Читать книгу Rätselhafte Ereignisse in Perfect - Hüter der Fantasie - Helena Duggan - Страница 13
ОглавлениеTräume voller Geisterjungen
Gerade einmal zwei Wochen nach ihrem Umzug waren die Sommerferien vorbei. Die Vorstellung, auf eine neue Schule gehen und neue Freunde finden zu müssen, behagte Violet gar nicht. Sie hatte bereits versucht, sich mit einigen Kindern hier anzufreunden, jedoch ohne Erfolg.
Ihre Mutter hingegen schien sich mehr und mehr in Perfect einzuleben. Sie hatte Violet zu einem Treffen ihres Buchclubs mitgenommen, um sie mit den Kindern ihrer Freundinnen bekannt zu machen, die ihren eigenen kleinen Buchclub hatten.
Bei Tee und selbst gebackenem Kuchen besprachen die Kinder James und der Riesenpfirsich von Roald Dahl. Violet hatte das Buch nicht gelesen, mochte aber seine anderen Geschichten wie Der fantastische Mr Fox oder Sophiechen und der Riese.
»Tut mir leid, aber wenn du James und der Riesenpfirsich nicht gelesen hast, kannst du an unserer Besprechung nicht teilnehmen, Violet«, verkündete eines der Kinder.
Den Rest des Abends saß Violet schweigend da und hörte sich an, wie die anderen über Tante Schwamm diskutierten. Am Ende verließ sie die Veranstaltung wütend und mit hochrotem Kopf.
»Und, wie fandest du es, Violet?«, erkundigte sich ihre Mutter, als sie nach Hause liefen.
»Furchtbar, Mam«, antwortete Violet. »Ich durfte kein Wort sagen.«
»Natürlich nicht, Violet, du hattest das Buch ja nicht gelesen!« Ihre Mutter seufzte. »Aber war der Abend denn wenigstens schön? Fandest du sie nicht auch sehr nett?«
»Zu nett!«, schimpfte Violet. Die anderen Kinder hatten die ganze Zeit nur gelächelt und brav alles getan, was die Erwachsenen ihnen aufgetragen hatten.
Ihre Mutter wollte nichts davon hören. »Es reicht mir langsam, Violet. Was soll das heißen, ›zu nett‹? Kannst du dir nicht endlich mal ein bisschen Mühe geben? Du blamierst mich vor all den anderen Mums!«
»Mums«? Seit wann benutzte ihre Mutter solche Wörter? Normalerweise sagte sie »Mam« oder »Mammy«, aber niemals »Mum«.
In ihrem früheren Leben hatte Rose Brown nie gebacken und ihr war so gut wie jedes Essen, das sie selbst gekocht hatte, angebrannt. Sie hatte für diesen ganzen Haushaltskram nicht viel übrig und trichterte Violet immer wieder ein, dass der Platz einer Frau nicht hinterm Herd war. Stattdessen stürzte sie sich voller Elan in ihren Job und kam abends meist sogar später nach Hause als Eugene.
Doch hier verhielt sie sich vollkommen anders.
Es hatte damit angefangen, dass sie neuerdings die Socken nach Farben sortierte. Als die erste Woche um war, hatte sie sich bereits einer ganzen Reihe von Komitees angeschlossen und begonnen, alle Welt »Liebes« zu nennen.
Jeden Tag stand sie früh am Morgen auf und bereitete das Frühstück vor. Nachdem Violets Dad zur Arbeit gegangen war, räumte sie auf, putzte das Haus und verbrachte dann den Rest des Tages mit ihren Freundinnen – das waren die, deren Kinder Violet mögen sollte, ob sie wollte oder nicht. Mal trafen sie sich zu ihrem Buchclub, mal veranstalteten sie Kochkurse und hin und wieder spielten sie sogar zusammen Golf. Obwohl sie erst seit kurzer Zeit in Perfect lebte, war Violets Mam bereits zur Vorsitzenden des örtlichen Backkomitees gekürt worden. Rose hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, als der Anruf gekommen war, und bis spät in die Nacht gebacken. Ihre Kuchen waren wirklich lecker, aber darum ging es nicht.
