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VERMESSUNG DER WELT IM WANDEL

Als ich diesen Beruf ergriff, konnte ich nicht ahnen, dass er einmal die Welt komplett verändern würde.


Die digitale Erde macht Dinge möglich, die wir uns nie hätten träumen lassen. Autos fahren vollautomatisch von einem Punkt zum anderen, Flugzeuge starten, fliegen und landen ohne fremde Hilfe, autonome Boote suchen systematisch den Grund ab und vermessen ihn und finden verborgene Dinge. Drohnen fliegen den Himmel auf und ab nach cm genau vorgegebenen Bahnen und erstellen die digitale Welt und in Kürze bringen Sie Passagiere selbstständig von A nach B, nachdem man per Sprache sein Ziel definiert hat.

Wir digitalisieren aus der Luft, zu Wasser und auf der Erde mit dem Foto, dem Video, mit Laserstrahlen und vermessen die Oberfläche unserer Erde oder von Gegenständen hochpräzise. Wenn das jemand unseren alten Mathematikern, Geographen und Geometern wie Gauß, Krüger, Mercator, Reichenbach, Senefelder und wie sie alle hießen, gesagt hätte, was wir aus Ihren Formeln und Messverfahren mal machen würden, sie hätten uns für verrückt erklärt.

Warum ich dieses Buch schreibe?

Weil ich glaube, dass viele Begebenheiten in diesen 50 Jahren, in denen mir dieser Beruf und die Bedeutung für unsere Umwelt und Gesellschaft bewusst wurde und in der sich so unglaublich viel verändert hat, auch für die Nachwelt interessant ist und weil es nicht gut wäre, dass bestimmte Dinge vergessen werden oder später in einem falschen Licht dargestellt werden. Unser deutsches Verwaltungswesen und seine Bürokratie hat einiges gut gelöst, aber auch viel behindert und Daten teilweise ins Ausland getrieben, dass dieser Prozess aufgearbeitet werden sollte. Ja, er wird momentan aufgeweicht und neu strukturiert, aber halt 30 Jahre zu spät. Verschenkte 30 Jahre.

Vielleicht lesen ein paar einflussreichere Menschen als ich diese Zeilen und helfen mit, den Datenschatz, der mit den beschriebenen Technologien erhoben wurde, endgültig zu heben und frei zu bekommen für die gesamte Gesellschaft, aus unseren versteinerten Verwaltungen loszueisen und daraus Informationsprodukte zu formen, die jedem Bürger Wissen geben auf das er ein Anrecht hat, ohne dafür extra zu bezahlen. Vieles ist zwar auch ohne „Freiheit für Geodaten“ passiert und hat sich ohne Zutun der Verwaltung selbst entwickelt, aber es wäre leichter, und zwar nicht nur für die großen Internetkonzerne, sondern für den gesamten Mittelstand der Geobranche und der Medienwirtschaft, wenn der Zugang zu den Diensten und den Daten freier und liberaler wäre.

„Ja, wir waren dabei“ und wir haben vieles neu gemacht, aber auch einiges übersehen und falsch gemacht. Alle zusammen, die in diesem Berufsumfeld arbeiten oder gearbeitet haben. Das Ergebnis war, dass das Hauptgeschäft im Geobereich heute über Google, Microsoft, OpenStreetMap, die Automobilindustrie und ähnliche Konsortien abläuft und die großen Umsätze und Produkte woanders generiert werden als im heimischen Mittelstand. Aber lassen Sie mich erzählen wie alles begann.

WIE ES BEGANN

Irgendwann ist es soweit. Man hat das Gefühl, Du hast so viele Dinge erlebt, bist weit gereist, hast interessante Menschen kennengelernt, tolle Projekte begleitet, gute und schlechte Ideen gehabt und warst Teil einer faszinierenden Epoche und Entwicklung, jetzt ist es an der Zeit es aufzuschreiben. Denn irgendwann werden deine Kinder, Enkel und Urenkel fragen, „was hast Du gemacht in deinem Leben“.

Du hast es immer wieder erzählt und Du hast das Gefühl, die Menschen hören Dir gerne zu. Du hast das Gefühl, es interessiert sie, zumindest einige von Ihnen und vielleicht solltest Du es festhalten, damit es auch mal Deine Enkel und Freunde miterleben können oder bevor der Schleier des Vergessens drüber fällt. Es gab so viele Erlebnisse und sehr viele Dinge dabei, die Dein Leben, das Deiner Mitmenschen und auch das berufliche Umfeld, und ja, ich traue mir das zu sagen, auch das Vermessungswesen, und etwas über den Tellerrand gesehen, die Geoinformatik geprägt und auch verändert haben.

