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Mit Blick auf die Hautfarbe
ОглавлениеDie Menschen haben sich an die Unabhängigkeit und den ersten schwarzen Präsidenten ebenso gewöhnt wie an den aufgeblähten Verwaltungsapparat der Ministerien. Die höchsten Posten mit den größten Gehältern und weiteren Zulagen und Vergünstigungen wurden an die aus dem Exil Zurückgekehrten vergeben. Diese Bevorzugten haben fast alle die schwarze Haut. Sie haben als Minister, stellvertretende Minister und Staatssekretäre samt Vertretern das existentiell am höchsten abgesicherte öffentliche und private Leben. Die Kosten im Krankheitsfall übernimmt die Regierung. Die Minister erhalten zum Dienstwagen mit Chauffeur noch einen Wagen der gehobenen Mittelklasse zum privaten Gebrauch. Die Kosten für Haus und Einrichtungen und Bedienstete werden vom Staat getragen und mit großzügigen Zuschüssen versehen. Die teuren Häuser und Grundstücke werden auf Staatskosten rundum die Uhr bewacht. Es gibt Zuschüsse über Zuschüsse, ob bei den monatlichen Zahlungen für Strom, Wasser und Müllabfuhr an die Stadtverwaltung, fürs Telefonieren oder das luxuriöse Reisen und so vieles mehr.
Es wundert deshalb nicht, dass die bevorzugten ‘Staatsdiener’ in kurzer Zeit zu beachtlichem Wohlstand gelangt sind und es weiter bringen, der in krassem Gegensatz zur allgemeinen Armut steht. Nicht nur, dass auch die Frauen der höchsten Staatsdiener hohe Funktionärsposten in anderen Ministerien und halbstaatlichen Unternehmen besetzen. Clan- und Vetternwirtschaft sowie die Korruption mit der Selbstbereicherung stehen seit Jahren in voller Blüte und das vor allem bei den Mitgliedern der regierenden Staatspartei. Dabei ist mehr als jeder zweite Arbeitswillige im Lande arbeitslos. Die HIV-Rate liegt bei zwanzig Prozent, und die alten Menschen bekommen die beschämend kleine Monatsrente, die etwa den Kosten eines Sackes Maismehl entspricht. Es gibt keinen Zweifel, dass die Armut auf dem Vormarsch ist.
Es sind fünf Jahre nach der Unabhängigkeit, wenn über bestimmte Dinge nicht gesprochen wird. Dazu gehört der Vorplatz des Hospitals mit dem ständigen Uringestank, die miserablen Zustände in den Krankensälen mit den tropfenden und klemmenden Wasserhähnen, die mangelnde Sauberkeit in den Waschräumen und Toiletten, die verbrauchten, eingerissenen, verschmierten und nach Urin riechenden Schaumgummimatratzen, die alten Betten mit den angebrochenen Gestellen, die angerosteten Nachttische mit den klemmenden und fehlenden Schubladen, und so vieles mehr. Grundsätzliche Dinge werden verschwiegen, die picobello sein müssen, da an ihnen der Zustand des Hospitals abzulesen ist. Die Mängel werden mit und nach der Unabhängigleit weiter hingenommen, während sie wenige Jahre zuvor mit starken Worten angeprangert worden sind. Hier war es vor allem die hagere, kämpferische Matrone mit dem blassen sorgenzerfurchten Gesicht, die sich für die bessere Hygiene zum Wohle der schwarzen Patienten eingesetzt hatte.
Es erstaunt in erschreckendem Maße, wie der Geist des vollen Einsatzes an den kranken Menschen so rasch nach der Unabhängigkeit bergab gegangen ist. Waren doch die Missstände unverändert geblieben, von denen einige weiter zum Himmel schreien, beziehungsweise stinken.
Im kleinen Teeraum neben dem Korridor, den OP-Sälen gegenüber,sind die Stühle mit den ausgesessenen und eingerissenen Sitz- und Rückenpolstern international besetzt. Die kubanische Kollegin trinkt ihren Kaffee aus und geht zum ‘theatre 3’, um eine Bauchoperation durchzuführen. Keiner der Kollegen, die mit dem Kaffee und Tee noch zugange sind, vermittelt den Eindruck des Arbeitseifers. Keiner stürzt sich in die Arbeit oder lässt sich in die Arbeit stürzen, obwohl es mehr als genug zu tun gibt. In der Einstellung dieser Zurücklehnung machen die namibischen Ärzte keine Ausnahme.
Ferdinand leert die Tasse, stellt sie auf die kleine Durchreiche zurück und geht zum ‘theatre 2’, wo der Patient zur Oberschenkelnagelung auf dem OP-Tisch liegt. Der birmanische Kollege mit dem tiefer hängenden Oberlid über dem rechten Auge leitet die Narkose ein und führt den Atemtubus in die Luftröhre des Patienten. Der Tubus wird über zwei Verbindungsschläuche (einen für Sauerstoff, den andern für Lachgas) an das Narkosegerät angeschlossen. Ferdinand und der philippinische Kollege drehen den schlafenden Patienten auf die linke Seite und ziehen breite Pflasterstreifen über den Körper, um die Seitenlage während der Operation zu halten. Die OP-Schwester säubert das rechte Bein mit der braunen Desinfektionslösung und deckt den Patienten mit sterilen grünen Tüchern ab. Operateur und Assistent betreten nach dem Händewaschen in sterilen grünen Kitteln den Op-Raum.
