Читать книгу Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan - Страница 17
ОглавлениеHin und her
Unter dem funkelnden goldenen Schild mit der Aufschrift Archers’ Ocularium hielt Violet einen Moment inne, um wieder zu Atem zu kommen. Sie wollte gerade die dunkelblaue Tür aufdrücken, als sie eine plötzliche Erkenntnis traf – so heftig, als hätte ihr jemand mit einem Ziegelstein auf den Kopf geschlagen.
Ihre Mutter hatte recht.
Sie hatte AGDS. Obwohl sie nie zuvor davon gehört hatte, war sie sich absolut, einhundertprozentig sicher, dass sie es hatte. Natürlich litt sie an einem Anpassungs- und Gehorsamkeitsdefizit. Mrs Moody lag vollkommen richtig. Wie hatte sie einfach mitten auf dem Schulhof gegen die Seilsprungregeln verstoßen können? So was Peinliches! Und der Bleistift – allein beim Gedanken daran wurde sie rot. Was mochten die anderen wohl von ihr gedacht haben, als sie unter den Tisch gekrochen war, ohne ihre Lehrerin um Erlaubnis zu fragen? Mrs Moody hatte nur versucht, ihr zu helfen, als sie ihnen diesen Aufsatz über die Bedeutung von Regeln aufgegeben hatte. Wie hatte ihr das entgehen können? Sie war wirklich ein vorlautes Kind, aber das würde sich jetzt ändern.
Sie drehte sich um und lief durch die Splendid Road zurück, doch mit jedem Schritt wurde ihre Gewissheit schwächer. Als sie zu Hause ankam, hatte sie es sich schon wieder anders überlegt. Violet war total verwirrt.
Sie war nicht vorlaut, sie hatte bloß versucht, mehr Schwung in das Spiel zu bringen. Und an ihrer alten Schule hatte niemand um Erlaubnis bitten müssen, um einen Stift aufzuheben!
Violet setzte sich auf die Stufen vor dem Haus ihrer Eltern. Ihr Gesinnungswechsel war so schnell und plötzlich gekommen, dass er richtiggehend unheimlich war. Was hatte sie dazu gebracht, auf einmal so zu denken? In Gedanken ging sie die einzelnen Schritte noch einmal durch, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Was hatte sie anders gemacht?
»DIE TABLETTE!«, rief sie und sprang so abrupt auf, dass sie sich die Brille von der Nase schlug. Um sie herum wurde alles schwarz und verschwommen. Schnell setzte sie sich wieder hin und tastete nach ihrer Brille. Auf einmal hörte sie, wie sich auf dem Kies etwas bewegte. Schritte.
»Ich bin’s«, sagte die Stimme gehetzt. »Ich weiß, dass sich deine Eltern verändern.«
Es war wieder der Junge.
Gerade als sie sich in seine Richtung wandte, kamen schnelle, schwere Schritte über den Kies auf sie zu.
»Du!«, grollte eine Männerstimme. »Noch mal kommst mir nicht davon, dafür sorg ich!«
Es folgte hektisches Fußgetrappel. Panisch stand Violet auf, um sich im Haus in Sicherheit zu bringen, trat jedoch ins Leere und stürzte von der Treppe. Sie schrammte sich die Hände und Knie am Kies auf.
»Die gehört dir«, sagte der Junge und drückte ihr die Brille in die Hand.
Mit klopfendem Herzen setzte Violet sie auf. Weit und breit war niemand zu sehen. Sie drehte ihre Hände um. Ihre Handflächen und Knie waren blutig und ihr grauer Rock war voller Staub.
War sie dabei, den Verstand zu verlieren?
Diesmal hatte sie die Hand des Jungen gespürt, das konnte sie sich doch nicht eingebildet haben? Aber warum konnte sie ihn nicht sehen? Wer war er und warum folgte er ihr? Steckte er in Schwierigkeiten? Und wer war hinter ihm her?
All diese Fragen gingen ihr durch den Kopf. Sie war jetzt noch entschlossener als zuvor, ihren Dad zu finden. In Perfect ging irgendetwas Seltsames vor und sie musste ihn überzeugen, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Jetzt hatte sie immerhin einen Beweis. Ihre aufgeschrammten Hände und Knie sollten ja wohl genug sein, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen.
Zum dritten Mal an diesem Tag legte sie die Strecke zwischen ihrem Zuhause und dem Ocularium zurück.
Diesmal blieb sie nicht draußen stehen, sondern griff nach dem polierten Messingknauf und schob die Tür einfach auf. Beim Eintreten klingelte über ihr ein kleines Glöckchen.
»Mr Archer«, rief sie.
Keine Antwort. Der Laden war leer. Sie lief an den glitzernden Glasvitrinen vorbei und schnurstracks auf die holzvertäfelte Wand am anderen Ende des Raumes zu. Mit den Fingern fuhr sie über das glänzende Kirschholz, bis sie die vertraute Unebenheit ertastete.
Sie drückte auf das Paneel und die Geheimtür zur Bibliothek schwang auf. Schnell schlüpfte sie hindurch.
Hinter einer Tür auf der gegenüberliegenden Seite waren Stimmen zu hören. Auf Zehenspitzen schlich sie näher.
»Wovon reden Sie?«
»Wir bezahlen Sie gut, oder etwa nicht?«
»Aber es ist einfach nicht richtig, Edward. Ich kann das nicht machen!«
»Sie machen, was wir Ihnen sagen, und damit basta!«
Es waren die Archers – und sie redeten mit ihrem Vater.
