Читать книгу Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan - Страница 12
Die höchsten Söhne von Perfect
ОглавлениеDie Archers hatten Violets Dad den Tag freigegeben, damit er sich ein wenig einleben konnte. Die kleine Familie beschloss, die Gelegenheit zu nutzen und sich in der Stadt umzusehen.
Perfect erkundete man am besten zu Fuß, hatte Edward Archer erklärt, als er sie zu Hause abgesetzt hatte. Also taten sie genau das. Nachdem sie ihre Schlafanzüge gegen straßentauglichere Kleidung getauscht und ein schnelles Frühstück zu sich genommen hatten, machten sie sich auf den Weg. Violet lief vor ihren Eltern her die Auffahrt entlang. Nach einigen Schritten blieb Rose stehen und seufzte. »Ist es nicht herrlich, Eugene?«
Sie waren von Bergen umgeben. Im Vordergrund erhoben sich grüne Hügel und dahinter ragten blaue Gipfel in die Höhe. Perfect saß mittendrin, als hätte jemand mit einem überdimensionalen Löffel eine Kuhle in die Gebirgslandschaft geschabt, die gerade eben groß genug für das kleine Städtchen war. Ansonsten war weit und breit nichts zu sehen. Schon während der Anreise hatte Violet das dumpfe Gefühl verspürt, mitten ins tiefste Nichts zu fahren – jetzt wusste sie, wie recht sie damit gehabt hatte.
Schon nach wenigen Stunden hatte sie sich an ihre Brille gewöhnt. Es kam ihr beinahe vor, als hätte sie schon immer eine getragen. Alles wirkte gestochen scharf und die Aussicht war zugegebenermaßen doch ganz nett.
Ihr Haus befand sich am Rand der Stadt, am Ende einer Allee. Während sie die Straße entlangschlenderten, fiel Violet auf, dass die Bäume im exakt selben Abstand zueinander standen. Um sicherzugehen, maß sie nach, indem sie unterwegs die Schritte zählte.
Nach ein paar Minuten bogen sie nach links ab, in eine schmale Straße, die zum Stadtzentrum führte. An einem der Gebäude war hoch oben ein schwarzes Eisenschild mit der Aufschrift »Splendid Road« befestigt.
Links und rechts von ihnen reihte sich ein dreistöckiges, aus roten Ziegeln gemauertes Haus an das nächste. Die Straße führte geradewegs auf das Brillengeschäft der Archers zu, das ihnen wie ein Leuchtfeuer den Weg wies. Als sie darauf zugingen, bemerkte Violet, dass sämtliche Türen in der Straße schwarz gestrichen waren und auf jedem Fenstersims ein Blumenkasten stand.
Beim Anblick der Stufen vor dem Brillenladen musste Violet daran denken, wie sie sich dort erst vor wenigen Stunden schmerzhaft den Zeh angestoßen hatte. Nun konnte sie das Gebäude in seiner ganzen Pracht sehen. Über der dunkelblau gestrichenen Tür prangte in großen goldenen Lettern der Schriftzug: »Archers’ Ocularium«.
Links des Oculariums befand sich eine hohe Mauer, rechts davon erstreckte sich eine Straße zwischen zwei Häuserreihen, bei denen es sich um weitere Geschäfte zu handeln schien. Auch hier hing wieder ein schwarzes Eisenschild an der Wand und verkündete, dass dies die »Edward Street« war.
»Ist es nicht wundervoll, Violet?«, fragte ihr Vater lächelnd. »Ich liebe solche alten Städte. Sogar die Stadtmauer steht noch. Denk nur, welch lange Geschichte sich dahinter verbergen muss.«
Violet behielt ihr Schweigen bei. Geschichte war das Schulfach, das sie am allerwenigsten mochte. Darüber wollte sie nicht auch noch in ihrer Freizeit nachdenken.
Die Familie setzte ihren Weg durch die Edward Street fort.
