Читать книгу Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan - Страница 10
Das Ocularium
ОглавлениеDie Morgensonne fiel durch Violets Fenster, wärmte ihr Gesicht und weckte sie sanft aus ihren Träumen. In ihrem neuen Bett hatte Violet geschlafen wie ein Stein.
Nachdem sie sich ausgiebig gereckt und gestreckt hatte, setzte sie sich auf. Jetzt erst merkte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie nahm noch verschwommen die Ränder ihres Zimmers wahr, doch alles, was direkt vor ihr lag, verschwand hinter einem fetten schwarzen Fleck, als wäre ihr über Nacht Tinte unter die Lider gelaufen. Sie rieb sich die Augen, aber nichts geschah – sie konnte immer noch nichts sehen.
Ihr Herz begann zu rasen. Sie schob den Fuß unter der Bettdecke hervor und tastete nach dem Boden.
»Aua!«, schrie sie, als sie sich auf dem Weg zur Tür den Zeh an etwas Hartem stieß. »Mam!«
»Was ist los, Violet?«, meldete sich Dad mit verschlafener Stimme zu Wort.
Ein plötzliches Krachen ließ das Haus erzittern.
»Eugene!«, rief ihre Mutter. »Eugene, was ist passiert, geht es dir gut?«
Mit ausgestreckten Händen tappte Violet durch die Tür und bahnte sich einen Weg zum Schlafzimmer ihrer Eltern.
Sie stolperte hinein. »Mam, ich kann nichts sehen!«
»Ich auch nicht, Mäuschen«, antwortete ihr Vater merkwürdig gut gelaunt. »Kein Grund zur Panik, genau davor wurden wir ja schon gewarnt.«
»Aber nicht, dass es so schnell gehen würde!«, protestierte ihre Mutter.
»Kein Grund zur Panik«, wiederholte Violets Dad, auch wenn seine Stimme dabei in eine etwas höhere Tonlage rutschte. »Violet, komm her und steig zu deiner Mutter ins Bett. Ich gehe nach unten und versuche mal, ob ich die Archers erreiche. Sie wissen bestimmt, was jetzt zu tun ist.«
»Und wie soll das gehen, Eugene? Du kannst doch auch nichts sehen«, schluchzte ihre Mutter.
»Macht euch um mich mal keine Sorgen«, antwortete er und stieß prompt mit Violet zusammen, die gerade auf allen vieren über den Schlafzimmerteppich krabbelte.
»Pass auf, Dad!«, rief Violet. Damit verstieß sie zwar gegen ihr Schweigegelübde, aber es handelte sich nun mal um einen Notfall.
»Gute Idee, Mäuschen!«, sagte ihr Vater und ließ sich umständlich auf die Knie sinken. »Ich hole dann also mal Hilfe und bin gleich wieder zurück. Vertraut mir.«
Violets Vater krabbelte quer durchs Schlafzimmer und hinaus in den Flur.
Ihm vertrauen? Das konnte er sich abschminken. Er hatte ihnen den Schlamassel doch erst eingebrockt.
»Au!«, schrie Violet, als sie gegen das Bett ihrer Eltern knallte.
»Alles in Ordnung, Mäuschen?«, erkundigte sich ihre Mutter von oben.
Violet rieb sich die Stirn. Blut fühlte sie schon mal keins.
»Ja, ich glaub schon«, stöhnte sie und kletterte zu Rose ins Bett.
Die Matratze war noch warm und das Bettzeug roch nach Dad. Violet kuschelte sich eng an ihre Mam.
»Guten Morgen!«, rief eine Stimme von draußen zu ihnen herauf. »Ist es nicht ein wundervoller Tag, Familie Brown?«
»Mam, da draußen ist jemand.«
»Ich weiß, Mäuschen. Warte hier«, flüsterte ihre Mutter und stieg aus dem Bett.
Rose stolperte durchs Zimmer, dann ging das Fenster quietschend auf und kalte Luft strich kitzelnd über Violets Zehen, die unter der Bettdecke hervorlugten.
»Hallo?«, rief Rose.
»Oh, guten Morgen, Mrs Brown. Ich wollte nur mal nach Ihnen sehen und bei der Gelegenheit Eugene anbieten, ihn zur Arbeit zu fahren.«
»Ach, Sie sind das, Mr Archer«, seufzte ihre Mutter. »Sie schickt der Himmel. Ich fürchte, wir fühlen uns nicht so gut. Die Wirkung der Sonne hat früher eingesetzt als erwartet.«
»Herrje, wie bedauerlich. Aber es reagiert eben jeder etwas anders darauf und manchmal geht es doch schneller als gedacht. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen das in null Komma nichts wieder in Ordnung.«
Einige Minuten später führte Mr Edward Archer – Violet war sich sicher, dass er es war, denn er war kaum größer als sie – Eugene, Rose und Violet behutsam aus dem Haus und zu seinem Auto.
