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INTERMEZZO 1 Papua-Neuguinea
ОглавлениеDie Insel Neuguinea ist nach Grönland die zweitgrösste Insel der Erde; Papua-Neuguinea wiederum ist nach Indonesien und Madagaskar der drittgrösste Inselstaat der Welt. Er gehört zum Kontinent Australien und ist Teil des pazifischen Grossraums Melanesien. Klimatisch sind die Unterschiede gross: An der Küste ist es stetig um die dreissig Grad Celsius warm, auch nachts. Im Hochland kann es nachts Frost geben. Die Luftfeuchtigkeit ist hoch, und es regnet oft.
In Europa war Neuguineas Existenz bis ins 16. Jahrhundert unbekannt. Auch danach gab es lange Zeit keine intensiven Kontakte zwischen den Inselbewohnerinnen und -bewohnern und dem Rest der Welt. Lediglich die Küstenregionen wurden regelmässig von Europäern heimgesucht. Der negative Beiklang dieses Verbs ist berechtigt.
Noch um 1960 lebten im Landesinneren Einheimische, die keine Berührung mit der Aussenwelt hatten. Dazu gehörten die Stämme der Region um Det im Südlichen Hochland. Bis 1969 die Baldegger Schwestern dort ankamen, hatten sie vereinzelte weisse Missionare gesehen, weisse Frauen noch nie.
Die Insel ist seit der Kolonialzeit zweigeteilt. Da diese Epoche bis heute Auswirkungen hat, lohnt sich ein kurzer Rückblick: Der Westen der Insel wurde 1828 von den Niederlanden besetzt und zusammen mit den indonesischen Inseln als Niederländisch-Indien bezeichnet. 1963 wurde dieser Teil von Indonesien annektiert. Seither gehört Westneuguinea zu Indonesien, wobei die Verhältnisse bis heute verworren sind. Laut verschiedenen Berichten wurden schätzungsweise mehr als 100 000 Einheimische ermordet und zahlreiche andere verschleppt. Unabhängigkeitsbestrebungen wurden blutig niedergeschlagen.
Der Osten der Insel geriet erst etwas später in den Fokus der europäischen Mächte. Ab den 1860er-Jahren versuchten das Deutsche Reich und Grossbritannien, dieses Gebiet für sich zu gewinnen. 1884 einigten sie sich auf eine Aufteilung: Der Norden wurde unter dem Namen «Kaiser-Wilhelms-Land» deutsches Schutzgebiet, der Süden wurde erst britisches Protektorat, vier Jahre später vom Vereinigten Königreich Grossbritannien und Irland annektiert und als «Britisch-Neuguinea» bezeichnet. Im Osten begann die Mission durch die katholische und die evangelische Kirche, im Süden wurde die anglikanische Kirche verbreitet. Als 1902 Australien unabhängig wurde, ging Britisch-Neuguinea an Australien über.
Gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs besetzten australische Truppen das deutsche Gebiet; nach Kriegsende überliess der Völkerbund die einstige deutsche Kolonie Australien als Mandat. Im Dezember 1941 eroberten japanische Truppen den Nordteil der Insel, und Port Moresby im Süden wurde zeitweise zum Hauptquartier des amerikanischen Generals Douglas MacArthur. Es kam zu heftigen Kämpfen zu See, in der Luft, aber auch im Dschungel. Nach der japanischen Kapitulation nahmen die alliierten Truppen am 13. September 1945 den gesamten Ostteil der Insel Neuguinea ein. Danach wurde Papua-Neuguinea von Australien verwaltet.