Drei Häuser weiter kamen sie an Hatchets Familienmetzgerei vorbei. Ein Mann mit weißer Mütze, rot gestreifter Schürze und goldgeränderter Brille begrüßte sie herzlich. Er sprach sie mit Namen an, was seltsam war, weil sie ihm definitiv noch nicht begegnet waren.
»Es ist eben eine Kleinstadt, Rose, daran werden wir uns wohl oder übel gewöhnen müssen«, antwortete ihr Vater, als ihre Mutter ihn auf die Freundlichkeit der Bewohner ansprach.
»Oh, ich glaube, ich habe mich schon daran gewöhnt, Eugene. Ich fühle mich hier zu Hause, das ist genau das, was wir gesucht haben. Ich bin so froh, dass du uns hergebracht hast.«
Wie bitte? Ihrer Mutter hatte die Vorstellung, umziehen zu müssen, überhaupt nicht gefallen. Sie tue das nur der Familie zuliebe, hatte sie unzählige Male gesagt. Offenbar hatte sie ihre Meinung schnell geändert.
»Ich finde, wir haben die richtige Entscheidung getroffen, Eugene.« Lächelnd drückte sie die Hand ihres Mannes.
Violets Dad strahlte übers ganze Gesicht. Überschwänglich küsste er seine Frau auf die Stirn, während sie vor der Konditorei standen. Violet schämte sich in Grund und Boden.
Sie fand die Stadt seltsam. Es fing damit an, dass wirklich alle hier eine Brille trugen, noch dazu immer das gleiche rechteckige Modell mit Goldrand und rosaroten Gläsern. Die Straßen waren blitzsauber und ordentlich. Nirgends war auch nur ein Fitzelchen Abfall zu erkennen, nicht mal ein einzelnes Bonbonpapier. Auf keiner der schwarzen Bänke entlang der Bürgersteige klebte Kaugummi und an den Wänden fand sich kein noch so winziges Graffiti. Die Menschen waren allesamt schlank, und obwohl sie nicht unbedingt gleich aussahen, waren sie sich doch irgendwie ähnlich. Es war so eine Art Glanz oder Schimmer – irgendwie schien jeder hier regelrecht zu leuchten.
»Sie sind gesund, Violet«, erklärte ihr Vater, als sie ihre Eltern darauf hinwies. »Die Archers haben mir erzählt, dass Perfect als gesündeste Stadt der Welt gilt.«
Da war eindeutig etwas dran. Bis jetzt waren sie noch an keiner einzigen Frittenbude vorbeigekommen und dabei liebte Violet Fish ’n’ Chips. Das war Sonntagabend-Familientradition im Hause Brown. Im Stillen setzte sie auch diesen Punkt auf ihre Liste der Dinge, die gegen Perfect sprachen.
Während ihre Eltern sich angeregt mit einem weiteren Passanten unterhielten, der sie bereits beim Namen kannte, schlich Violet heimlich davon.
Sie kam am Rathaus vorbei, einem alten Gebäude, dessen Fassade vier steinerne Säulen zierten. Violet blieb stehen und legte den Kopf in den Nacken, um den riesigen Uhrenturm besser sehen zu können, der auf dem Schrägdach des Rathauses prangte. Bestimmt hatte man von dort oben einen tollen Blick über die gesamte Stadt mitsamt den umliegenden Bergen.
Neben dem Rathaus stand das Teegeschäft der Archers. Es war in den gleichen Farben gehalten wie die inzwischen leere Packung Tee, die noch vom Vorabend auf dem Küchentisch lag: dunkelblau mit goldener Schrift.
Ein Stück weiter zweigte eine Straße nach links ab. Hoch oben an der Häuserwand hing wieder eines dieser schwarzen Eisenschilder, diesmal mit der Aufschrift: »Archers’ Avenue«.