»Auf zum Ocularium!«, rief er, als der Motor surrend zum Leben erwachte.
Violet wunderte sich, warum sie sich Fische ansehen sollten, wo sie doch so gut wie blind waren. Erst als sie ankamen und sie aus dem Augenwinkel einen verschwommenen Blick auf das Ladenschild erhaschte, verstand sie, dass Mr Archer »Ocularium« gesagt hatte und nicht »Aquarium«. Von ihrem Dad wusste sie, dass »okular« irgendwas mit Augen zu tun hatte. Das Ocularium war offenbar ein Brillengeschäft! Das ergab auch viel mehr Sinn. Sowohl das Wort als auch die seltsame Schreibweise passten zu Edwards Vorliebe für hochgestochene Ausdrücke.
Als Mr Archer sie am Arm fasste und ihr langsam aus dem Auto half, beschloss Violet, dass sie nie wieder blind sein wollte. Sie mochte es, sehen zu können. Schon jetzt vermisste sie die vielen Farben und sehnte sich nach allem, was blau oder lila oder orange war. Sogar braun wäre ihr lieber gewesen als dieses eintönige Schwarz.
»Mr Archer«, sagte sie, als ihr plötzlich etwas einfiel, »wir waren doch noch gar nicht in der Sonne. Wie kann es da sein, dass unsere Augen schon so schlecht geworden sind?«
»Die Sonne hat den ganzen Morgen durch dein Fenster geschienen, Liebes«, antwortete Edward Archer.
»Aber …«
»Manche Menschen reagieren sehr empfindlich darauf, Violet«, unterbrach er sie und drückte ihren Oberarm so fest, als wolle er ihn abschnüren.
Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, stieß jedoch prompt mit dem Zeh gegen etwas Hartes.
»Aua!«, jaulte sie auf und hob ihren Fuß.
»Ach herrje, ich Dummerchen habe ganz vergessen, die Treppe zu erwähnen!« Edward Archer lockerte seinen Griff.
Sie klammerte sich an seinem Ellbogen fest und tastete sich vorsichtig die fünf breiten Stufen hinauf. Dann wurde das Schwarz plötzlich noch schwärzer und sie geriet ins Stolpern.
»Keine Sorge, Liebes, wir sind nur gerade reingegangen, dadurch hat sich das Licht ein wenig verändert«, sagte Edward lachend.
Violet lächelte so höflich wie möglich. Sie hatte sich ohnehin schon halb entschieden, aber durch sein Lachen war die Sache endgültig klar: Sie hasste Edward Archer fast genauso sehr wie seinen Bruder.
»Hier ist ein Stuhl. Komm, ich helfe dir, dich zu setzen«, verkündete er. Er nahm ihre Hände, sodass sie sich langsam rückwärts sinken lassen konnte.
Sie zuckte zusammen, als das kalte Leder ihre nackten Beine berührte. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie immer noch ihren Sommerschlafanzug anhatte, den mit den vielen roten und rosafarbenen Herzchen drauf. Bei dem Gedanken daran wurden ihre Wangen ganz warm. Sie hatte ihrer Mam gesagt, dass sie zu alt für Herzchen war, aber Eltern hörten ja nie zu.
»Ich gehe eben deine Mutter und deinen Vater holen, Liebes«, rief Edward Archer ihr zu, während er sich bereits entfernte.
Stille legte sich über den Laden.
Manchmal mochte es Violet, wenn es ganz still war, aber nicht in diesem Moment. Wenn man blind war, hatte Stille etwas Beängstigendes. Sie schob die Hände unter die Oberschenkel und schlenkerte mit den Beinen, während sie krampfhaft versuchte, sich an ein fröhliches Lied zu erinnern.
Plötzlich hörte sie, wie schnelle Schritte den Laden durchquerten und eilig auf sie zukamen – was sie daran erkannte, dass sie immer lauter wurden. Sie drehte den Kopf in Richtung des Geräuschs.
»Ich muss mit deinem Dad reden«, flüsterte ihr jemand ins rechte Ohr.
»Wer ist da?«, fragte sie atemlos.