Insbesondere in ländlichen Gebieten und im Regenwald wurde die australische Regierung nur am Rande wahrgenommen. Sr. Gaudentia erzählt, wie wenig Ansehen die australischen Regierungsbeamten genossen und auch, wie wenig Einfluss sie nehmen konnten. Es seien vor allem junge Leute, frisch nach Abschluss des Studiums, nach Papua-Neuguinea gekommen, die sich kaum mit den Gegebenheiten dort auskannten und auch nicht bereit waren, sich darauf einzulassen. «Sie waren nicht auf ihre Aufgaben vorbereitet, konnten sich mit den Einheimischen nicht verständigen, liessen sich nicht auf die fremde Kultur ein.» Die Australier versuchten zwar, eine staatliche Administration auf dieses Gebiet zu übertragen, doch scheiterte das auf dem Land schon weitgehend beim Erstellen eines Einwohnerregisters. Sr. Gaudentia erinnert sich: «Bereits das Auftreten dieser Beamten mit ihren Rucksäcken und dem autoritären Gehabe hat die Einheimischen mehr belustigt als eingeschüchtert. Sie haben sich vielleicht vordergründig gefügt, die Besucher aber schlichtweg nicht ernst genommen. Die Einheimischen haben uns manchmal in Theateraufführungen vorgespielt, wie eine solche Visitation durch einen Regierungsbeamten ablief. Dann haben sie sich Kissen unter die Shirts gestopft, um so richtig dick daherzukommen, und sind schwankend herumgelaufen, um zu zeigen, dass die Beamten zu viel getrunken haben. Sie schrien herum und zeigten unter Gelächter, wie sie selbst sich jeweils scheinbar folgsam in Reih und Glied aufstellten.» Andererseits, so betont Sr. Gaudentia, benahmen sich die australischen Beamten durchaus korrekt. Sie waren guten Willens, versuchten auch, die Sippenkämpfe zu stoppen und ein Rechtssystem einzuführen. Doch blieb vieles wirkungslos, weil sich das australische System und die Denkweise nicht einfach auf Papua-Neuguinea übertragen liessen.
1972 wurden erstmals Wahlen abgehalten, und die Bevölkerung stimmte über die Unabhängigkeit ab. Sr. Gaudentia erzählt von der kuriosen Situation, dass die Einheimischen sich gar nicht recht erklären konnten, was denn diese Unabhängigkeit sein sollte, da sie sich ja zuvor gar nicht vom australischen Staat abhängig gefühlt hatten. «Sie kannten nicht einmal ein Wort für Unabhängigkeit», erzählt sie. «Sie sagten statt ‹independent› ‹underpant›, also Unterhose.» Die Kirche habe damals zwar Programme entwickelt, um die Leute aufzuklären, doch stiessen diese auf wenig Interesse. In den ersten Wahlen seien denn auch oft Europäer ins Parlament gewählt worden, nicht etwa aus Hochachtung, sondern aus Gewohnheit: «Die sollten dort für uns reden. Und als die neu gewählten Beamten die Einheimischen aufforderten, den Tag der Unabhängigkeit zu feiern, haben sie zwar ein paar Schweine geschlachtet, doch sie wussten nicht wirklich, weshalb. Es ging ihnen danach ohnehin eher schlechter als besser.»
Im Dezember 1973 wurde Papua-Neuguinea autonom, das Nationalitätszeichen PNG ist seither die gebräuchliche Abkürzung des Landes. Ich werde sie in der Folge auch verwenden. Die Flagge erinnert an die beiden Kolonialmächte: Im oberen, roten Dreieck zeigt sie einen Paradiesvogel, zu Ehren des deutschen Ornithologen Otto Finsch, der als einer der ersten Erforscher der Insel gilt. Das untere Feld zeigt auf schwarzem Grund das Sternbild Kreuz des Südens, wie es auf der australischen Flagge abgebildet ist. Ein weiteres Überbleibsel der australischen Herrschaftszeit ist bis heute geblieben: Das offizielle Staatsoberhaupt ist Königin Elisabeth II. von England, die auch den Titel «Königin von Papua-Neuguinea» trägt. Vertreten wird sie vor Ort durch einen Generalgouverneur. Die Staatsform ist daher eine parlamentarische Monarchie, das Regierungssystem eine parlamentarische Demokratie. Laut dem von der Zeitschrift The Economist seit 2006 in der Regel jährlich errechneten Demokratieindex gilt PNG als «unvollständige Demokratie», vergleichbar etwa mit Mexiko, Singapur oder Tunesien. Allerdings zeigt der Trend in den letzten Jahren abwärts, und PNG liegt nur gerade zwei Plätze vor Albanien, das als Hybridregime eingestuft wird. Als unterste Stufe folgen dann die autoritären Regime. Besonders schlecht schneidet PNG im Bereich politische Teilhabe ab, schlecht bei der politischen Kultur, etwas besser bei den Bürgerrechten.
