Читать книгу Die Rollen des Seth - Helen Dalibor - Страница 23
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ОглавлениеAuf dem Schreibtisch lagen mehrere aufgeschlagene Hefte, die in altdeutscher Schrift beschrieben worden waren.
Isis hatte aufgegeben zu versuchen, die Schrift zu entziffern. Einige Buchstaben waren ihr inzwischen vertraut, doch diese Schrift würde ihr immer fremd bleiben. Als hätte sie ein Manuskript in Chinesisch oder Japanisch vor sich liegen. Scherzhaft verglich sie die hieratische Schrift der altägyptischen Hieroglyphen mit diesen Strichen. Bei der hatte sie heute noch Probleme, sie fehlerfrei zu lesen.
Ihre Großmutter half ihr beim Dechiffrieren der Tagebücher. Sie war noch nicht weit gekommen, doch Isis hatte bereits viel über ihre Vorfahren erfahren. Das Buch über die Familiengeschichte hatte ihr Aufschluss gegeben.
So war der Vater von Claire und Pascal Justine früh verstorben mit gerade einmal fünfundvierzig Jahren. Wie er ums Leben gekommen war, hatte sie nicht herausgefunden. Es schien ihr, als solle es nicht angesprochen werden, als würde es totgeschwiegen. Das hatte sie noch neugieriger gemacht, da der Tod wie ein Familiengeheimnis gehütet wurde. Doch sie konnte sich denken, dass er Selbstmord begangen hatte. Warum sonst sollte sein Tod verschwiegen werden?
Die Familie Justine hatte die Bekämpfung der Protestanten und die Bartholomäusnacht überlebt, war in die Niederlande geflohen und wieder nach Frankreich zurückgekehrt. Während des Grand Terreur waren die Justines endgültig aus Frankreich geflohen, dieses Mal nach Deutschland, wo sie sich in Hamburg niedergelassen hatten. Nachdem sich Napoleon 1805 zum Kaiser der Franzosen gekrönt und seine Eroberungspolitik gestartet hatte, war die Familie ins benachbarte Stellingen gezogen, dass damals nicht mehr als ein Bauerndorf war, wo Kartoffeln angebaut und Milchwirtschaft betrieben wurde. So waren die Justines weitestgehend von den Repressalien verschont geblieben, als Hamburg von 1806 bis 1811 von den Franzosen besetzt gewesen war.
François Justine hatte ein kleines Handelsunternehmen gegründet, aus dem sich innerhalb weniger Jahre ein erfolgreiches Geschäft entwickelte. Sein Sohn verlegte das Geschäft nach Hamburg und legte damit den Grundstein für das Kontor Justine & Sohn. Doch der Niedergang zeichnete sich ab, kurz nachdem Franck Justine, der Vater von Claire und Pascal, das Geschäft übernommen hatte. Was dann geschah, hatte Isis nicht genau nachvollziehen können. Die Chronik hatte dazu geschwiegen.
Anscheinend waren die Probleme größer geworden, wie auch die Geldsorgen. Jedenfalls war Franck Justine auf einmal tot gewesen. Der Konkurs hatte nach seinem Tod gerade eben abgewendet werden können. Doch wirklich erholt hatte sich die Firma nicht mehr. Claire hatte mit ihren knapp zwanzig Jahren versucht zu retten, was zu retten war, doch kurz vor ihrem frühen Tod endete das Bestehen der Firma Justine.
Die Familienchronik war nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden. Sie war ihrem Großvater zugedacht gewesen, in Erinnerung an seine Eltern Claire Justine und Masut.
Bei dem Namen Masut hatte Isis gestutzt. Das war ein arabischer oder türkischer Name gewesen. Der Schreiber, wahrscheinlich hatte es sich um Pascal gehandelt, der seinem Neffen die Geschichte seiner Vorfahren näher bringen wollte, musste sich verschrieben haben. Doch warum hatte er diesen Namen dann stehen lassen und es nicht korrigiert? War ihr Urgroßvater Araber gewesen?