Meine Kindheit verlief unspektakulär, war aber im Nachhinein betrachtet sehr schön und harmonisch. Mein Vater hatte seine erste Frau durch eine schwere Krankheit verloren und er heiratete ein zweites Mal. Ich war also ein Nachzügler und wuchs auf im Umfeld von 2 deutlich älteren Brüdern, die mich natürlich am Anfang schon skeptisch betrachteten. Ich war dann wohl derjenige, der die meisten Freiheiten hatte, undenkbare Freiheiten für heutige Verhältnisse. Bei meinen „Stiefbrüdern“ war ich aber derjenige, der alles durfte und machen konnte. Aber das führte nicht zu Eifersucht und Ablehnung, sondern zu einem tiefen Verständnis und Zuneigung. In meinem ganzen Leben gab es kein einziges Mal in dem wir uns gestritten haben (doch einmal, als ich meinem älteren Bruder den Auspuff zugegipst habe und sein neues Auto nicht ansprang). Selbst als die Aufteilung der Erbschaft anstand, wurde über die Entscheidung meines Vaters wie aufgeteilt wurde, kein einziges Wort verloren. Man hätte nie die Entscheidung des „Chefs“ angezweifelt oder nicht respektiert. Diese tiefe innere Zuneigung und der Respekt, den wir untereinander hatten, nehme ich heute nach vielen Jahren nicht mehr als selbstverständlich hin. Ich weiß heute, dass es ganz was Besonderes war und nicht selbstverständlich, so ein Verhältnis in der Familie zu haben und ich schöpfte sehr viel Kraft daraus.

Ab dem Schulende waren wir im Münchner Osten mit unseren auffrisierten Fahrrädern unterwegs und unsere Eltern wussten nicht, wo wir rumstreunten. Unsere Spielwiese war der Münchner Osten und oft waren wir im Umfeld des Münchner Flughafens unterwegs, kletterten unter der Absperrung durch und waren direkt auf dem Flughafen München unterwegs. Über uns der Flügel einer „Lockheed Super Constellation“ und hinter uns die verschlungenen Gänge der alten Zuschauertribünen. Wenn uns das Sicherheitspersonal gesehen hatte mussten wir schnell abhauen oder uns in den Gängen verstecken. Sogar bis in den Tower haben wir es geschafft, bis wir verjagt wurden.

Oder wir waren auf den Sportplätzen des Münchner Ostens unterwegs, veranstalteten unsere eigenen olympischen oder Fußballweltmeisterschaften. Auch die großen freien Felder gehörten zu unserem Einzugsbereich und wir machten Kartoffel- und Lagerfeuer oder ließen Drachen oder Modellflieger starten. Es war eine schöne Jugendzeit. Wir konnten uns entfalten wie es in der Zeit der Flügel- und Glucken-Eltern gar nicht mehr möglich ist. Wahrscheinlich legte ich schon damals den Grundstein „zum Flying Surveyor“. Ich baute nämlich mehrere Modellflieger, allerdings war meine Absturzquote erschreckend hoch und meine Ziele hatten nichts mit Vermessung oder Photogrammetrie zu tun, sondern ich wollte einfach, dass meine Flugzeuge länger in der Luft blieben, also die meiner Freunde. Das gelang mir aber sehr selten. Meist ging ich voller Stolz mit meinem Flieger auf die Felder und brachte ihn im Rucksack und in Einzelteilen wieder zurück.

Wenn ich heute darüber nachdenke, warum ich eigentlich Geometer, volkstümlich Vermesser, geworden bin, muss ich nachträglich schmunzeln. Schuld war wohl eine schon immer vorhandene Lust am Abenteuer und wahrscheinlich auch Karl May. Er war ja in meiner Jugend sehr populär und die Abenteuer von Old Shatterhand und Winnetou in aller Munde. Old Shatterhand war nämlich auch Vermesser, genauer gesagt Eisenbahnvermesser, und das hat mich in meiner Jugend schwer beeindruckt. Du bist immer an vorderster Front, da wo noch niemand gewesen ist, Du betrittst tagtäglich Neuland und lernst neue Landschaften und Menschen kennen. Aber auch andere berühmte Männer haben mich inspiriert diesen Beruf zu ergreifen, wie George Washington, George Everest, Thomas Jefferson oder aus deutscher Sicht Heinrich Lübke, der zweite Bundespräsident, wobei ich zugebe, der hatte einen geringeren Einfluss, weil er nicht den klassischen Abenteurer verkörperte.

In Konkurrenz war noch Hubschrauberpilot oder Förster. Für beide Ausbildungen reichte meine Sehschärfe nicht, daher blieb nur Vermesser und ich meldete mich 1967 beim Flurbereinigungsamt München in der Liebigstraße zum Praktikum an.

