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Kubanische Zwischentöne
ОглавлениеFerdinand zieht sich die Handschuhe von den Händen, während die Schwesternschülerin aus dem zweiten Ausbildungsjahr ihm den durchschwitzten Kittel öffnete und vom Körper zieht. Er geht in den Umkleideraum und wechselt das schweißtriefende OP-Hemd gegen ein trockenes. Er sieht im Spiegel die Züge der Erschöpfung nach den Jahren der harten Arbeit. Dann geht er in den Teeraum, füllt Tee in eine Tasse, rührt zwei Teelöffel Zucker ein und setzt sich vor den niedrigen Tisch mit der tiefen, zerkratzten und kugelschreiberverschmierten Holzplatte.
Im Teeraum sitzen der kubanische Kollege, der der Gynäkologie zugeteilt ist und im ‘theatre 1’ einer Frau die Gebärmutter entfernt hat, und die kubanische Kollegin aus der Chirurgie, die eine Operation zur Verkleinerung der vergrößerten Schilddrüse beendet hat. Beide trinken Kaffee und hängen stumm irgendwelchen Gedanken nach. Sie schweigen sich über ihre langen Strecken aus. Ferdinand interpretiert ihr Schweigen als die Last, dass kubanische Menschen nun in der zweiten Generation ein gefesseltes Dasein auf dem sozialistischen Inselstaat zu leben haben. Die kubanischen Kollegen schweigen sich über die Daseinsfesselung aus. Sie offenbaren die Scheu zum Reden mit der Angst, sich zu versprechen oder zuviel zu sagen, weil das aus der parteipolitischen Hardlinerlinie ausscheren und der eingepaukten Indoktrination widersprechen würde. Die Angst, denunziert zu werden, ist ihren Augen abzulesen. Das Verbot der Redefreiheit beklemmt im humanitären Sinne, wenn der Ausdruck der Sorge in den Gesichtern zur Rede gestellt wird. Die Auflage zum Tragenmüssen des Maulkorbs kann nicht stärker zum Ausdruck kommen als durch dieses Schweigen.
Die Entfesselung aus dem Politkorsett durch den Fidelschen Raketenstoß in die transkontinentalen Lufträume war nur vorübergehend. Sie hat zwar ein Mehr an Freiheit doch nur für die geprüften linientreuen Kader gebracht, und das eben nur für eine begrenzte Zeit. Die Führungsgremien mit den roten Manifesten und den roten Telefonen sind die Speditionszentralen, die Ärzte, Lehrer und andere Akademiker an Länder vermieten, deren politische Führer den bärtigen Revolutionshelden in Havanna in brüderlicher Freundschaft um Hilfe baten und den Mietvertrag mit dem sozialistischen Bruderkuss besiegelten. Es ist der große Fidel, der dann die obere Schublade mit den guten humanitären Gesten aufzieht und die darunter liegende, leere Devisenschublade gleich dazu. Man kann es auf den Reim bringen:
Der große Fidel spielt auf großem Cello,
das dem Pablo, dem noch Größeren gehört.
Der Fidel fildelt sozialistisch seine Melo,
die das Ohr des großen Pablo stört.
Es zeigt sich, Fidel hat Probleme mit den Noten.
Hat er sie denn nicht gelernt?
Der alte Pablo fasst sich an die Stirn,
rutscht fast vom Stuhl und ruft mit Kraft:
Fidel, halt!, so kann’s nicht gehn,
wenn wir auf der großen Bühne stehn.
Um das zu spielen vor den Menschen,
lern erst die Noten, so schwer kann’s doch nicht sein.
Dann erst spiel’ dein Solo vor den Lebenden,
vor den Toten spiel dein Solo dann allein!
Ferdinand erinnert sich an den Kollegen Dr. George, der als orthopädischer Chirurg mit großer Erfahrung mit den anderen Kollegen auf die Fidelsche Tournee, beziehungsweise auf den Castroschen Devisentrip nach Namibia geschickt worden war. Der Kollege war ein brillanter Operateur und sprach dazu ein verständliches Englisch. Mit ihm gab es eine Kommunikation, wenn auch in engen Grenzen, weil Dr. George, nicht anders als die anderen kubanischen Kollegen, an der ausbedungenen Linientreue keinen Zweifel aufkommen lassen wollte. Er wollte als zuverlässiger Genosse gelten und nicht aus der Rolle fallen, denn er hatte eine Familie mit zwei Kindern. Schon ein Missverständnis konnte zur vorzeitigen Rückkehr in das Fidelsche Inselreich mit dem obligaten sozialistischen Protokollgespräch führen.