Sie erinnerte sich daran, wie sie in Luxor, während ihrer Ägyptenreise, von einer Einheimischen angesprochen worden war. Sie hatte nicht verstanden, was diese von ihr gewollt hatte. Diese hatte ein Bild gezeigt, eine vergilbte Fotografie, das einen jungen Araber zu zeigen schien, der irgendwie Ähnlichkeit mit ihrem Bruder Knut aufwies, und irgendetwas auf Arabisch zu ihr gesagt. Hatte sie damals nicht auch diesen Namen gehört? Sie konnte sich das auch einbilden, denn je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr glaubte sie sich an den Wortschwall zu erinnern und wie der Name Masut darin vorkam. Nur mühsam hatte sie die Frau abschütteln können. Bis heute hatte sie an dieses Vorkommnis auch gar nicht mehr gedacht.
War Isis' Urgroßvater Araber gewesen? Die Frage galt es noch zu beantworten. Und was war aus diesem Masut geworden? Als sie ihre Großmutter gefragt hatte, war diese genauso überrascht gewesen wie sie.
So saß Isis nun an ihrem Schreibtisch und versuchte etwas über diesen Masut herauszufinden. Grob überflog sie die Tagebucheinträge, auf der Suche nach dem Namen Masut. Einen kleinen Stapel hatte sie bereits erfolglos durchgearbeitet.
Pascal studierte Medizin, musste sich am Ende das Geld für das Studium allerdings verdienen. Erstaunlicherweise half er nicht im Kontor, obwohl es die einfachste Lösung gewesen wäre. Stattdessen arbeitete er als Tierpfleger im Tierpark Hagenbeck, der wenige Jahre zuvor in Stellingen, damals noch vor den Toren Hamburgs, eröffnet worden war. Wahrscheinlich stand es in der Firma so schlimm, dass es nicht möglich gewesen war, Pascals Studium zu finanzieren.
Isis hob den Kopf. Der Tierpark lag in der Nähe dieses Hauses, das damals bereits von ihren Vorfahren bewohnt worden war. Nach einem Brand und später nach den verheerenden Bombennächten während des Zweiten Weltkriegs war das Haus immer wieder aufgebaut worden. Das Haus war immer an die nächste Generation gegangen. In dem Zimmer, wo sie nun saß, hatte vielleicht Pascal oder Claire gelebt.
Auch wenn das Haus wieder aufgebaut worden war, lebten doch die Geister der Verstorbenen weiter fort und wachten über die jetzigen Bewohner. Ein Gedanke, der Isis gefiel. So glaubte sie auch, dass die Menschen, die einem viel bedeuteten und bereits verstorben waren, ständig unsichtbar in ihrer Nähe waren. Und so lange man die Namen der Verstorbenen nicht vergaß, sie aussprach und an sie dachte, würden sie weiterleben. Erst wenn sie vergessen waren, starben sie wirklich. Isis hatte diesen altägyptischen Glauben an die Verstorbenen übernommen. So war der Tod ihres Bruders für sie erträglicher geworden, wenn auch nicht leichter. Selbst heute noch, fast sechs Jahre nach seinem Tod, kamen ihr die Tränen, wenn sie an ihn dachte oder alte Fotos ansah.
Warum ist das Leben bloß so furchtbar kompliziert?, ging ihr wieder einmal durch den Kopf.
Den Tod ihres Bruders hatte sie nie verwunden und verstanden. Warum hatte die Person gehen müssen, die ihr nahe gestanden hatte? Warum war er ihr entrissen worden? Sie hatte es sich wieder und immer wieder gefragt und keine Antwort gefunden. Hatte mit Gott gehadert über das Schicksal, welches er ihr zugedacht hatte, und schließlich hatte sie aufzuhören versucht nach Antworten zu suchen. Manchmal erwischte sie sich dabei, wie sie wieder zu grübeln anfing. Sie würde immer nach einer Antwort suchen bis sie eine gefunden hätte, die sie überzeugte.
