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Prolog: Du, ich kann nicht kommen

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Immer wenn sich ihr Spätdienst dem Ende zuneigt, gegen 21 Uhr, beginne ich an das Telefon zu denken. Es steht draußen auf dem kleinen Wandregal neben der Essecke. Die haben wir uns in die Flurnische gebaut. Zu den Schichtwechselzeiten meiner Frau, an den Wochenenden, sitze ich dort, wie ein pawlowscher Hund und warte, dass es klingelt.

Meine bedingten Reflexe funktionieren. Mein Herzschlag setzt beim Ertönen der Telefonklingel einmal aus und wird dann kurzfristig schneller. Dann ist ihre Stimme da, meine Belohnung.

Ich kenne alle Nuancen dieser Stimme, die hell ist und herzlich, wenn alles okay ist, wenn es drin im Kreißsaal gleich losgeht, oder, wenn sie gerade ein Kind gekriegt hat. Am schönsten klingt ihre Stimme, wenn niemand in der Nähe des Telefons ist, voller Zuneigung, auch tröstend: "Na, nun komme ich ja bald; trinken wir dann noch was?" Sind die Kolleginnen oder ein Arzt im Zimmer oder draußen auf dem langen, meterhohen Flur der alten Frauenklinik, kann sie so reserviert klingen, dass mich eine ganz kleine Furcht ergreift. Völlig unnötig natürlich, denn wir lieben uns. Seit Mai 1957, da haben wir geheiratet. Jetzt ist November, Freitag, und sie hat Spätdienst. Es ist 21.05 Uhr. Gleich! Es klingelt …

Es ist wie immer: der kleine Herzstillstand und die anschließende Beschleunigung. Da ist ihre Stimme: "Hallo Heinzel!" Das bin ich, beziehungsweise mein Diminutiv, gewissermaßen der halbe Heinzelmann.

Wer uns kennt, akzeptiert die kleine Marotte lächelnd. Wir haben uns noch nie mit Vati oder Mutti angeredet. Ich finde, dass das die Liebe tötet.

"Hallo, Heinzel", sagt sie mit dunkler, mich ernüchternder Stimme: "Uta kann nicht kommen, das Kind ist krank. Den Nachtdienst morgen übernimmt jemand anders, aber jetzt den Dienst muss ich noch machen. Ich rufe später noch mal an." — Später, gegen halb zwölf, wenn sie alleine ist. Dann klingt sie wieder besser.

Ich weiß, dass ich nach ihrer Stimme süchtig bin, wie ein Bundesbahn-Reisender, dem nach langem Warten auf winterlichem Bahnsteig endlich die Einfahrt des verspäteten Zuges verkündet wird.

Sie ist auch traurig, aber nicht so offensichtlich, wie ich. Sie ist stärker als ich. Sie weiß das und es gefällt ihr nicht.

Ich setze mich vor den Fernseher und beginne auf den Morgen zu warten.


Samstagmorgen. Um sechs hat sie Schluss. Wenn die Bahn gleich kommt, kann sie gegen sieben da sein.

‚Um Viertel vor gieße ich eine H-Milch in den Topf und fülle zwei braune, feuerfeste Schüsseln (aus Bulgarien) mit je drei Esslöffeln Haferflocken und einem Esslöffel Trinkfix. Sie sagt, dass sie danach besser einschläft.

Das Telefon klingelt. Eigentlich müsste die Türglocke gleich läuten. Es wird also wieder später werden. "Hallo", sagt sie, "ich bin´s." Die Stimme ist rabenschwarz. "Ich muss noch den Frühdienst dranhängen."

Mir fällt nichts ein. Sie mag auch keinen Trost und keine falschen Töne. Dinge, die sie tun muss, tut sie. Sie ist schließlich die leitende Hebamme. Wenn einer ausfällt, springt sie zuerst ein.

Wir werden erst wieder Samstagnachmittag zum Tee miteinander reden. Alle drei Schichten, nein — Dienste heißt es — werden vor meinem geistigen Auge aufgebaut. Ich kenne alle ihre Kolleginnen. Ich weiß, dass der Stellenplan nicht stimmt. Ich leide mit den Frühchen und mit den Frauen, die auf dem Schieber sitzen und bluten.

"Machst du dann was zum Mittag?"

"Ja", sage ich und komme mir schrecklich einsam vor. Ich habe schon viele solcher Wochenenden erlebt. Fast zu viele ...


Am nächsten Samstag, als ich wieder allein bin, gehe ich in die Berliner Stadtbibliothek. Im Lesesaal schlage ich das Hebammenlehrbuch der Justine Siegemund auf. Ich will meiner Frau künftig ein besserer Gesprächspartner sein.

Hebammen-Report

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