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Der gedoppelte Handgriff der Siegemundin

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Im einundzwanzigsten Jahr ward ich von allen Wehmüttern für schwanger gehalten worden. In der mit mir ausgerechneten Schwangerschaftswoche sollte ich mich zur Geburt schicken. Ich kreißte bis in den dritten Tag, ohne erlöst zu werden.

Man holte eine Wehemutter nach der anderen, bis es ihrer viere waren. Alle waren einstimmig mit der ersten: Das Kind stünde recht.

Nachdem ich vierzehn Tage gequälet und auf der Marterbank gehalten worden war und mir eher die Seele ausgetrieben, als ein Kind abgebracht worden wäre, war der letzte Trost der Wehemütter: ich müsste mit dem Kind zusammen sterben.

In dieser äußersten Not ward von meinem Manne und meiner Mutter eines Soldaten Weib in das Dorf geholt worden. Sie urteilte, dass ich kein Kind hätte, wohl aber eine Verstopfung des Geblütes, aber auch eine große Mutterkrankheit und eine Senkung.

Darauf brachte mich ein Doctor Medicinae durch Gottes Hilfe und gute Mittel wieder zurecht.

„Diese Gefahr“, so resümierte Justine Siegemund (1636 bis 1705), die preußische und churbrandenburgische Hofwehemutter in ihrem 1690 erschienenen Unterricht von schweren und unrecht stehenden Geburten, „war die erste Stufe zu meinem Beruf, dass, wie ich mich wieder erholete, begierig war, in den Büchern und Abrissen die ich mir von dieser Materie schaffete, mich zu üben, um aus meinem Zustande zu lernen.“


Wenig später wird sie selbst zu einer armen Bäuerin gerufen, die schon den dritten Tag kreißt. Die bereits anwesende Wehemutter, sie ist gleichzeitig die Schwiegermutter der Kreißenden, weiß keinen Rat, weil das Händlein mit dem halben Arm außer dem Leib herausgedrungen ist. Die Siegemundin bestreicht Hand und Arm des Kindes mit warmem Bier und mit Butter, krümmt den Arm und schiebt Hand und Arm am Ellenbogen zurück. Was passiert da? Das Kindlein zog das Ärmchen an sich; durch dieses Rücken drückte sich der Kopf selber in die Geburt.

In ihrem Unterrichtsbuch unterweist die Siegemundin ihre fiktive Gesprächspartnerin denn auch: Damit ich dich aber zu Verstande bringen kann, wie die Händlein-Geburten, bald bey angehender Geburt, weil das Wasser noch steht, zu verhüten seyn, so musst du des Kindes Finger kneipen oder drucken, so zeucht es das Händlein von selbst zurücke.


Vom ersten Erfolg und von den Schwangeren ermutigt, die sie nun ständig zu Hilfe holen, beginnt sie als Wehemutter zu wirken und tut dies im Umkreis ihres Dorfes Ronnstock zwölf Jahre lang. Sie lernt dabei auch Anomalien der Lage des Kindes kennen und diese zu entwickeln, sie in eine gebärfähige Lage zu wenden.

Die Schwierigkeiten des Wendens bei gesprungener Fruchtblase erklärt Justine an einem Beispiel: Das Kind lieget in der Mutter (im Uterus) wie in einem nassen Tuche, dass dem Kind am Leibe anklebet. So denke doch: wenn ich ein naß Hemde anhätte und du solltest mich aus dem Hemde herausziehen. Aber: noch schwerer, wenn ich müsste darin umgekehret werden.


