mit Fassung zu tragen, insbesondere, wenn es um die machtpolitischen Interessen des Fürstenhauses ging.

Diese Haltung versuchte sie auch Sophie Dorothea nahe zu bringen. Während langer Spaziergänge durch die Herrenhäuser Gärten schärfte sie ihrer Schwiegertochter ein, dass man sich der Rolle zu fügen habe, die einem durch die göttliche Vorsehung bestimmt war. Dabei wurde sie nicht müde, Sophie Dorothea endlose Vorträge über die Geschichte des englischen Königshauses zu halten. Über das große Unrecht, das vor hundert Jahren ihrer Urgroßmutter Maria Stuart widerfahren war. Über die heilige Verpflichtung, diese Schmach zu sühnen.

Zwischendurch pflegte sich die Fürstin bisweilen selbst zu unterbrechen, um auf den Gesang der Nachtigall oder ein Froschkonzert hinzuweisen. Und dann konnte es geschehen, dass sie jenseits aller Vernunft ihrer Begeisterung freien Lauf ließ. »Hör nur. Ist das nicht wunderschön, mein Kind?«

»Oh gewiss.«

Die Erwiderung der jungen Begleiterin fiel nie viel wortreicher aus – auch dann nicht, wenn die kluge Schwiegermutter ihr von der geplanten Umgestaltung des Großen Gartens erzählte. Nein, Sophie Dorothea hasste diese langen wie langweiligen Spaziergänge, vorbei an den kantigen Buchsbaumhecken und gestutzten Sträuchern und Bäumen, die starr wie Gardesoldaten in Reih und Glied standen. Sie hörte gar nicht hin, wenn der bunte Kies unter ihren Füßen knirschte und die Fürstin unaufhörlich auf sie einredete. Was interessierte sie denn auch das alles? Die Geschichte. Die Gartenkunst. Die hohe Politik. Am allermeisten langweilte sie die Philosophie dieses oberschlauen Herrn Leibniz, mit dem sich ihre Schwiegermutter so gern traf. Diese Lehre von den Monaden, in denen sich angeblich das Universum spiegelte, lief doch immer nur darauf hinaus, dass jeder Einzelne stets das Große und Ganze vor Augen haben müsse, dessen Teil er sei. Nein, das alles kam ihr so unmenschlich vor. Wenn sie das Wort »Monaden« hörte, musste sie immer an Maden denken.

Sie unterhielt sich lieber mit ihrer Kammerzofe Eleonore über die alten Zeiten in Celle und über den neuesten Hofklatsch, scherzte mit ihren Schwagern und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das, was sich in ihrem Bauch tat. Ja, bald schon würde es so weit sein, bald würde sie Mutter werden – und bald schon würde der Vater ihres Kindes heimgekehrt sein aus dem Krieg. Doch ihre Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen.

Die verbannte Prinzessin

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