Früher hatte Violets Mutter Golf gehasst und die Vorstellung, einem Buchclub beizutreten, wäre ihr lächerlich vorgekommen. Nun war sie »ein Teil von Perfect« und hatte dieses Schimmern wie alle anderen auch.
Violets Dad hatte sich ebenfalls verändert, doch er schimmerte kein bisschen. Er wirkte stumpf und antriebslos. In letzter Zeit war er ständig müde und selbst sein Lächeln war verblasst. Außerdem schien er deutlich gealtert zu sein. Obwohl sie erst seit zwei Wochen hier waren, sah er fünf Jahre älter aus.
Violet hatte ihren Vater noch nie so niedergeschlagen erlebt. Vielleicht war das zum Teil auch ihre Schuld, denn sie sprach immer noch nicht mit ihm. Früher hatten sie über alles geredet, aber nun hatte sie schon seit vierzehn Tagen und fünf Stunden kein Wort mehr zu ihm gesagt. Anfangs hatte er versucht, sich weiter ganz normal mit ihr zu unterhalten, doch nach drei oder vier Tagen war ihm klar geworden, dass er keinen Mucks mehr aus ihr rausbekommen würde, und er hatte aufgegeben.
Auch die Art, wie ihre Eltern miteinander umgingen, hatte sich verändert.
Früher hatten sie sich ständig umarmt und geküsst. Violet war das immer furchtbar peinlich gewesen, doch inzwischen hätte sie sich liebend gern in Grund und Boden geschämt, nur um die beiden noch einmal so zu sehen. Stattdessen führte ihre Mutter sich wie die perfekte Hausfrau auf und ihr Dad war kaum noch daheim.
Violet hatte keine Freunde in Perfect und so langsam fühlte es sich an, als hätte sie auch keine Eltern mehr. Seit ihrer Ankunft hatte sie die meiste Zeit allein in ihrem Zimmer verbracht und war nur zum Abendessen runtergekommen, bei dem ihre Mutter wieder eine ihrer neuen Kreationen präsentierte.
An dem Abend, bevor die Schule losging, bekam Violet auf der Treppe nach oben zufällig mit, wie ihre Eltern sich in der Küche unterhielten.
Die Stimme ihres Vaters ließ sie innehalten.
»Rose …«, sagte er mit einem Seufzen. Er klang besorgt. »Würdest du das bitte mal weglegen und dich zu mir setzen? Ich muss mit dir reden.«
»Ich höre dich bestens«, erwiderte ihre Mutter seelenruhig. »Ich möchte erst diese Rosinenbrötchen fertig machen.«
»Rose. Bitte. Setz dich!« Ihr Vater schrie beinahe. Unwillkürlich zog Violet den Kopf ein. So wütend hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Einen Moment, Liebling. Ich bin gleich fertig.«
»Ich dachte, du hasst es zu kochen«, blaffte er.
»Im Ernst? Wie kommst du denn darauf? Ich liebe es. Seit wir hergezogen sind, hat sich mir eine völlig neue Welt eröffnet!«
»Etwas an dieser Stadt behagt mir nicht, Rose.« Seine Stimme wurde sanfter.
»Wie bitte, Liebling?«
Violets Dad seufzte, dann schrappten Stuhlbeine über den Fliesenboden und schwere Schritte durchquerten die Küche. Violet erstarrte.
»Rose«, sagte ihr Vater von der Küchentür aus.
»Ja, Liebling?«
»Du weißt, dass ich dich liebe, oder?« Er klang einsam.
»Aber natürlich, Schatz. Möchtest du Streusel auf deinen Rosinenbrötchen oder soll ich meine Spezialglasur draufmachen? Meine Ladys waren neulich ganz begeistert davon.«
Ihr Vater antwortete nicht. Er verließ die Küche und lief durch die Diele.