Eine Wende in ihrem eigenen Leben tritt ein, als sie, nach erfolgreichen Entbindungen von Pfarrersfrauen und Frauen des Landadels, vom Liegnitzer Magistrat als Wehemutter angefordert und angestellt wird. Auf Bitte eines Medico zu einer Frau gerufen, wird sie mit einem auch für sie neuen Fall konfrontiert und findet eine operative Lösung: Es war eine hohe Person, der ein Gewächs in der Mutter angewachsen, das schon anfieng zu faulen, und wo es nicht würde weggenommen, ihr der gewisse Tod drohte. Ich versuchte es mit einem Haaken zu fassen, in der Meynung, es allmählig herauszuziehen, fand es aber angewachsen. Sie lässt sich etwas anderes einfallen: Ich nahm ein weißes Band, machte daraus eine Schlinge und brachte diese vermittels meiner rechten Hand und Finger über dem Gewächse an. Wie es recht gefasset, zog ich die Schlinge mit der linken Hand zu und schnitt hernach durch eine lange Scheere das Gewächse so glücklich ab, dass diese hohe Person noch neun Jahre hernach lebte.


Um 1686 wird die Siegemundin von einer, in ihrem Buch als gewisse weibliche Person bezeichneten, schwangeren Hofdame nach Berlin zur Entbindung gerufen. Hier erfolgt kurze Zeit später ihre Anstellung als Königlich-Preußische und Churbrandenburgische Hofwehemutter. Am Hofe Friedrich III. wird am 15. August 1688 der spätere Friedrich Wilhelm I. geboren. Hat die Siegemundin diese Entbindung geleitet?

Es klingt fast wie eine Rechtfertigung, wenn sie erklärt, wie sie zum Schreiben kam. Sie hat die Wartezeit bis zur Niederkunft der Frauen jedes Mal damit ausgefüllt, ihre Gedanken und Anmerkungen über die schweren Fälle zu Papier zu bringen. Sie schrieb: Es nicht zu vergessen und bey anderen desto mehr davon zu reden, Berufskolleginnen ihre Erfahrungen weiterzugeben.


Während der Entbindung einer Prinzessin von Nassau in Holland trifft sie mit Maria II., Gemahlin des englischen Königs Wilhelm III., zusammen und zeigt ihr die zu einem Manuskript angewachsenen Notizen. Die Majestät äußert hierüber ihr gnädigstes Gefallen und mahnt, das Manuskript fördersamst zum Drucke zu verfertigen.

Solcherart ermutigt, macht sich die Siegemundin ans Werk, reist von Holland nach Frankfurt an der Oder zur 1506 gegründeten Universität, um Vorhaben und Buch der Medicinischen Facultät hochverständiger Censur zu untergeben, die sich dann darzu auch willfährig erwisen und nach Durchlesung meines Buches mich zum Drucke ermahnten.

Ihr Gruß an die Frauen unsrer Zeit: Solchergestalt ist dieses Buch, das so lange, wie in einer Geburt gestecket, ans Licht gekommen, und soll, weil ich keine Kinder zur Welt gebohren, das seyn, was ich der Welt hinterlasse.

An den geneigten Leser, also an die Wehemütter, die an ihrem Wissen und an ihren praktischen Kenntnissen teilhaben sollten, richtet sie diese mahnenden Worte: Es ist nicht genug, dass eine Wehemutter sagen kann, sie habe viel schwere Geburten unter den Händen gehabt; besser ist es, wenn sie schwere Geburten zu verhüten weiß.

Wie notwendig solcher Unterricht und nachdrückliche Ermahnung sind, sagt sie an anderer Stelle: Da wird gewaget, mag es gleich Kopf- oder Armabreißen kosten. Es ist mir selbst begegnet, dass mir ein abgerissener Arm eines Kindes von der Wehemutter, zum Zeichen schwerhaltender Geburt, vorgezeigt ward und ich solches unbescheidene barbarische Verfahren mit harten Verweisen bestrafte.

Decanus, Senior, Doctores und Professores Ordinarii der Medicinischen Facultät der Churfürstlichen Brandenburgischen Universität zu Frankfurt an der Oder bescheinigen das vorliegende Buch gelesen und für gut befunden zu haben. Sie konstatieren ... viele gute und nützliche Dinge, geschickte Handgriffe und Wendungen, so vielen — ja leyder — den meisten Wehemüttern zum nicht geringen Nachtheile vieler gesegneter Frauen, bisher wenig bekannt, angegeben und nach dieser Erfahrung deutlich beschrieben seynd.