Violet bog von der Edward Street ab und folgte dem makellos sauberen Kopfsteinpflaster der Archers’ Avenue. Auf der rechten Straßenseite standen zweistöckige Wohnhäuser, auf der linken gab es einen engen, beinahe versteckten Durchgang entlang der Rückseite der Geschäfte, die auf die Edward Street hinausgingen.
Der Durchgang lag im Schatten der Geschäfte links und einer hohen Mauer rechts. Er war dunkel und nicht sonderlich einladend, ganz anders als alles, was Violet bisher in Perfect gesehen hatte. Ein Schild verkündete, dass es sich um die »Rag Lane« handelte. Lumpengasse. Das passte.
Etwas daran zog sie geradezu magisch an.
Mit einem Anflug von Nervosität folgte sie dem schmalen Durchgang, wobei sie in regelmäßigen Abständen innehielt und sich umsah, um sicherzustellen, dass niemand sie aus dem Dunkeln beobachtete. Bald schlug ihr das Herz bis zum Hals, doch sie lief entschlossen weiter. Das hier war der einzige Teil der Stadt, der nicht ganz so perfekt war. Nach einer Weile ging es leicht bergab. Im nächsten Moment machte der Durchgang einen Knick nach rechts und Violet fand sich in einer Sackgasse wieder.
Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass sie vor der Rückseite des Rathauses stand. Die Glasfenster des Uhrenturms ragten hoch über ihr auf.
Violet kehrte zum Beginn des Durchgangs zurück. Statt nach rechts in Richtung Edward Street zu biegen, folgte sie der Mauer zu ihrer Linken. Sie wollte erst noch ein bisschen die Archers’ Avenue erkunden.
An einem der Wohnhäuser auf der rechten Straßenseite hing ein weiteres schwarzes Eisenschild. Violet überquerte das Kopfsteinpflaster, um zu lesen, was darauf stand.
Geburtshaus der ehrenwerten Herren George und Edward Archer, der höchsten Söhne von Perfect.
Darüber war noch etwas eingeritzt worden. Es war kaum zu erkennen, doch mit ein wenig Mühe konnte Violet gerade eben die Worte »und William« in krakeliger Kratzschrift ausmachen.
Damit mussten die Archers gemeint sein, die sie bereits kannte. Aber wer um alles in der Welt war William?
Neugierig lugte sie durch das Fenster neben ihr, um einen Blick auf den Ort zu erhaschen, an dem die Archers geboren worden waren. Als ihre Nase die Scheibe streifte, kam ihr aus der Dunkelheit auf der anderen Seite plötzlich ein Gesicht entgegen.
Es gehörte einer alten Frau, deren Haut so straff saß, dass ihr die blauen Augen regelrecht aus dem Kopf zu springen schienen. Ihr weißes Haar war zwar nicht direkt ungepflegt, aber auch nicht gerade ordentlich. Es sah aus, als mochte sie es genauso wenig, sich zu kämmen, wie Violet. Ihre Lippen verzogen sich zu einem fratzenhaften Grinsen, wodurch eine ganze Reihe von Zahnlücken zum Vorschein kam. Doch da war noch etwas anderes an ihr, etwas, das Violet nicht richtig benennen konnte.
Erschrocken drehte Violet sich um und rannte zur Edward Street zurück. In ihrer Hast stolperte sie über einen offenen Schnürsenkel und verlor ihre Brille. Während sie auf die Knie ging, um das Kopfsteinpflaster abzutasten, hallte Gelächter von den Wänden wider. Es war das gleiche unheimliche Lachen, das sie am Vorabend in der Auffahrt gehört hatte.
Endlich fand sie ihre Brille wieder. Mit fliegenden Fingern setzte Violet sie auf und sprintete zurück zu den Geschäften. Sie entdeckte ihre Eltern vor dem Teeladen der Archers.
»Ach, da bist du ja, Violet«, empfing ihre Mutter sie lächelnd. »Was meinst du, gönnen wir uns ein Kännchen Tee?«
Violet nickte, noch ganz außer Atem.
