Читать книгу Mit Gottvertrauen im Gepäck - Helene Arnet - Страница 13
Von früher
ОглавлениеDass ihre fünf Jahre jüngere Schwester einmal Klosterfrau würde, hätte Annemarie Schmid-Meier nie gedacht. «Ich war eindeutig frommer», sagt die zierliche Frau. Margrith, wie Sr. Gaudentia vor dem Eintritt in den Orden hiess, sei auch nicht im Kirchenchor gewesen, wie das damals für Frauen im Dorf doch ziemlich üblich war. Die Angesprochene nickt und sagt dann: «Ich kann nicht gut singen, nur laut.» Der jüngere Bruder José fügt hinzu: «Dass Margrith eine Schwester wird, konnte ich mir schon vorstellen, eine Krankenschwester, aber doch nicht eine Ordensschwester!» Ich sitze mit den vier der insgesamt acht Geschwister in Hertenstein. Wir haben uns verabredet, weil ich wissen wollte, wie es dazu kam, dass die gar nicht so fromme Margrith zu Sr. Gaudentia wurde, wie sie als Kind war, wie die Familie sie prägte.
Margrith ist das vierte von acht Kindern, die auf einem Bauernhof im kleinen Freiämter Dorf Waltenschwil aufgewachsen sind: Der älteste, Albert, von den Geschwistern früher «Bärtu» genannt, ist 1933 geboren, es folgten Annemarie und dann Alfons, der mit acht Monaten an Kinderlähmung erkrankte, die nie vollständig ausheilte. 1939 kam Margrith zur Welt, drei Jahre später Hans, der 2012 gestorben ist. Dann kamen «die drei Kleinen», wie sie Annemarie und Sr. Gaudentia heute noch nennen: Josef, der heute «José» genannt wird, Ruedi und schliesslich, 1951, Lisbeth.
Waltenschwil hatte bis in die 1960er-Jahre rund 700 Einwohnerinnen und Einwohner und erlebte dann einen Wachstumsschub. Heute leben viermal mehr Menschen dort. Aus dem ehemaligen Bauerndorf ist ein immer noch ländlich geprägter Vorort von Wohlen geworden, und das Meier’sche Elternhaus, mitten im Dorf gelegen, ist vor rund zwanzig Jahren einem Restaurant gewichen. Über die Ortschaft hinaus bekannt ist die Kartbahn direkt an der Bahnlinie, ein kleiner Tierpark am Waldrand, der von Mythen umrankte Erdmannlistein und die Schokoladenfirma Dubler.
Der Bauernhof der Meiers war mit seinem Dutzend Kühe, einigen Schweinen und Hühnern ein mittelgrosser Betrieb, zumal recht viel Land dazugehörte. «Damals betrieben die meisten Landwirte in erster Linie Ackerbau, nicht Viehzucht», sagt José Meier. Auf dem Hof wohnten allerdings nicht nur Albert und Anna Meier-Sennrich mit ihren acht Kindern, sondern auch der Grossvater und ein lediger Onkel, der älteste Bruder des Vaters. Der Grossvater konnte sich lange nicht entscheiden, den Hof definitiv seinem Sohn Albert zu übergeben, der diesen faktisch schon bewirtschaftete, was die Beziehung zwischen ihnen nicht einfacher machte.
Meiers waren weitgehend Selbstversorger. Anfang Frühling und im November wurde jeweils ein Schwein geschlachtet, dann gab es eine Weile genügend Fleisch. Jeweils kurz vor Weihnachten kam ein Paket eines Onkels aus Bern, Margriths Götti. Er betrieb ein Import/Export-Geschäft mit Kolonialwaren. «Damals hatten wir die ersten Mandarinen», erinnert sich Alfons Meier. «Und Erdnüsse, die spanischen Nüssli», ergänzt Sr. Gaudentia. «Und Bananen», sagt José. Allerdings habe es nie für alle gereicht.
