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Auf dem Weg zum Speisesaal

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Ferdinand nimmt den Weg zum Speisesaal. Er geht am Sekretariat vorbei, dessen Tür weit offen steht. Alte Menschen sitzen im Sekretariat und warten darauf, den Superintendenten zu sprechen. Die Schreibmaschine steht verwaist auf dem kleinen Schreibtisch. Die Sekretärin ist, wie es für alle Sekretärinnen üblich ist, pünktlich zum Mittagstisch gegangen. Diese Sitzlinge legen mit Pausenbeginn den Schreibstift zur Seite oder lassen das angetippte Papier in der Schreibmaschine stecken, egal ob der Satz beendet ist oder nicht. Mit der Verspätung von einer halben Stunde oder mehr kehren sie an den Schreibtisch zurück. Dann bohren sie in der Nase oder telefonieren oder kritzeln auf einem Bogen Papier herum oder spitzen den Bleistift solange, bis es nichts mehr zu spitzen gibt.

Im Speisesaal werden leergegessene Teller und die gebrauchten Tassen vom Trinken der Süßchemie vom Orangengeschmack von den Tischen geräumt. Die Tische sind von Ärzten, Laboranten und Assistenten der Röntgenabteilung besetzt. Auf den Tellern wird herumgegabelt und mit gezahnten Blechmessern herumgesäbelt. Einige senken den Kopf dicht über den Teller und schieben in kurzen Abständen den Reis in die Münder, auch dann, wenn sie an der vorangegangenen Ladung noch kauen. Ferdinand stellt sich vor die Durchreiche zur Teeküche und lässt sich vom Wärter im weißen Dress mit dem großen Blechlöffel eine Ladung vom scharf gesalzenen Reis auf den Teller schaufeln. Der Reis wird mit roter Chilisauce aus einem anderen Großlöffel überzogen. Der Wärter legt je nach Wunsch einen hartgekochten Fleischlappen oder ein gekochtes Stück Huhn dazu. Auf den noch freien Teil des Tellers kommen Karottenwürfel und Erbsen aus der Dose oder zwei gekochte Pumpkinhälften.

Ferdinand setzt sich mit dem gefüllten Teller an den letzten Rundtisch. Der Reis schmeckt versalzen. Er füllt eine Kaffeetasse mit der Süßchemie und trinkt, um die pelzige Schärfe vom zuvielen Salz und der Chilisauce zu neutralisieren. Der Fleischlappen lässt sich weder mit dem Blechmesser schneiden noch mit Messer und Gabel zerreißen. Er bleibt als Sieger auf dem Teller liegen. Der Laborant gabelt den ganzen Fleischlappen auf und führt ihn an den Mund. Dort beißen und reißen die Zähne ein Stück aus dem zähen Lappen.

Ferdinand fragt ihn nach der Arbeit im Labor und nach den Blutkonserven. Der Laborant sagt, dass es an Reagenzien und Agarplatten für die Bakterienkulturen fehle und dass die angeforderten Blutkonserven nicht eingetroffen seien. Im Labor seien nur einige Konserven der Blutgruppe ‘A’ vorrätig. Die Blutbank in Windhoek habe aufgrund der Malariaausbrüche keine Konserven für den Transport mit dem Patientenbus bereitgestellt. Arzt und Laborant wissen, dass es eine sehr kritische Situation ist. Denn Notfalloperationen ohne Vorrat an Blutkonserven ist ein Unterfangen mit dem Tod.

Der Laborant verlässt den Tisch und geht zum Labor zurück. Die anderen Tische haben sich geleert. Ferdinand ist der letzte Esser. Er gabelt das gelbe Fruchtfleisch aus den Pumpkinschalen. Seine Gedanken durchzucken die Vergangenheit. Damals hat es am Hospital den Leutnant des Teufels als Arzt und Intrigant in der geschniegelten Leutnantsuniform mit dem sauber gefalteten Barett unter der rechten Schulterklappe gegeben. Dieser Teufelsarzt ist ihm mit böser Absicht nachgestiegen und hat seine infamen Lügen dem Superintendenten in der Majorsuniform und dem ärztlichen Direktor in der glänzenden Colonelsuniform vorgetragen. Es gab Vernehmungen im Stil der Verhöre, in denen letztlich die verlogene Absicht und der unstillbare Karrieredurst dieses Teufelsstücks ans Licht gebracht wurden.