Schwerere Schritte kamen in den Laden. »Hab ich dich, du räudige Waise!«, keuchte eine andere Stimme.
Es folgte eine wilde Jagd. Jemand rannte hinter Violets Stuhl, hielt sich für einen Moment daran fest und kippte ihn dadurch beinahe um, dann stürmten die Schritte (die schweren wie auch die leichteren von davor) wieder nach draußen und verklangen in der Ferne.
»Wer ist da?«, rief sie noch einmal, während sie sich mit beiden Händen krampfhaft an den Armlehnen ihres Stuhls festkrallte.
»Violet, was machst du denn hier?«
Diese Stimme kannte sie. Sie gehörte George Archer.
»Jemand war hier im Laden! Und dann hat jemand anderes ihn gejagt!«
»Ach ja?«, erwiderte er. Er klang beunruhigt. »Hast du sie gesehen? Wie sahen sie aus?«
»Nein«, antwortete sie schnell. »Ich kann nichts sehen, aber ich hab sie gehört. Einer von ihnen hat mir was ins Ohr geflüstert!«
»Ach herrje«, sagte George Archer lachend, »du bist jetzt schon blind? Wenn man sein Augenlicht verliert, spielt einem das Gehör manchmal Streiche.«
»Nein, es war wirklich jemand hier. Ich hab mir das nicht bloß eingebildet, das schwöre ich«, beharrte Violet.
»Da war niemand«, widersprach George schroff. Damit war das Gespräch beendet.
Im Laden ertönten vertraute Stimmen.
»Mam, bist du das?« Violet lehnte sich aus ihrem Stuhl.
Jemand packte sie bei den Schultern und zog sie zurück.
»Hier gibt es jede Menge Glas, das zu Bruch gehen kann, Violet, Liebes«, knurrte George Archer hinter ihr.
»Violet, keine Angst, Mäuschen, wir sind ja hier«, erklang Dads beruhigende Stimme irgendwo links von ihr.
Sie wollte etwas erwidern, doch sie konnte nicht. Ihr Schweigen hing einen Moment lang in der Luft, dann ergriff Edward Archer das Wort. »Fangen wir mit dir an, Violet«, sagte er. Es klang, als stünde er direkt vor ihr. »Ich hoffe, die hier sitzt. Wenn nicht, können wir sie noch anpassen. Du hast einen ungewöhnlich großen Kopf für dein Alter.«
Violet zuckte zusammen und schloss die Augen, als ihr eine Brille recht unsanft auf die Nase geschoben wurde. Warme, verschwitzte Hände umfassten ihr Gesicht und rückten das Gestell zurecht. Die Bügel fühlten sich ziemlich klobig an und drückten hinter den Ohren.
»So«, meinte Edward schließlich, »dann erzähl uns doch mal, was du siehst.«
Violet hielt den Atem an. Was, wenn sie immer noch blind war? Langsam öffnete sie die Augen und schnappte nach Luft.
Farben füllten ihr Blickfeld: sattes Braun von den glänzenden dunklen Holzoberflächen an den Wänden, tiefes Rot von dem dicken Teppich unter ihren Füßen und leuchtendes Gold von den unzähligen Brillengestellen, die in den funkelnden Glasvitrinen auslagen. Es war das eleganteste Geschäft, das sie je gesehen hatte.
»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Edward.
»Nein, nein«, stammelte Violet, während sie sich umschaute. »Es ist nur … so was wie das hier hab ich noch nie gesehen. Das ist fantastisch!«
Die Brüder wechselten einen stolzen Blick.
»Wir geben unser Bestes«, antwortete Edward mit einem selbstgefälligen Grinsen.
Violet setzte sich wieder und beobachtete, wie die Zwillinge in den Vitrinen nach geeigneten Brillen für ihre Eltern suchten.
Die Gestelle waren alle gleich: rechteckig, mit einem schmalen Goldrand und rosafarbenen Gläsern. Nur die Bügelenden hinter den Ohren passten nicht so recht dazu. Sie waren breit, eckig und irgendwie klobig, ganz anders als die filigranen Gestelle. Violet rückte ihre Brille zurecht. Die Bügel drückten unangenehm gegen ihren Kopf.
»Lass schön brav die Finger davon«, knurrte George, als er sie ertappte, wie sie an ihrer Brille herumfummelte.
Violet setzte sich auf ihre Hände und sah eine Weile zu, wie die Archers um ihre Eltern herumschwirrten. Als sie sich sicher war, dass die Zwillinge nicht länger auf sie achteten, glitt sie leise von ihrem Stuhl und begann, sich umzusehen.