Der Hof sei immer voller Kinder gewesen, erzählen sie weiter. Da die Liegenschaft direkt neben der Schule lag, wurde sie quasi zum Pausenplatz des ganzen Dorfs. Sr. Gaudentia erzählt, dass sie sich jeweils in der Pause kurz den Eltern zeigen mussten, um zu beweisen, dass sie sich im Unterricht anständig benommen hatten und nicht zum Nachsitzen verdonnert wurden. «Nachhocke», sagt sie. Da sich also alle Dorfkinder auf dem Meier’schen Hof gut auskannten, waren sie auch in der Freizeit oft dort.
Nur jeweils am Samstagabend suchten alle das Weite, denn dann war Waschtag. Annemarie erzählt, wie sie die Kleinen in der Küche badete und ihnen die Haare wusch. «Ruedi und Hans schrien bereits Zetermordio, bevor auch nur ein Tropfen Wasser in ihre Nähe kam.» Eine Nachbarin fragte einmal beunruhigt, was sie denn am Samstagabend Schreckliches treiben würden … «Das Wasser war nie unser Element», bestätigt Sr. Gaudentia. «Wir plumpsten höchstens mal in die Bünz und waren dann aber schnell wieder draussen.» So lernten die Geschwister Meier, wenn überhaupt, erst spät schwimmen.
Das Gespräch der vier Geschwister in Hertenstein zeugt von einer tiefen Vertrautheit und Verbundenheit untereinander. Aber auch davon, dass man es in der Familie nicht gewohnt ist, viele Worte zu verlieren. Schon gar nicht über Emotionen. Auch nostalgisch sind Meiers nicht veranlagt, was sich etwa darin zeigt, dass nur wenige Fotos die Zeit überdauert haben.
Eines zeigt die etwa zweijährige Margrith mit weisser Masche im Haar, in weissem Kleidchen und wollenen Strumpfhosen mit übereinandergeschlagenen Beinchen auf einem gemusterten Kissen sitzend. Es wurde wohl in einem Fotostudio aufgenommen. Margrith schaut eher missmutig drein, sie mochte es offensichtlich nicht, so herausgeputzt still zu sitzen. Fröhlicher sieht sie auf einem anderen Bild aus, auf dem sie, etwa fünfjährig, einen kleinen Buben, Hans oder ein Ferienkind, im Arm hält. Ein weiteres Bild zeigt sie als Neunjährige am Jugendfest in der Freiämter Festtagstracht. «Ich war ein relativ dickes Kleinkind und ein kräftiges Mädchen», erzählt sie vollkommen uneitel. Und sie sei sehr froh gewesen, habe Annemarie der Mutter im Haushalt geholfen, so habe sie dem Vater auf dem Feld zur Hand gehen können. «Das mochte ich sehr viel lieber.» Da durfte sie den Traktor steuern, während der Vater Gras oder Heu auf den Wagen lud. Sie durfte die Mähmaschine führen, half beim Garbenbinden und Kartoffelnauflesen, der mühsamsten Arbeit, wie sie sagt. Und sie konnte zuschauen, wie die Brüder stockende Motoren wieder zum Laufen brachten.
Die Kriegszeit verlief bei Meiers in geordneteren Bahnen als anderswo, da der Vater keinen Militärdienst leisten musste. Er hatte als Bub, beim Flobertschiessen mit anderen Knaben, versehentlich einen Beinschuss abbekommen. Die Kugel blieb im Knochen stecken und wurde erst bei der militärischen Tauglichkeitsprüfung wieder entdeckt. Deshalb erklärte man ihn als dienstuntauglich. So konnte er während des Zweiten Weltkriegs auf dem Hof bleiben und mit seiner Frau und den Kindern den Betrieb weiterführen. «Der Vater war allerdings nicht der geborene Bauer», sagt Annemarie. «Wohl auch deshalb, weil er sich vor Pferden fürchtete.» Sie lächelt. Er habe auch vor Kühen einen Heidenrespekt gehabt. Vater Meier war im Herzen eigentlich eher Automechaniker oder Motorenbauer als Landwirt. So waren die Meiers weitherum die erste Bauernfamilie, die einen Traktor hatte. «Einen Neuhaus-Autotraktor», erklärt Alfons. «Die ersten Traktoren waren eigentlich umgebaute Autos.» Dieses Interesse für Motoren, ja eigentlich war es eine Leidenschaft, übertrug sich auf die Kinder. Alfons und Hans bastelten als Jugendliche in ihrer Freizeit unentwegt an Motorrädern und Töffli herum. «An Vespas», wie Alfons präzisiert. «Fünf Vespas hatten wir.»