Die ersten Monate waren ernüchternd. Zahlen schreiben, möglichst schön und klar, „damit die Nachwelt es gut lesen kann, denn schlussendlich verfasst Du ja amtliche Dokumente mit Deinen Plänen und Listen“ sagte der Ausbilder. „Eine zweideutige Zahl darf es nicht geben, das wäre eine Katastrophe“, stell Dir vor, Du hast einen Zahlendreher und der eine Bauer bekommt 100 m² mehr und der Nachbar weniger“. Ich gebe zu, das hat mir zwar eingeleuchtet mich, aber auch manchmal gelangweilt. Davon trage ich heute noch Spuren in Form eines Tusche-Tattoos in meiner rechten Hand, die mir ein Ausbildungskollege beigebracht hat, weil ich Ihn immer (ungewollt) bespaßt hatte. Seiner Qualifikation hat es keinen Abbruch getan, er wurde später Berufsschullehrer für die Vermessungstechniker und im VDV Beauftragter für das Ausbildungswesen. Ich wurde dann aber Vorsitzender des Landesverbandes und wir haben gemeinsam einiges bewegt in der Ausbildung.

Das Praktikum war sehr prägend für mich. Es zerstörte mein Weltbild vom faulen Beamten, denn ich war täglich 10 Stunden auf dem Feld unterwegs und meine leitenden Kollegen dann noch 2 Stunden damit beschäftigt, die Tagesarbeit in die sogenannte „Kuhhaut“ einzutragen. Alles wurde von Hand aufgeschrieben, das war meine Aufgabe. Ich wusste jetzt warum es wichtig war, dass man sauber schreibt, denn eine falsche Zahl bedeutete einen falschen Grenzpunkt und viele Nachberechnungen oder falsche Flächen für den Bauer. Trotzdem war es eine schöne und lehrreiche Zeit, für die ich später meinen Ausbildern sehr dankbar war. Das Schreiben hat mich zwar nicht beeindruckt, aber dass ich als Traktorfahrer mit Höchstgeschwindigkeit über die Felder rauschen durfte schon (die Bauern die den Traktor stellten eher nicht).

Die ersten Geomätressen

Ehrlich gesagt interessierten mich zu dem Zeitpunkt aber die Bauern nicht, sondern mehr ihre Töchter. Und die waren, wenn die Vermesser in Ihr Dorf kamen, nicht uninteressiert und manchmal sogar sehr kontaktfreudig. Prüde schon gar nicht, wir hatten ja die späten 60iger, die sexuelle Befreiung war in vollem Gange und das Land hatte viel aufzuholen. Was sie manchmal anboten, wenn sie merkten, dass wir durchs Fernrohr schauten, war für einen Burschen mit 17 Jahren hochinteressant. Vermessen hatte für mich auf einmal eine andere Bedeutung. Ich habe immer noch diese Bilder im Kopf, die ich im Theodolitfernrohr sah (wenn mich der Truppleiter überhaupt durchschauen lies) – ich verstand schon bald, warum niemand ans Fernrohr durfte und musste meine „Geomätressen“ wohl im Kopf anschauen (bis auf die wenigen Augenblicke, wenn der Chef nicht da war und wir einen Blick erhaschen konnten). Außerdem musste ich im Kopf ja das Bild zuerst umdrehen, denn die Fernrohre dieser Zeit zeigten das Bild ja auf dem Kopf stehend. Es war also Fantasie gefragt und Umdenken.

Wir lebten ja unter ihnen, auch auf dem Bauernhof und sogar die Bäuerin, wo wir untergebracht waren, kam uns abends oft sehr nahe. Der Geometer war eine Respektsperson, auch wenn er erst 18 Jahre alt war, denn er verteilte das Land nach der Flurbereinigung neu; mit dem wollte und durfte man es sich nicht verscherzen. Auch wenn ich als Praktikant da gleich gar nichts mit zu reden hatte, aber das wussten die ja nicht. Das war manchmal, wie auch bei den Mädchen, gar nicht so einfach. Erstens war die Bäuerin 15 Jahre älter als wir (mit wir meine ich meinen Inspektorenanwärter Hans und mich) und sie hatte meist noch einen guten Stallgeruch, was auf dem Land nicht so problematisch, für einen Stadtmenschen aber gewöhnungsbedürftig war. So kam es wohl zu keinem näheren Kontakt, den wir ja aus beruflichen Gründen auch nicht haben sollten und durften.

So ging der Sommer und Herbst vorbei mit intensiver Außendienstarbeit. Aufschreiben, Grenzsteine setzen und die Mädels durchs Objektiv betrachten, nicht objektiv, aber durchaus interessiert und neugierig. Das Wetter war im Jahr 1969 fantastisch bis in den November hinein und meine Hautfarbe wechselte ins südländische Ambiente, was natürlich meine Chancen bei der heimischen Damen-, besser Mädchenwelt deutlich erhöhte.


Eich- und Justiergeräte für die Längenmessung – ausgestellt im Wenninger Geomuseum

der Geometer

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