Ihre Mutter schob die Ladentür auf. Im Inneren des Geschäfts bimmelte ein Glöckchen.
An der Wand hinter dem Verkaufstresen erstreckten sich mehrere Regale aus dunklem Holz, in denen fein säuberlich die dunkelblauen Teepäckchen mit der goldenen Schrift und dem Porträt der Archer-Zwillinge aufgereiht waren. Von den Deckenbalken hingen Teetassen, Teesiebe und Teekannen, ebenfalls in Dunkelblau und Gold gehalten, und auf den Tischen ringsum standen wunderschöne aufgeklappte Teekisten.
»Sucht euch schon mal einen Platz am Fenster«, sagte Violets Mutter, während sie zur Theke ging.
Violet und ihr Vater setzten sich an einen Tisch mit Blick auf die malerische Geschäftsstraße. Um die unbehagliche Stille zu übertünchen, tat Violet so, als wäre sie ganz vertieft darin, die Leute draußen vor dem Fenster zu beobachten.
Schließlich kam Rose mit einem Tablett in der einen und einer reich verzierten Teekiste in der anderen dazu.
»Wofür ist die, Mam?«, fragte Violet, während sie die Kiste in Augenschein nahm.
»Die ist für den Teemann, Violet. Die Frau hinter der Theke meinte, fast alle hier in Perfect haben so eine. Man stellt sie vor die Haustür und der Teemann füllt sie jeden Morgen auf. Ist das nicht wundervoll? Der Tee wird täglich frisch geliefert, genau wie die Archers gesagt haben. Kein Wunder, dass er so aromatisch ist. Die Leute sind alle so nett. Und hier einzukaufen ist auch überhaupt nicht teuer.« Lächelnd klopfte Rose auf ihre Tasche.
Eugene hatte nicht zugehört und schaute geistesabwesend weiter aus dem Fenster, während Rose anfing, den Tee auszuschenken.
»Mam«, begann Violet.
»Ja, Mäuschen?«
»Als ich da drüben in der Straße war«, sie zeigte in die ungefähre Richtung, »ist mir die Brille runtergefallen und ich habe gehört, wie mich jemand ausgelacht hat. Das gleiche Lachen habe ich auch gestern bei unserer Ankunft schon gehört. Ich glaube, jemand verfolgt mich.«
»Violet.« Lächelnd legte Rose einen Arm um ihre Tochter.
»Ja, Mam?«
»Du weißt doch, dass deine Fantasie manchmal mit dir durchgeht, Mäuschen. In dem Punkt bist du genau wie dein Vater.« Mit einem Nicken deutete Rose auf Eugene, der immer noch tagträumend aus dem Fenster sah.
»Aber Mam, ich habe wirklich jemanden gehört! Was, wenn es ein Geist oder ein Monster oder so was war? Ich glaube, ich mag diese Stadt nicht.«
Rose lachte. »Du ziehst immer gleich die verrücktesten Schlüsse. Mach dir keine Sorgen, Violet. Was kann an einem wunderschönen Ort wie diesem schon passieren?«
Sie küsste Violet auf die Stirn und strubbelte ihr Haar.
»Jetzt trink deinen Tee, Mäuschen!«, sagte sie mit einem warmen Lächeln.
Violet tat wie geheißen, während sie versuchte, die Erinnerung an die Stimme abzuschütteln. Warum hörte ihre Mam ihr nie zu? Was, wenn es wirklich ein Geist oder so was war? Sie blickte aus dem Fenster, wo die perfekten Einwohner von Perfect ihren Erledigungen nachgingen, und nahm einen Schluck von ihrem Tee. Himmlisches Vanillearoma streichelte ihre Zunge und im nächsten Moment waren all ihre Sorgen vergessen. Vielleicht war Tee ja tatsächlich die Antwort auf alles.