Es ist daher nicht verwunderlich, dass schliesslich niemand den Bauernhof übernahm. Alle Jungen waren sehr interessiert an Motoren. Und verspürten auch eine gewisse Abenteuerlust. Alfons wurde Baggerführer und fuhr riesige Baumaschinen. Hans, der zwar die landwirtschaftliche Schule besucht hatte, führte ein Carunternehmen in Wohlen, Ruedi Meier gründete 1970 in Arlesheim BL eine Transportfirma, später kamen Carreisen dazu. Und der Älteste, Albert, ging schon als 19-Jähriger als Maschinenschlosser für Montagearbeiten nach Südafrika. Danach besuchte er das Technikum, wurde Maschineningenieur und lebte mit seiner Familie eine Zeit lang in Brasilien, wo er in São Paulo eine Tochterfirma der BBC leitete. Als die älteste Tochter in die Schule kam, kehrten sie in die Schweiz zurück. Zwei der «Kleinen» schlugen in der Beziehung etwas aus der Art: José studierte und wurde Bezirkslehrer, Lisbeth wurde Modistin, führt aber heute mit ihrem Mann ein Karosserieunternehmen.
Auch Margrith kam diese Affinität für Motoren und Autos in ihrem späteren Leben als Sr. Gaudentia öfters zugute. Zum Beispiel beim Betrieb eines kleinen Elektrizitätswerks in der ersten Missionsstation: Wusste sie nicht mehr weiter, rief sie ihren Bruder Albert an, und dieser gab ihr einen Rat oder organisierte die fehlenden Teile. Oder ein Lastwagen gab im sumpfigen Gelände irgendwo weitab der Zivilisation im Busch von Papua-Neuguinea den Geist auf: Sie erinnert sich an einen australischen Regierungsbeamten, der seinen Wagen abbremste, als er die Schwester sah, die am Pistenrand versuchte, ihren streikenden Wagen zu reparieren. Er gab ihr einige Tipps. «Habe ich alles schon gemacht», antwortet Sr. Gaudentia. Worauf er achselzuckend wieder in seinen Wagen stieg und weiterfuhr. «Ich habe dann das Auto schon wieder zum Laufen gebracht.»
Ein traumatischer Einschnitt in der Familiengeschichte war die schwere Erkrankung des Vaters im Jahr 1948. Er war noch nicht vierzig Jahre alt, als bei ihm eine Hirnhautentzündung ausbrach. Man hatte ihn schon aufgegeben, da erinnerte sich ein Arzt in Wohlen, dass man in «Zürich unten» ein Medikament gegen Meningitis einsetzte, das erst seit Kurzem erlaubt war: Penicillin. Der Vater wurde damit behandelt und genas, doch ganz der Alte war er danach nicht mehr. «Früher hatte er ein fröhliches Naturell, danach war er stiller und grübelte mehr», sagt Sr. Gaudentia.
Die Krankheit des Vaters brachte es mit sich, dass die Kinder noch mehr im Betrieb eingespannt wurden. Der älteste Sohn, Albert, erst 15-jährig, musste die Schule unterbrechen und zusammen mit der Mutter die Verantwortung für den Hof übernehmen. Die 14-jährige Annemarie half noch mehr im Haushalt. Sr. Gaudentia, die damals neun Jahre alt war, fügt an: «Wir haben uns als Kinder oft selbst organisiert.»