Einer dieser Handgriffe wird im Wörterbuch der Medizin von 1956 so beschrieben: Gedoppelter Handgriff der Siegemundin. 1690 von ihr angegebene Methode, schwierige Wendungen dadurch zu erleichtern, dass man zunächst einen erreichbaren Fuß anschlingt. Durch diesen genialen Kunstgriff hat man während der Wendung in jeder Situation die Möglichkeit, am Fuß zu ziehen, beziehungsweise am Fuß ziehen zu lassen.


Der Wunsch der Siegemundin, Wehemüttern einheitliches geburtshilfliches Wissen zu vermitteln, wird 61 Jahre nach der ersten Auflage ihres Lehrbuches verwirklicht: die Berliner Hebammenschule.

Diese so nothwendige Anstalt wurde im Jahre 1751 von dem höchstseligen König (Friedrich II.) gestiftet, berichtet Dr. Ludwig Formey, Königlicher Leibarzt und Oberstaabs-Medicus, 1796 in seinem Versuch einer medicinischen Topographie von Berlin. Und zum Anliegen der Anstalt: Die Direktion erhielt der berühmte Meckel. Seine Instruktion ging dahin, den angehenden Hebammen die Struktur der zur Empfängnis, Nahrung, Ausbildung und Geburt eines Kindes nothwendigen Theile an weiblichen Leichnamen zu zeigen ... , damit sie dadurch zu einer richtigen Erkenntnis derjenigen Zeichen gelangen möchten, wodurch man sich zu überzeugen weiß, ob eine Schwangerschaft vorhanden, eine frühzeitige Geburt zu befürchten, die Leibesfrucht todt, und die Stellung des Kindes natürlich sei, welche Handgriffe bei falschen Stellungen erforderlich, und was sonst zum Unterricht bei Entbindungen nothwendig sei. Zu Berlin wurde mit den Hebammen sogleich der Anfang gemacht, und aus den Provinzen müssen solche ebenfalls eine Zeitlang in dieser Anstalt gewesen sein.

Dr. Formey hat zwischen 1789 und 1794 in einer Statistik alle in der Berliner Charité behandelten Kranken sowie die Entbundenen erfaßt: Entbunden wurden in diesen sechs Jahren 870 Weiber welche gebahren 882 Kinder, nämlich 751 lebendige und 131 todte Kinder. Von den während dieser Jahre insgesamt betreuten 17.891 Patienten wurden 10.570 geheilt entlassen, ungeheilt 331; gestorben sind 2.615.

Die oben angestrebte Entwicklung muss erfolgreich verlaufen sein. 1825 kommt Professor Eduard Caspar Jacob von Siebold im zweiten Band seiner Geschichte der Geburtshülfe im Kapitel Das Hebammenwesen in Teutschland zu dem Schluss: In allen Staaten sind vortreffliche Hebammenschulen eingerichtet, an welchen nach zweckmäßigen, den Fortschritten der Geburtshülfe folgenden Lehrbüchern unterrichtet wird. Bei fast keiner Schule fehlen die Gebäranstalten, in welchen die praktische Anleitung gegeben wird. Die Früchte dieser Bestrebungen lassen sich überall erkennen: Stadt und Land sind mit wohlgebildeten Hebammen versehen, von welchen die Hilfsbedürftigen die beste, dem jetzigen Stand der Geburtshülfe angemessene Behandlung erwarten können. Mißbräuche und Vorurtheile, den Hebammen so lange anklebend, sind ausgerottet, und so wird auch von ihnen eine einfache wahrhaft heilbringende Geburtshülfe … ausgeübt.

Bis dahin ist es freilich ein weiter Weg.

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