Isis hielt inne und fuhr mit dem behandschuhten Finger über die Zeile. Dort stand der Name Masut. Sie fing leise zu kichern an, wurde lauter bis sie herzhaft lachte.
"Alles in Ordnung mit dir?", fragte eine besorgte Stimme. Es war Karla, die den Kopf zur Tür hineinsteckte.
Isis' Stimmungsschwankungen in den letzten Jahren machten ihr Sorgen. Mona versuchte ihr das auszureden, da sie Isis nicht anders kannte. Doch es gelang ihr nicht, da sie - Karla - überzeugt war, dass Isis sich verändert hatte. Es fiel nicht weiter auf, aber ihre Abkapslung von der Welt hatte sich im Laufe der Jahre immer weiter verstärkt. Wenn sie nicht unbedingt raus musste, blieb sie zu Hause und verkroch sich in ihrem Zimmer. Ein so junger Mensch wie Isis musste unter Leute und konnte nicht wie ein Einsiedler leben. Doch all ihre Versuche, Isis für ihre Außenwelt zu begeistern, waren fehlgeschlagen. Nicht einmal nach Hagenbeck hatte sie gewollt, obwohl sie früher eine Jahreskarte besessen und Karla und Mona immer von den Elefanten erzählt hatte. Isis schien sich zu Hause am Wohlsten zu fühlen, beschützt von den Mauern ihres Hauses.
"Klar", sagte Isis und langsam verebbte ihr Lachen. "Ich habe endlich etwas über diesen Masut gefunden. Du weißt schon, der angebliche Schreibfehler, der der Vater meines Großvaters ist oder sein soll."
"Ach, die mysteriöse Geschichte, dass du von einem Ägypter abstammst. Seit Ägypten hast du davon nicht mehr gesprochen." Karla zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Isis an den Schreibtisch. "Dann lass mal sehen, was du gefunden hast." Zwar interessierte es sie nicht, doch irgendjemand musste Isis zuhören, wenn sie etwas zu erzählen hatte. Und Mona hatte zu so etwas meist nicht den Nerv, weshalb diese Aufgabe immer an Karla hängen blieb. Aber wie oft hatten sie früher Isis ihre Sorgen erzählt? Es war sehr oft gewesen, und wenn Isis Probleme hatte, waren sie darauf nicht eingegangen. Ein Fehler, wie Karla heute vermutete. Dass sie aber nicht der Dauerbeschäftiger für Isis sein konnte, interessierte Mona nicht, der es allein um ihr Studium ging, das sie möglichst bald beenden wollte.
"Der Eintrag ist von Pascal, aus dem Jahr 1912. Er soll einen jungen Ägypter namens Masut überwachen. Der könnte an einer Krankheit leiden."
Karla hatte das Gefühl, dass Isis sich zwar freute, etwas über diesen Masut gefunden zu haben, aber dennoch enttäuscht war, dass nicht mehr in dem Tagebuch-Eintrag gestanden hatte.
"Da wird bestimmt noch mehr stehen, wenn dein Vorfahr ihn bewachen sollte. Du musst nur suchen, denn wer suchet, der findet."
"Richtig", sagte Isis lachend, wurde aber sogleich wieder ernst. "Werdet ihr mir morgen helfen?"
Karla seufzte, nickte dann. Sie und Mona hatten sich entschlossen, Isis zu helfen, aber es sollte das allerletzte Mal sein.
"Merci, ich wusste, dass ich mich auf euch verlassen kann. Ihr wolltet mich nur ein wenig zappeln lassen, wie es Monas Art ist."
Karla nickte nur und ließ Isis reden. Sollte ihre Freundin dieses Mal denken, was sie wollte. Es würde das letzte Mal sein, dass sie ihrer Freundin helfen würden. Irgendwann musste Schluss sein.