Alles in dem Geschäft glänzte und funkelte. In den goldenen Knäufen der Glasvitrinen, die die gesamte Wand vor ihr ausfüllten, konnte sie sogar ihr Spiegelbild erkennen. Edward Archer hockte mit dem Rücken zu ihr auf einer hohen Leiter, um eine Brille aus einem der oberen Fächer zu holen.
Links von ihr war eine holzverkleidete Wand. Violet bemerkte einen feinen Lichtstrahl, der durch einen Spalt im dunklen Holz fiel. Sie ging darauf zu und drückte sanft gegen das auf Hochglanz polierte Paneel. Es schwang auf und gab den Blick auf einen versteckten Raum frei.
Als sie eintrat, fand sie sich in einer Bibliothek wieder. Regale aus dunklem Holz, in denen sich ein Buch ans andere reihte, säumten die Wände. Die Bücher waren alt. Einige waren so abgegriffen, dass es unmöglich war, den Titel zu entziffern. Solche Bücher liebte ihr Dad. Er fand, sie erzählten nicht nur die Geschichte, die in ihnen stand, sondern auch die der Leute, denen sie vorher gehört hatten. Ihrer Mam zufolge bedeutete das bloß, dass sie gebraucht waren und komisch rochen.
Violet zog einige Bände heraus, erst Eine optische Illusion, dann Der blinde Taschenspieler und schließlich Die Seherin. Sie wollte gerade nach dem nächsten greifen, als hinter ihr eine Stimme ertönte.
»Denk nicht mal daran.«
Sie fuhr herum und erstarrte. Vor ihr stand George Archer.
»Hier in Perfect erwarten wir perfektes Betragen!«, blaffte er.
»Da bist du ja, George.« Edward Archers lächelndes Gesicht erschien in der Tür. »Wie ich sehe, hast du Violet gefunden. Wir haben uns schon Sorgen gemacht, Liebes.«
Violet stürmte an Edward vorbei zurück in den Laden und suchte hinter dem Stuhl ihrer Mutter Schutz. Von dort beobachtete sie, wie die Brüder damit fortfuhren, ihren Eltern Brillen anzupassen.
Seltsamerweise wirkte Edward gar nicht mehr so klein wie vorher. Sein Kopf war nicht mehr so groß und seine Augen standen nicht länger hervor. George hatte sich ebenfalls verändert. Er schien nicht mehr ganz so absurd groß zu sein. Seine Augen passten zu seinem Gesicht und seine Arme und Beine waren viel weniger dürr und schlangenartig. Er konnte sogar stehen, ohne den Kopf schief zu legen. Für sich genommen waren es nur kleine Veränderungen, aber alle zusammen sorgten dafür, dass die Archers irgendwie weniger hässlich aussahen. Sie wirkten beinahe nett. Was allerdings nicht bedeutete, dass Violet anfing, sie zu mögen.
Ihre Eltern trugen nun auch Brillen mit goldenem Rahmen. Rose sah bezaubernd aus, aber sie war immer schon bildschön gewesen, das sagte jeder. Insgeheim hoffte Violet, dass über sie eines Tages auch so geredet werden würde. Ihr Dad sah ebenfalls toll aus – selbst sein Haar wirkte irgendwie voller. Die beiden waren das perfekte Paar, warum war ihr das zuvor nie aufgefallen?
»Violet«, sagte ihre Mam, als sie den Laden verließen, »diese Brille steht dir wirklich gut, Mäuschen. Du siehst wunderschön aus!«
Perfect machte sie offenbar alle ein wenig gefühlsduselig. Violet fiel trotzdem nicht darauf rein. Die Stadt hatte sie blind gemacht und das nahm sie ihr gewaltig übel. Und die Archers konnte sie auch nicht ausstehen, vor allem nicht George, der ständig mies gelaunt schien.
Auf den Stufen vor dem Laden nahm sie ihre Brille ab und blickte sich um. Um sie herum war alles dunkel und verschwommen. Kaum dass sie die Brille wieder aufsetzte, kehrte ihr Augenlicht zurück.
Sie probierte das Ganze noch mehrmals aus, immer mit demselben Ergebnis. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ohne ihre Brillen waren sie außerstande zu sehen. Das Gleiche musste demnach für sämtliche Einwohner der Stadt gelten. Wenn es nach Violet ging, war das alles andere als perfekt.