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Hoher Besuch

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Celle, September 1682. Nebel hing noch über den Wiesen, als gegen sechs Uhr in der Frühe eine herrschaftliche Kutsche die Stadtgrenze von Celle passierte. Es war kühl, nur wenig über Null. Die Herzogin von Hannover fröstelte, als sie den Vorhang vor ihrem Kutschenfenster zurückschob, um einen Blick auf das Schloss zu werfen, das sich mit seinen ockergelben Mauern wie eine Festung vor ihr erhob. Trotz der Brokatkissen, mit denen sie die roten Samtpolster zusätzlich abgepolstert hatte, waren ihr die Stöße der holprigen Fahrt in die Knochen gefahren. Sie fühlte sich wie zerschlagen.

Bereits am Vorabend war sie in Hannover aufgebrochen. Es hatte tagelang geregnet. Da war es klar, dass die Kutsche nur in gedrosseltem Tempo vorankommen würde. Sophie hatte gehofft, während der nächtlichen Fahrt schlafen zu können, war aber immer wieder aufgeschreckt – ob beim Pferdewechsel im Posthof Engensen oder bei den unfreiwilligen Aufenthalten, die der Schlamm erzwang.

Aber jetzt schien die Sonne, der Nebel lichtete sich, und die Hähne krähten aus den engen Gassen des Fachwerkstädtchens einem schönen Herbsttag entgegen.

Das Ziel war erreicht. Die Wachen am Schlossgraben erkannten das hannoversche Wappen, sie grüßten ehrerbietig und ließen die schlammbespritzte Equipage passieren. Ein Page öffnete den Kutschenschlag mit respektvoller Verbeugung und half dem hohen Besuch beim Aussteigen. Doch kaum hatte die Fürstin den Schlosshof betreten, kam es auch schon zu einem Wortwechsel.

»Führt mich bitte unverzüglich zum Herzog«, forderte Sophie den Oberhofmeister auf.

»Ich bin untröstlich, Euer Durchlaucht, aber Seine Hoheit befinden sich noch im Schlafgemach …«

»Noch im Bett? Das überrascht mich nicht, aber es ist auch ganz gleich. Ich muss ihn sofort sprechen. Unverzüglich – von mir aus im Bett, angekleidet oder unangekleidet.«

»Aber Euer Durchlaucht, das geht doch …«

»Wie bitte? Was hier geht oder nicht geht, das zu entscheiden, mein Herr, überlasst bitte mir.«

»Aber …«

»Kein Aber. Aus dem Weg.«

Mit diesen Worten ließ die Dame im goldbestickten Reisekostüm den Hofbeamten stehen und schritt auf das Schlossportal zu. Vorbei an verdutzten Wachen und Pagen, Mägden und Schlossfräuleins steuerte sie die Gemächer des Herzogs im Ostflügel an, ging über große Treppen, durch verwinkelte Gänge, vorbei an goldgerahmten Porträts mit den stumpfen Blicken längst verblichener Fürsten.

Sie war zwar schon viele Jahre nicht mehr im Celler Schloss gewesen, doch sie kannte den Weg noch gut. Sie hatte Herzog Georg Wilhelm schließlich einmal sehr nahe gestanden, war mit ihm sogar verlobt gewesen. Aber was zählten schon die Regungen des Herzens? Liebe? Nein, Liebe, das war für die Herzogin von Hannover eine höchst gewöhnliche Empfindung. Wer vorankommen wollte in der Welt, hatte seinen Kopf zu gebrauchen. Und wenn man wie Sophie königlichem Geblüt entstammte, Tochter des »Winterkönigs«, des pfälzischen Königs Friedrichs V. von Böhmen war, Enkeltochter Jakobs I. von England und damit Nachfahrin Maria Stuarts, eine echte Stuart, dann hatte man sein Leben bedeutenderen Zielen zu unterwerfen: den Gesetzen der Politik, den Spielregeln der Macht – und zwar nicht nur im eigenen Interesse, sondern vor allem im Interesse der Nachkommen. Darum hatte Sophie von der Pfalz eingewilligt, als Georg Wilhelm sie gebeten hatte, ihre Zuneigung fortan seinem jüngeren Bruder Ernst August zu schenken. Denn der ältere Spross des Welfenhauses verspürte seinerzeit keinen besonderen Drang, sein Leben in den Dienst von Regierungsgeschäften zu stellen. Georg Wilhelm zog das Junggesellenleben vor: Jagd und opulentes Essen, Reisen nach Frankreich, Holland und Venedig, Musik und Theater. So beschloss er, Ernst August die kluge Sophie abzutreten, ebenso wie seine Erbansprüche. Alle Ländereien sollten nach seinem Tode dem Bruder zufallen.