José sagt in Richtung seiner beiden älteren Schwestern: «Heute tut es mir leid, dass ihr so viel für uns Kleinen arbeiten musstet.» Sr. Gaudentia sagt: «Vor allem Annemarie, ich weniger. Sie ersetzte euch manchmal richtiggehend die Mutter.» Dafür habe er ihr jeweils das Bett aufwärmen müssen, erzählt José. «Ich schlüpfte in ihr kaltes Bett, schlief ein und wärmte es auf. Später kam sie und trug mich in mein eigenes Bett.» Annemarie lacht und sagt nur: «Es sind ja alle gut herausgekommen.» Das Einzige, was sie bis heute bedauere, sie zuweilen auch plage, sei, dass sie die Bezirksschule nicht habe besuchen dürfen – obwohl der Lehrer dreimal die Eltern besucht habe, um sie zu überreden, die älteste Tochter in die höhere Schule zu schicken. «Das nützte nichts, ich wurde zu Hause im Haushalt gebraucht.» Sie arbeitete nach der Sekundarschule, wie ihr Bruder Alfons, von morgens um 5 bis 13 Uhr in der Strohfabrik in Wohlen, und danach ging sie der Mutter daheim beim Haushalt zur Hand. «Wenn ich waschen musste, war ich froh, wenn der Vater den Ofen bereits eingeheizt hatte.»
Bitter wirkt Annemarie nicht, wenn sie das erzählt. Auch habe sie keinerlei Groll verspürt, als dann die Jüngere, Margrith, die Sekundarschule habe besuchen dürfen. «Die Umstände liessen es bei ihr einfach zu.» Abends sei dann aber auch noch Zeit gewesen, «uf d’Gass z’gha», wie sie, zu ihrem Bruder Alfons schauend, erzählt. Sie sei oft mit Alfons unterwegs gewesen, im Ausgang in Bremgarten. Und wenn sie zu spät nach Hause kamen, liess der Onkel sie bei sich in die Kammer schlüpfen, damit es die Eltern nicht bemerkten. Manchmal sei sie auch mit einer Freundin am Samstag die fast dreissig Kilometer mit dem Fahrrad nach Zürich gefahren, um im Kleiderladen Feldpausch einzukaufen. 1960 heiratete Annemarie, zog nach Luzern und bekam vier Kinder. Später führte sie zusammen mit ihrem Mann ein Elektrogeschäft in Dottikon.
Ich frage: «Nach wem kommt denn Sr. Gaudentia?» Wie aus der Pistole geschossen, antworten alle: «Nach der Mutter.» Beide hätten gerne bestimmt, wo es langging, sagt Annemarie, die von sich selbst sagt, sie sei eher der Vater. «Die Mutter mochte es gar nicht, wenn man ihr widersprach. Und Margrith hatte schon immer ihren eigenen Kopf.» Deshalb war ihre Beziehung zur Mutter früher nicht unbedingt eng. «Wir sind uns aber später, als ich im Spital arbeitete, sehr nahegekommen», sagt Sr. Gaudentia. «Sie hat sich stark für meine Erlebnisse in Papua-Neuguinea interessiert. Einmal, als ich ihr erzählte, wie bescheiden, oft ärmlich, die Menschen dort leben, hat sie nachdenklich gesagt, das sei bei ihr früher gar nicht so anders gewesen.» Anna Sennrich hatte ihre Mutter früh verloren und wurde danach in verschiedenen Familien untergebracht. Nicht überall war man gut zu ihr.
Man könne die acht Geschwister leicht in zwei Gruppen einteilen, sagt José: in Vater-Kinder und in Mutter-Kinder. «Die Mutter-Kinder kamen besser mit dem Vater aus, die Vater-Kinder mit der Mutter.» Annemarie nickt.
Im Laufe dieses Gesprächs in Hertenstein entsteht das Bild einer Kindheit und Jugend, in der es in erster Linie darum ging, dass die Gemeinschaft, eben die Familie, über die Runden kam. Individuelle Bedürfnisse fanden nur dann Platz, wenn sie dieses Gefüge nicht störten. So war das Leben damals wohl in vielen Bauernfamilien. «Wir haben viel voneinander gelernt», sagt Sr. Gaudentia zum Schluss. Alfons fügt hinzu: «Aber wir mussten uns immer nach oben orientieren, um mit den anderen mithalten zu können.»