Genauer gesagt stritten sie sich. Violet hasste es, wenn Erwachsene stritten, denn dabei warfen sie einander manchmal schlimme Dinge an den Kopf. Andererseits war es irgendwie auch gut. Ihr Dad klang nämlich alles andere als glücklich. Vielleicht spielte er ja auch mit dem Gedanken, der Stadt den Rücken zu kehren.
Um die Männer nicht zu stören, schlich sie leise zurück zur Geheimtür.
»Violet Brown!«
Sie wirbelte herum und fand sich Edward Archer gegenüber. Er stand so dicht vor ihr, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten.
»Tut mir leid, Mr Archer, ich habe hier hinten Stimmen gehört. Ich bin auf der Suche nach meinem Dad«, stammelte sie.
»Du hast hier keinen Zutritt, junge Dame.« Edward Archer deutete mit einer Kopfbewegung hinter sie. »Es gehört sich nicht, herumzuschnüffeln.«
»Ich hab nicht herumgeschnüffelt. Das war ein Versehen. Ich wollte nur zu meinem Dad. Ich dachte, er ist vielleicht hier drin.«
»Er ist gerade rausgegangen, Violet. Ich fürchte, du hast ihn knapp verpasst.«
»Aber ich bin mir sicher, dass ich ihn gehört habe. Sie haben doch gerade noch dort drinnen mit ihm geredet.« Sie zeigte auf die Tür hinter ihm.
»Mrs Moody hatte recht, du bist wirklich schwer zu bändigen.« Edward Archer seufzte.
»Ich … ähm … es tut mir leid, Mr Archer«, stotterte Violet, während sie langsam Richtung Laden zurückwich. »Wahrscheinlich hab ich es mir nur eingebildet.«
»Was ist denn mit dir passiert, Violet?«, erkundigte sich Edward. Ihr ramponiertes Äußeres schien ihm jetzt erst aufzufallen. »Hast du dir wehgetan, Liebes?«
»Ach, ich bin bloß hingefallen. Ist nicht schlimm.«
»Hast du deine Tabletten genommen, Liebes?«
Sie wich noch einen Schritt zurück. Woher wusste er davon?
»Deine Mutter hat es mir erzählt«, erklärte er lächelnd, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »AGDS ist eine schwerwiegende Störung, Violet, die unbedingt medizinisch behandelt werden muss.«
Ihr schlug das Herz jetzt bis zum Hals.
»Was ist hier los?«, blaffte George Archer, der hinter seinem Bruder in die Bibliothek kam.
»Nichts«, antwortete Edward lächelnd. »Unsere kleine Violet war auf der Suche nach ihrem Vater. Sie wollte gerade gehen.«
»Er ist nicht hier.« George blickte finster auf Violet herab.
»Ich weiß, das hat mir Edward schon gesagt«, stammelte Violet, dann drehte sie sich um und rannte davon. Irgendetwas an George machte sie furchtbar nervös.
Erst in sicherem Abstand zum Brillengeschäft wagte sie es, anzuhalten und Atem zu holen.
Warum wusste Edward Archer von Mrs Moody und den Pillen? Weshalb steckte er seine Nase in ihre Angelegenheiten? Und wieso hatte er wegen Dad gelogen? Sie war sich sicher, dass ihr Dad hinter dieser Tür gewesen war. Und dass er wütend geklungen hatte.
Weil sie nicht nach Hause wollte, lief sie die Edward Street entlang. In Gedanken ging sie die Ereignisse der letzten Stunden durch. Erst ihre Mutter und die Pillen, dann ihr seltsamer Gesinnungswechsel, die Brille, die Stimme, das merkwürdige Verhalten der Archers und ihr Dad. Irgendwas war mit ihrem Dad.
Eine Gruppe Frauen stand schwatzend vor der Metzgerei. Als Violet vorbeilief, verstummten sie. Sie hätte schwören können, dass eine von ihnen »AGDS« flüsterte.
Sie überquerte die Straße vor dem Rathaus und lief an Archers’ Teeladen vorbei, der im Schatten des hohen Gebäudes stand. Das Schaufenster war mit einer Auswahl wunderschöner handbemalter Porzellantassen dekoriert. Violet hielt an, um sich die Tassen näher anzusehen, musste jedoch feststellen, dass sich sämtliche Leute im Geschäft umdrehten und sie anstarrten.
Schnell eilte sie weiter. Um den Blicken auf der Edward Street zu entkommen, bog sie nach links in die Archers’ Avenue. Am Fuß der hohen Steinmauer erspähte sie eine Bank und setzte sich. Sie musste dringend nachdenken.
Was ging nur in Perfect vor?
Violet wusste, dass ihre Mutter ihr nicht zuhören würde. Sie interessierte sich nicht mehr dafür, was Violet dachte. Und auf ihren Dad konnte sie auch nicht zählen. Er würde wütend sein, weil sie bei den Archers herumgeschnüffelt hatte – bestimmt würde Edward ihm davon erzählen. Ihr Dad legte großen Wert auf gute Manieren und sie hatte sich Edward Archer gegenüber alles andere als höflich verhalten.
Sie sah hoch. Hier war sie neulich schon gewesen.
An der Hauswand gegenüber hing das Schild mit der Aufschrift: Geburtshaus der ehrenwerten Herren George und Edward Archer, der höchsten Söhne von Perfect, über dem die Worte und William eingeritzt worden waren.
Sie fragte sich, ob William Archer seinen Namen selbst in das Schild und unter ihr Pult geritzt hatte. Wenn ja, schien er genau die Art von Unruhestifter zu sein, für die alle sie hielten. Warum hatte sie noch nie zuvor von ihm gehört? Hatte er Perfect vielleicht verlassen, weil er die Stadt genauso hasste wie sie?
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was war mit William Archer geschehen?