Aber dann hatte sich alles anders entwickelt. Ganz anders. Sophie war nie darüber hinweggekommen: Georg Wilhelm hatte diese Französin geheiratet, eine Landadelige, die Tochter einer Hugenottenfamilie niederer Herkunft: Eleonore d’Olbreuse – den »kleinen Dreckhaufen«, den »Mäusedreck«, wie Sophies Nichte Liselotte von der Pfalz sie in scharfzüngigen Briefen nannte. Und die Lästerzunge sprach Sophie aus dem Herzen. Immer mehr Rechte und Besitztümer hatte Georg Wilhelm nach und nach seiner Madame zugeschustert. Und dann war aus der Verbindung auch noch eine Tochter hervorgegangen, die nachträglich vom Kaiser in Wien als erbberechtigte Prinzessin legitimiert worden war: Sophie Dorothea, geboren am 10. September 1666. In den Augen Sophies ein »Bastard«, mit dem sich ihr Herr Schwager da ungeniert über alle Abmachungen hinwegsetzte. Kein Wunder, dass dieses Zuckerpüppchen als eine der besten Partien in Deutschland galt! Wer die Prinzessin von Celle zum Traualtar führte, erhielt als Zugabe das Fürstentum Lüneburg, das eigentlich ihrem Ältesten zustand, gleich mit. O nein, da konnte sie nicht tatenlos zusehen. Um Himmels Willen!

Die höchste Alarmstufe war erreicht, als Sophie über Andreas Gottlieb von Bernstorff, den hannoverschen Spitzel am Celler Hof, erfuhr, dass Sophie Dorothea mit dem Sohn von Herzog Anton Ulrich von Wolfenbüttel verlobt werden sollte – einem Vetter, aber gleichzeitig auch Intimfeind des Herzogs von Hannover. Das hatte gerade noch gefehlt!

Schon am nächsten Tag sollten Vater und Sohn aus Wolfenbüttel in Celle eintreffen, um die Verbindung perfekt zu machen – aus Anlass des 16. Geburtstages von Sophie Dorothea, der erst vier Tage zurücklag.

Die Depesche aus Celle hatte in Hannover einen Wutausbruch nach sich gezogen. Als Herzog Ernst August sich einigermaßen gefasst hatte, besprach er mit seiner Frau, was zu tun sei. Und schnell stand für ihn fest, dass Sophie, in Verhandlungen sehr geschickt, die Angelegenheit mit ihrem Schwager klären sollte.

»Das darfst du nicht von mir verlangen, dass ich bei dieser Madame zu Kreuze krieche«, wandte die Herzogin zunächst ein. Aber dann begriff sie, dass sie keine andere Wahl hatte. Um zu verhindern, dass die gewaltige Mitgift dem Feind zufiel, musste sie klein beigeben und in Celle um die Hand Sophie Dorotheas anhalten – stellvertretend für ihren Ältesten, stellvertretend für Georg Ludwig.

Ohne anzuklopfen ging sie ins Schlafgemach. Der Heideherzog saß gerade am Frisiertisch, um sich die Morgenperücke aufsetzen zu lassen. Sein kurzgeschorenes fuchsrotes Haar leuchtete in der Sonne, die durch das Schlossfenster schien. Neben Tabak- und Puderdosen, Parfümflakons und Frisierspiegeln dampfte die heiße Frühstücksbouillon. Doch Sophie achtete nicht darauf. Ohne eine Aufforderung abzuwarten, setzte sie sich neben den einstigen Verlobten. Dem Herzog, sonst nie um einen deftigen Spruch verlegen, fiel es schwer, seine Verblüffung in Worte zu fassen.

»Du? Sophie? Wo kommst du her?«

Die Angesprochene nutzte die Verwirrung des Schwagers und bestimmte von vornherein die Richtung des Gesprächs.