Auch bei dieser Operation muss improvisiert werden. Die verfügbaren Marknägel sind entweder zu kurz oder zu lang. Es ist dieselbe missliche Situation, wie sie so oft in den Jahren der Apartheid erlebt wurde. An diesem Missstand hat sich seit der Unabhängigkeit trotz ständiger Reklamationen nichts geändert. Die Erklärung lautet, dass die Nägel seit Monaten bestellt seien aber nicht geliefert würden, da die Rechnungen für bereits gelieferte Instrumente nicht bezahlt waren. Was früher die rassenpolitische Ausgrenzung war, sind nun die fehlenden Gelder. So ist das Bemühen weiterhin erfolglos, das Instrumentarium für die Knochenchirurgie auf den Stand der Zeit zu bringen. Auch am Schwitzen beim Operieren hat sich nichts geändert. Wenn es die Klimaanlage im OP einmal tut, dann ist sie unfähig, die Bullenhitze auf eine erträgliche Temperatur zu senken.
Auch über die Bullenhitze wird viel geredet. Dabei besteht kein Zweifel am erhöhten Risiko für Patient und Arzt. Theoretisch schlagen die Klöppel des ärztlichen Ethos auf die Trommelfelle. Aber in der Praxis geschieht nichts. Die notwendigen Taten bleiben weiterhin aus. Das schlägt auf die Atmosphäre, die sich deutlich abgekühlt hat und das im Gegensatz zur räumlichen Bullenhitze. Es gibt jedoch atmosphärische Unterschiede von ‘theatre’ zu ‘theatre’, was von den Menschen abhängt, die an der Operation beteiligt sind. Die Kommunikation und der Wille miteinander zu reden sind nach der Unabhängigkeit enttäuschend zurückgegangen. Man empfindet das Sprechen miteinander nicht mehr für so notwendig und hilfreich, wie es damals empfunden wurde, als die Granaten einschlugen, die OP-Säle vibrierten, die Instrumententische mit aufspringenden Instrumenten davonrollten, und das Licht den OP-Lampen ausging. Damals war das Leben aller tagtäglich bedroht. Man sprach über die Geschehnisse und ihre Gefahren und sprach sich gegenseitig den Mut zum Durchhalten zu.
Es ist die Improvisation mit dem Marknagel, dass die Operation eine halbe Stunde länger dauert, die gewöhnlich eine Stunde und nicht mehr in Anspruch nimmt. Hinzu kommt, dass sich der Kollege aus Birma mit dem herabhängenden rechten Augenoberlid mehr Zeit für die Narkoseeinleitung ließ, als es seine Kollegen vom ‘Schlafdepartment’ tun. Der zweite Grund ist die abhanden gekommene Bereitschaft der Schwestern, unter erhöhten Stressbedingungen zu arbeiten, was vor der Unabhängigkeit die Regel war. Man lässt sich nicht mehr hetzen und sagt es auch in einem Ton, der unmissverständlich ist. Es wird über die unerträgliche Hitze im OP geklagt, die vor der Unabhängigkeit bei der viel größeren Anspannung und Belastung ohne ein Wort der Klage ertragen wurde.
Die Selbstverständlichkeit von ‚gestern‘, Höchstleistungen unter miserablen, kritischen und lebensbedrohlichen Umständen zu bringen, weil die Not unter den Nägeln brannte, diese Selbstverständlichkeit gibt es heute nicht mehr. Der Alltag ist so sicher wie das Gehalt am Monatsende. Da lässt sich keiner auf die höheren Anforderungen ein, wie sie damals zur Zeit des Krieges herrschten. Die Leistungsschraube ist auf eine Norm zurückgedreht worden, die sich mit der einstigen Norm überhaupt nicht vergleichen lässt. Nun wackelt die gelöste Leistungsschraube schon im ersten Schraubenloch. Es ist der neue Geist, dass mit den herabgesetzten, neuen Normen nach der Uhr gearbeitet wird. Die Tee- und Mittagspausen werden pünktlich genommen und ausgiebig eingehalten. Auch gibt es für den Heimweg nach Schichtende keine zeitliche Verzögerung mehr, eher das Gegenteil, und das besonders von jenen, die es mit der morgendlichen Pünktlichkeit zur Arbeit nicht so genau nehmen.
Der Patient atmet spontan, dass der birmanische Narkosearzt den Atemtubus aus der Luftröhre herauszieht und die Sauerstoffmaske aufs Gesicht setzt. Beim Herüberheben des Patienten vom OP-Tisch auf die Trage gibt es genug Hände zum Mitanfassen. Das erinnert Ferdinand an den einstigen Gemeinschaftsgeist, was ihn mit tiefer Befriedigung erfüllt. In Bezug auf diesen großartigen Geist wünscht er sich manches Mal die alte Zeit zurück mit den geröteten Augen der Übermüdung, doch ohne dass die Granaten wieder einschlagen und ohne die Angst, von ihnen zerrissen zu werden.