Das Nationalparlament mit 111 Mitgliedern befindet sich in der Hauptstadt Port Moresby und wird alle fünf Jahre neu gewählt. Parlamentswahlen führen bis heute vor allem in ländlichen Gebieten regelmässig zu schweren Unruhen oder gar Sippenkriegen, wenn etwa ein Stamm die Wahl eines Abgeordneten aus einem anderen Stamm nicht anerkennt. 1989 kam es auf der Insel Bougainville zu einem blutigen Bürgerkrieg, der erst 1997 beigelegt werden konnte. Seither gilt Bougainville als autonome Region. Ende 2019 wurde eine – allerdings nicht bindende – Abstimmung über die vollständige Unabhängigkeit von PNG durchgeführt: 97 Prozent der jenigen, die daran teilnahmen, sprachen sich dafür aus.
Amnesty International berichtet regelmässig über schwere Verletzungen der Menschenrechte, und beim Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International lag PNG 2017 ebenfalls recht weit hinten, auf Platz 137 von 180 Ländern, in der Nachbarschaft von Liberia, Paraguay und Russland. Immerhin zeichnet sich gemäss diesem Rating seit zwei Jahren eine geringfügige Besserung ab.
Die Mehrheit der Bevölkerung sind Papuas, die zu etwa neunzig Prozent im unwegsamen Hochland leben. Weil die einzelnen Stämme so isoliert lebten, entwickelten sich unzählige Sprachen: Nach dem letztmals 2002 aktualisierten «Sprachenalmanach» werden 839 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen. Es gab ursprünglich auch ähnlich viele Religionen. PNG gehört damit zu den kulturell heterogensten Nationen der Welt.
Amtssprache ist Hiri Motu, das allerdings nur von einem verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung beherrscht wird, sowie die Pidgin-Sprache Tok Pisin, auch «Pidgin-Englisch» genannt, und Englisch. Wer, wie die Baldegger Schwestern, ausserhalb der Ämter mit Einheimischen in Kontakt kommt, verständigt sich in der Regel in Pidgin-Englisch.
2018 lebten 8,6 Millionen Menschen in PNG, also etwa gleich viele wie in der Schweiz. Allerdings ist das Land flächenmässig elfmal grösser. Die mit Abstand grösste Stadt, die Hauptstadt Port Moresby, hat nicht einmal so viele Einwohner wie Zürich. Das Land ist fruchtbar, mehr als drei Viertel der Bewohner leben von der Landwirtschaft, allerdings mehr schlecht als recht. PNG zählt nach Ruanda, Bhutan, Nepal und Uganda zu den ländlichsten Staaten der Erde.
Daneben gibt es Arbeit im Bergbau und auf Plantagen, wo vor allem Kaffee, Kopra und Kakao angebaut und Palmöl gewonnen wird. Auch die Holzindustrie ist ein gewichtiger Faktor, allerdings existieren weite Flächen unerschlossenen Buschwalds. Dies weckt Begehrlichkeiten im In- und Ausland, weshalb es immer wieder zu illegalen Abholzungen kommt.