»Ich bin gekommen, weil ich Deiner Tochter zum Geburtstag gratulieren wollte«, begann sie. »Ich war die ganze Nacht unterwegs, entschuldige also bitte, wenn ich ein wenig abgehetzt bin.«

»Natürlich, selbstverständlich. Schön, dass du da bist. Du musst durstig sein. Was darf ich dir …?«

»Danke, nicht nötig.«

Der Herzog von Celle hatte in dieser frühen Morgenstunde immer noch nicht begriffen, wie ihm geschah. Doch die Besucherin gab ohnehin den Ton an.

»Schön ist es hier geworden. Wundervoll, wirklich. Was für prächtige Leuchter?«

»Ja, die sind wirklich sehr schön, wir haben das Glas aus Murano kommen lassen. Oh ja, Venedig, das waren noch Zeiten. Ich darf gar nicht daran denken.«

Die altbekannten Fernwehattacken, Sophie ging erst gar nicht darauf ein. »Auch die Decke scheint neu zu sein«, fuhr sie fort. »Schön, diese weißen Stuckarbeiten. Wirklich, sehr geschmackvoll.«

»Ja, die hat uns ein Italiener gemacht. Wie heißt er noch? Tonelli?

»Du meinst Tornielli – Giovanni Batista Tornielli.«

»Natürlich, Tornielli, der war’s. Meine Frau hätte es sofort gewusst, aber ich kann mir diese Namen einfach nicht merken.«

»Wo ist denn eigentlich die Madame, äh, ich meine, die Herzogin?«

Anstatt zu antworten, zeigte Georg Wilhelm zunächst nur auf die halb geöffnete Tür. Er räusperte sich. »Die Herzogin liegt noch im Bett.«

Doch sie war offenkundig bereits wach. »Was ist denn da los?«, rief Eleonore plötzlich mit verschlafener Stimme aus dem Nachbarraum. »Was macht ihr für einen Lärm so früh am Morgen.«

»Besuch aus Hannover, mein Schatz. Sophie ist gekommen«, antwortete der Herzog. »Aber lass dich durch uns nicht stören, schlaf ruhig noch ein wenig, mein Liebling.«

Nun sah sich auch die Besucherin genötigt, ein Wort der Begrüßung an die Unsichtbare unterm Baldachin im Nebenzimmer zu entrichten. »Guten Morgen, Gnädigste. Ich bin gekommen, Eurer Tochter meine Glückwünsche zum Geburtstag zu entrichten.«

»Wie freundlich.«

Doch Eleonore d’Olbreuse war so entsetzt über den unerwarteten Besuch, dass sie sofort wieder verstummte.

Mit gedämpfter Stimme fuhr Sophie fort, auf ihren Schwager einzureden. Bevor sie zur Sache kam, umgarnte sie ihren Gesprächspartner weiter mit Freundlichkeiten.

»Wie lange ist es nur her, dass wir zusammengesessen haben. Ach, es ist alles so schwierig geworden, mein Lieber. Ich finde, es wird Zeit, dass wir unsere Empfindlichkeiten allmählich überwinden und miteinander verkehren, wie es sich für eine Familie gehört. Meinst du nicht auch?«

»Du sprichst mir aus dem Herzen.«

»Wunderbar. Das wird auch dein Bruder gern hören, er sehnt sich schon lange danach, wieder einmal mit dir zur Rebhuhnjagd zu fahren. Ich soll übrigens herzliche Grüße von ihm ausrichten.«

»Vielen Dank, Sophie. Sehr freundlich. Bitte grüße ihn auch von mir.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Sie faltete die Hände. »Georg Wilhelm«, setzte sie neu an. »Du weißt, Ernst August schätzt dich wirklich sehr, und er bedauert, dass ihr euch in den vergangenen Jahren so weit voneinander entfernt habt.«

»Mir geht es genauso.«

»Da wirst du mir zustimmen, dass wir alles tun sollten, um das Band zwischen Celle und Hannover wieder enger zu knüpfen.«

Sie nahm einen Schluck von der heißen Schokolade, die ihr ungebeten gebracht worden war.

»Ich glaube, die Chancen sind ausgezeichnet. Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«

Daraufhin präsentierte sie dem Herzog ihren Heiratsplan.

Georg Wilhelm war so gerührt von den versöhnlichen Worten, so erfüllt von der Hoffnung auf ein Ende der Eiszeit zwischen Hannover und Celle, dass es ihm gar nicht in den Sinn kam, Bedenken zu äußern. Das Problem war nur: Wie konnte er seine Frau und seine Tochter von dem neuen Plan überzeugen?

Die verbannte Prinzessin

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