Doch andererseits gab es zu jener Zeit den Geist der wirklichen Hilfsbereitschaft mit dem vollen Einsatz für die Menschen in Not, die in Armut und rechtlos im System der weißen Apartheid verzweifelt und krank geworden waren. Es gab die letzte Entscheidungsschlacht, von der der Brigadier sagte, dass da für die Weißen viel auf dem Spiele stehe. So war es dann auch eine gnadenlose Schlacht nördlich und südlich der angolanischen Grenze. Viele Male hatten Granateneinschläge das Hospital erschüttert. In einigen Fällen wurde die Stromzufuhr durchschlagen. Die Notstromaggregate taten es nicht, dass die OPs eingestellt wurden und das Hospital in Dunkelheit versank. Bei zwei anderen Anschlägen gab es einmal den Volltreffer auf den Wasserturm am Dorfende und das andere Mal auf den Wasserturm auf dem Hospitalgelände. Der Wasserturm am Dorfende wurde wieder in Lot gesetzt und darauf eine doppelte MG-Stellung installiert. Der Wasserturm hinter dem Hospital bekam Einschüsse, aus denen sich das Wasser ergoss. Nach kurzer Zeit stand der Platz vor den Wohnbaracken für die Schwestern links und den beiden Wohnhäusern für die Ärzte und ihren Familien rechts unter einem knöcheltiefen See. Ärzte und Schwestern mussten mit dem klapprigen Toyota-Kombi zur Arbeit und zurück gebracht werden. Die Reparaturarbeiten dauerten über eine Woche. In dieser Zeit war das Wasser knapp, dass die OP-Listen auf Kaiserschnitte und Notoperationen beschränkt wurden.

Die Detonationen waren so stark, dass Fensterscheiben platzten, Wände und Decken rissen und Türen sich verklemmten. Dr. Lizette saß am Kopfende eines von ihr in Narkose gebrachten Patienten. Sie kippte vor Schreck mit dem Drehhocker um. Der Schreck stand ihr nach Stunden noch im blassen Gesicht.

Namibia war politisch unabhängig, als Dr. Nestor, der erste schwarze Superintendent, während der Freitagmorgenbesprechung durch eine heftige Explosion fast vom Stuhl hinter dem großen Schreibtisch kippte. Es ist verständlich, dass es unter den Umständen des Krieges mit den Detonationen, die jeden in Angst und Schrecken versetzten, nur wenige Ärzte am Hospital gab. Es waren nicht nur die Politiker, die trotz der großen Reden die Sicherheit für ihr persönliches Leben vorzogen. Sie waren weit weg vom unmittelbaren Kriegsgeschehen. So tat es die Mehrzahl der Ärzte und anderer Intellektueller im Lande auch. Unter friedlichen Bedingungen bezogen sie wie die Schreibtischtäter der zentralen Administration die größeren Gehälter mit den zusätzlichen Vergünstigungen zum Wohnen und Autofahren.

Wo und wie weit weg die Schlacht zu sein hatte, bestimmte auch diesmal das Geld. Deshalb rückte sie den Armen auf die Haut und bezog sie gleich mit ein. Dagegen konnten sich die Armen und ihre Kinder nicht wehren. Das Schlachtfeld und die blutige Arbeit an den Angeschossenen und Zerrissenen blieb den wenigen Ärzten überlassen, die bei der hohen Zahl der Verletzten und den miserablen, ja haarsträubenden Zuständen am Hospital weit überfordert waren. Nur der ungebrochene Einsatzwillen mit der herausragenden Portion an Selbstlosigkeit, was das Risiko des eigenen Lebens betraf, hielt das Hospital im Kriegsgebiet offen und setzte die Tätigkeit an den kranken und verletzten Menschen fort, so gut es ging. Bis zur physischen Erschöpfung wurde an den Menschen in Not gearbeitet.

Ferdinand blickt auf seine Hände, deren Finger in der Granatenzeit vom ständigen Waschen und Operieren so verwundet waren, dass sie verbunden werden mussten, um als Chirurg weiter arbeiten zu können. Wohin auch die Motivation des Helfens und Helfenwollens mit der nicht geringen Opferbereitschaft weggeschwunden war, sie war weg und das für unwiderruflich. Dabei gibt es weiterhin viele Menschen, die in ihrer Armut versinken, denen doch geholfen werden sollte.

Namibia - Einsichten und Versöhnung

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