Der Bergbau ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor des Landes. Es gibt reiche Gold-, Kupfer- und Chromvorkommen sowie Erdöl und Erdgas. Obwohl das Wirtschaftswachstum mit fast neun Prozent äusserst hoch ist, stagniert der Wohlstand im Land seit den 1990er-Jahren. Konkret heisst das: Die Mehrheit der Bevölkerung ist arm, vierzig Prozent leben unter dem Existenzminimum, damit gehört PNG zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Die Weltbank hatte bereits 2012 von dem Paradox «Reichtum ohne Entwicklung» gesprochen. Beobachter rügen eben diese Weltbank, sie fördere mit ihrem Verhalten die Ausbeutung von Ressourcen durch internationale Investoren. Dies sei in einem Land, in dem die Verwaltung schlecht funktioniere und die Elite, mit der diese Investoren zusammenarbeiten, in erster Linie auf Selbstbereicherung aus ist, verheerend. Dabei laufe das Land Gefahr, zum Spielball anderer Mächte zu werden. Tatsächlich butterte China in den letzten Jahren Millionen Dollar in die Infrastruktur und erhofft sich, oder erwartet vielmehr, erleichterten Zugang zu den reichen, noch nicht erschlossenen Rohstoffvorkommen. 2014 lösten sich staatliche Einnahmen aus dem Bergbau in der Höhe von 3,3 Milliarden Kina, was über 800 Millionen Euro entspricht, in Luft auf. Laut Beobachtern geht etwa die Hälfte des jährlichen Haushalts dem Gemeinwohl verloren. Trotzdem fliessen immer noch Hunderte Millionen Franken Entwicklungsgelder aus Australien nach PNG.
Der Politikwissenschaftler Roland Seib, der sich seit Jahrzehnten intensiv mit dem pazifischen Raum beschäftigt, bezeichnet das Missmanagement bei den öffentlichen Finanzen, Diebstahl, Korruption und Klientelismus als die zentralen Charakteristiken des schwachen Staates. Die staatlichen Institutionen seien weitgehend in den Händen von Clanchefs und damit beherrscht von Partikularinteressen. Die Unterschlagung öffentlicher Gelder sei die Regel. So wurde vor einigen Jahren bekannt, dass im Südlichen Hochland die Einnahmen des Future Generations Fund, der von den Ölfördergesellschaften gespeist wird, geplündert und für Hotelübernachtungen, Automieten, das Chartern von Flugzeugen sowie Zahlungen an Politiker und Verwandte verwendet worden waren. Hinzu kommen massive Umweltschäden durch den Bergbau; so werden vielerorts die giftigen Rückstände des Abbaus ungeklärt in die Flüsse oder ins Meer geleitet. In der Goldmine Porgera etwa, die auf einem Hochplateau mitten im Regenwald liegt, werden täglich 22 000 Tonnen Rückstände in die umliegenden Flüsse gekippt. Sie wird vom grössten Goldbergbau-Unternehmen der Welt betrieben, der Barrick Gold Corporation mit Sitz in Toronto. Eine Umweltaufsicht der Minen existiert nicht.
Der Tourismus ist trotz abwechslungsreicher Landschaft und guten klimatischen Bedingungen schwach entwickelt, was mit der unsicheren Lage und der schlechten Infrastruktur zu tun hat. Das Auswärtige Amt der Schweiz, das EDA, leitet seine Einschätzung über PNG mit folgenden Hinweisen ein: «Bei Reisen nach Papua-Neuguinea ist der persönlichen Sicherheit grosse Aufmerksamkeit zu schenken. Viele Stammesgruppen lebten bis vor Kurzem isoliert und waren teilweise verfeindet. Ihr Zusammentreffen in einem modernen Staat ist mit sozialen und politischen Schwierigkeiten verbunden. Die Kriminalitätsrate ist sehr hoch.» Seit den Parlamentswahlen 2017 ist die politische und die soziale Lage zunehmend angespannt. Besondere Vorsicht gilt in den Hochlandprovinzen, also dort, wo die Baldegger Schwestern tätig sind.
Sr. Gaudentia verfasste 2010 im Auftrag des «Church Partnership Program» einen Bericht über die Zusammenarbeit der kirchlichen und staatlichen Institutionen im Bereich der Gesundheitsversorgung. Dieser enthält einen Katalog von Forderungen, welcher mit dem Aufruf endet: «We need good governance.» Wir brauchen eine gute Regierung.
Zweigeteiltes Papua-Neuguinea, indonesischer und unabhängiger Teil
Provinz Südliches Hochland (inklusive Provinz Hela)