Violet huschte so leise wie möglich die restlichen Stufen hinauf, rannte in ihr Zimmer und schlüpfte unter die Decke. Einige Minuten später erschien ihr Vater in ihrer Tür.
»Violet«, flüsterte er, »bist du wach?«
Sie kniff die Augen fest zu und tat so, als würde sie tief schlafen.
Ihr Vater schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer und setzte sich sachte auf ihre Bettkante. Violets Herz schlug schneller. Er strich ihr übers Haar. Am liebsten hätte sie sich aufgesetzt und ihn umarmt. Sie wusste, dass er traurig war, trotzdem blieb sie standhaft. Schließlich hatte er ihnen diesen Schlamassel überhaupt erst eingebrockt.
»Violet«, flüsterte er mit belegter Stimme, »ich hab dich lieb, Mäuschen.«
Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann steckte er die Decke um sie fest und ging auf leisen Sohlen hinaus. Violet schlug die Augen auf.
Was war nur in ihre Familie gefahren?
Es tat ihr in der Seele weh, ihren Dad so niedergeschlagen zu sehen. Aber wenigstens bedeutete das, dass er ihr neues Zuhause auch nicht mochte, und je weniger es ihm hier gefiel, desto schneller würden sie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren.
Violet lag die halbe Nacht wach. Vor lauter Nervosität wegen des bevorstehenden ersten Unterrichtstags an ihrer neuen Schule konnte sie einfach nicht einschlafen.
Irgendwann hörte sie die schweren Schritte ihres Dads an ihrer Tür vorbei nach unten stapfen. Während sie darauf lauschte, dass er zurückkam, döste sie langsam ein. Plötzlich landete etwas mit einem leisen Plumps auf dem Boden.
Hastig tastete sie den Nachttisch nach ihrer Brille ab, fand sie jedoch nicht. Also streckte sie den Arm aus dem Bett und suchte den Boden ab.
»Kannst nicht schlafen, was?«
Erschrocken zog sich Violet die Decke über den Kopf. Jemand lachte. Sie kannte dieses Lachen – sie hatte es schon zweimal gehört.
»Wozu versteckst du dich unter deiner Decke? Du kannst mich doch sowieso nicht sehen!«
Vorsichtig lugte sie aus ihrem Versteck hervor. Alles war verschwommen, doch aus dem Augenwinkel nahm sie einen dunklen Schatten am anderen Ende ihres Zimmers wahr. Sofort schlüpfte sie wieder unter ihre Decke.
»Was willst du?«, quiekte sie verängstigt. Ihre Stimme drang nur gedämpft durch den Stoff.
»Ich will dein ganzes Geld und so viele Süßigkeiten, wie du beschaffen kannst, sonst muss deine Puppe dran glauben!«
»Ich habe keine Puppe. Und ich weiß nicht, wo ich Süßigkeiten herbekommen soll«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
Der Junge lachte erneut. Es war eindeutig ein Junge.
»War nur ein Witz! Oh, sie kommen« – er klang auf einmal ganz panisch – »ich muss weg!«
Schnelle Schritte näherten sich ihrem Bett. Der Einbrecher schien sich zu bücken und etwas vom Boden aufzuheben.
»Hier ist deine Brille. Viel Spaß in der Schule morgen!«
Ein Gegenstand landete federleicht auf ihrem Bett. Sie streckte die Hand aus und tastete danach. Es war tatsächlich ihre Brille. Schnell setzte Violet sie auf und schaltete die Nachttischlampe an.
Das Zimmer war leer. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Vielleicht setzte ihr die Sonne ja mehr zu als den anderen. Sie sank zurück auf ihr Kissen und zog sich die Decke über den Kopf. Nach kurzer Zeit schlief sie ein. Ihre Träume waren voller Geisterjungen.