Solange hat es nicht gedauert, um zu erkennen, dass den karibischen Insulanern die afrikanische Luft trotz der vergleichsweisen Trockenheit zusagte. Sie atmeten diese Luft tief ein und aus. Warum die Luft hier besser sein sollte als über der Schweinebucht oder den baufälligen Prachtalleen von Havanna oder Santiago de Cuba oder den verkommenen Armenvierteln von Guantánamo, dazu ließ sich Dr. George wie die anderen mit keinem Wort aus. Man konnte es allerdings den Gesichtern ablesen, dass die Befürchtung bestand, vom Kollegen, der es genauer nimmt, bei der Botschaft verpfiffen zu werden.
Es brauchte einige Wochen, bis Dr. George vertraulich sagte, dass er seine Familie vermisse, die aus Sicherheitsgründen, beziehungsweise aus Gründen der Rückversicherung auf Kuba zurückgeblieben sei. Einige Wochen später zeigte er Fotos von der Familie und seinem Haus in einer vornehmen Gegend von Havanna. Vor dem Hauseingang steht seine Frau flankiert von zwei attraktiven Töchtern. Die Drei schauen in die Kamera und mühen sich ein Lächeln ab. Das Haus im Hintergrund ist nicht besonders groß. Das Mauerwerk ist im ordentlichen Zustand. Bei der vergleichenden Betrachtung fällt doch ein Wohlstand auf, der sich von der allgemeinen kubanischen Armut abhebt.
Es ist eine Vertrauenssache, wenn ein kubanischer Kollege von seiner Familie und aus dem täglichen Leben unter Fidel Castros Regime erzählt. Dem einfachen Volk geht es nicht gut. Grundnahrungsmittel sind für alte Menschen und kinderreiche Familien oft unerschwinglich, wenn sie überhaupt zu kaufen sind. Weite Zweige der Industrie liegen brach. Kuba ist ein Agrarland geworden, in dem die Staatsbetriebe das Rückgrat sind. Zucker und Tabak werden exportiert. Die Havanna-Zigarre ist der Exportschlager geblieben. Großimporte fallen wegen fehlender Devisen aus. Benzin ist rationiert. Es wird versucht, die Zuckerplantagen zur Gewinnung von Brennstoff zu nutzen.
Was Ferdinand später erfuhr, ist die Tatsache, dass die Reisepässe aller Kubaner in der Botschaft ‘sichergestellt’ sind. Die monatlichen Gehälter gehen von der Finanzabteilung des Ministeriums als Sammelpaket direkt an die Botschaft. Nur ein kleiner Teil des Gehalts geht an die Kollegen. Der Großteil des Geldes wird an den Inselstaat abgeführt, der durch diese Einnahmen die Devisenlöcher stopft.
Einmal im Jahr bekommen die Kollegen Heimaturlaub. Die Flugtickets werden vom Ministerium in Namibia gezahlt. Die kubanische Botschaft händigte für den Heimflug die Reisepässe an die Kollegen aus. George sagt, dass er auf Urlaub gehe und sich darauf freue, seine Familie wiederzusehen. Die Maschine landet in Kanada zwischen, um aufzutanken. Es ist die große Überraschung, dass George das Flugzeug verlässt und mit dem kubanischen Reisepass in der Hand über das Rollfeld rennt und sich den kanadischen Behörden als politischer Flüchtling vorstellt. Die Behörde behält George in Kanada, während die aufgetankte Maschine mit den übrigen Kollegen nach Havanna weiterfliegt.
Ein halbes Jahr später nimmt George den langen amerikanischen Weg von Kanada nach Florida. Auf einer Karte aus Miami schreibt er, dass es ihm gut geht und er als Chirurg bei seinem Bruder arbeitet, der eine Privatklinik betreibt und leitet. So hat der talentierte Kollege seinen Weg in die Freiheit genommen und gefunden, von dem viele Kubaner träumen. Es sind die Träume von der Freiheit und vom besseren Leben, die in ihren Augen wogen und zucken, wenn sie von den guten Dingen ihres sozialistischen Staates sprechen und gleichzeitig kritisch oder schecht darüber denken.